Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart:
Spemann 1901), 3-21
1. Neue Bewegung in Berlin.
Des Knaben Wunderhorn steht an dem Anfang dieser neuen Berliner Bewegung. Es erschien
in zwei Hälften vor und nach der Schlacht bei Jena, die innerlich ganz verschieden sind.
Vor dem Unglück galt es, Muth zu machen; nach dem Unglück, Trost zu spenden. Ein
geborener Berliner, ein märkischer Edelmann, der durch die bürgerliche Bildung einer
<4:> Berliner Gelehrtenschule hindurchgegangen war, erkannte hier und sprach es aus,
daß das, was seinem Staate noth thue, die historische Kräftigung und historische
Vertiefung des Volkscharakters sei. Ehe noch die Gelehrten gleicher Richtung auf dem
langsameren Wege bedenkender Forschung zum Wiederaufbau des historischen Verlaufes großer
geistiger Massen gelangen konnten genannt seien Savigny, Creuzer, Boeckh,
Jacob Grimm, Wilhelm Grimm gab der Dichter frisch und unmittelbar dem
deutschen Volke wieder, was sich im Wechsel der Jahrhunderte bewährt hatte. Das
Wunderhorn ist eine politische That. Die Poesie trat hier in den Dienst der Politik, ohne
diese aufzudrängen. Die Liebe zum historisch Gewordenen sollte dem geschichtslosen
Princip der französischen Revolution, dem unhistorischen Neumachen in Deutschland eine
Schanze entgegenwerfen.
Arnim brachte sein Werk nicht einseitig als Berliner, auch nicht in
Berlin selbst, zu Stande. Er hatte, ehe er es angriff, in Göttingen, der Stätte
Bürgers, die entscheidende Hinlenkung auf das Volkslied empfangen, zu der dort die
Weimar-Jenaischen Anregungen, die Clemens Brentano mitbrachte, hinzustießen. Durch
Weimar, Jena, Göttingen wurde Arnims Berlinerthum veredelt gleichsam, und in
Heidelberg trat das Wunderhorn hervor. In Arnim regte sich bereits, ihm bewußt oder
unbewußt, die Ahnung der politischen Mission Preußens in Deutschland. Berlin war zu eng
für ihn: Deutschland würde der Boden der künftigen Kämpfe und Siege sein.
Der Adlige verband sich mit dem Bürgerlichen zur Arbeit: wieder ein
Zeichen, daß etwas in natürlicher Umbildung anders geworden sei: das Eingeständniß
Arnims, daß der Adel nicht mehr auf sich allein beruhen könne, sondern daß er der
Gemeinschaft mit der Bildung, mit dem gebildeten Bürgerthum bedürfe. In die neue
Berliner Bewegung kommt <5:> von Hause aus ein Zusammenwirken adliger und
bürgerlicher Kreise hinein. Ein politischer Gegensatz von Adlig und Bürgerlich
schwindet, und es bildet sich hier zum ersten Male etwas wie eine conservative Parthei,
nicht genau im heutigen Sinne, sondern in der Art etwa, wie sie jetzt allen
(staats-)bürgerlichen Partheien dem radicalen Umsturz gegenüber etwas Conservatives inne
wohnt.
Wie das Wunderhorn in Berlin vordrang, läßt sich in den Hauptzügen
wohl erkennen. Eine Anzahl junger Dichter und Litteraten, die sich als Nordstern,
t o t o u p o l o u a d t r o u, bezeichneten und, halb studentisch
noch, ihren Namen die Anfänge der vier griechischen Wörter beizusetzen pflegten,
begrüßten das Wunderhorn wie ein erstes sichtbares Zeichen ihrer eigenen Bestrebungen.
Es waren mit ihrem Anhang Chamisso, Neumann, Varnhagen, von denen der letztere 1806 ein so
begeistertes Sonett an Arnim gelangen ließ, daß nicht einmal Chamisso es verstand. Aber
aus diesem Kreise ging, unter der Theilnahme de la Motte Fouqués, 1808 der Berliner
Roman Die Versuche und Hindernisse Karls hervor, der, mit vertheilten
Rollen geschrieben, eine deutsche Geschichte aus neuerer Zeit sein sollte, und, wenn man
den Ueberschwang des Ausdruckes nicht zu wörtlich nimmt, in gewissem Sinne wirklich ist.
Wie Wilhelm Meister geräth Karl, der Held, in eine Reihe ihn wunderbar verwickelnder
Verhältnisse. Die Neigungen und Abneigungen, die dabei zur Sprache kommen, sind im
Wesentlichen die, um welche es sich beim Wunderhorn handelte. Aber neu und romantisch ist
der frohe preußische Soldatenmuth, der die von Fouqué verfaßten Capitel erfüllt:
Bei Gott, rief der junge preußische Officier, es muß noch dahin kommen, daß es
wie in den heiligen Kreuzzügen eine Schande wird für jeden deutschen Edelmann, der zu
Hause bleibt, und nicht aufsitzt, um Gut und Blut dran zu wagen, den kecken <6:>
Feind aus Deutschlands Gränzen zu vertreiben. Wir haben uns schon oft mit den Franzosen
gemessen und brauchen uns der alten Schlachten nicht zu schämen. Aber es sei nur jeder
brav, und jeder denke, auf ihn allein komme es an. Wohlan Freunde! rief er freudig, das
Glas erhebend: Deutsche Treue und deutscher Muth. Denn das sei das erste; zwar ich selbst
bin ein Preuße, und Preußen ziehen ins Feld, aber dieser Krieg gilt Deutschland: Sieg
den Deutschen durch deutsche Kraft! Und da auf einmal schallte von dem Dorfe
her ein lauter Gesang, eine Anzahl Reiter sangen jubelnd folgende Strophen, die in ihrer
Unscheinbarkeit eine Art von Zaubergewalt auszuüben schienen, so herzlich wurden sie
gesungen:
Wir Preußischen Dragoner durchstreifen die Welt,
Wir jagen wie Sturmwind ins weite Feld,
Wir wollen marschiren dem Feind entgegen,
Damit wir ihm heute den Paß noch verlegen
und der preußische Offizier: Sie hören, die Leute sind munter und singen ein altes
Lied aus dem siebenjährigen Kriege. Schön
daß die Soldaten sich selber ihre
Poesie schaffen, und nicht die neuen Lieder sich aufdrängen lassen. Es ist doch ein
wahres Kernleben in ihren Gesängen. Das ist der Geist des Wunderhorns, in dem (1,
188) dies flotte Soldatenlied als Husarenbraut nach einem fliegenden Blatte aus dem
siebenjährigen Kriege gedruckt worden war: das Arnim noch 1806 in seinen Göttinger
Kriegsliedern an die durch Göttingen ziehenden preußischen Truppen vertheilt hatte. Als
Arnim zu Anfang, Brentano im Herbste des Jahres 1809 in Berlin eintraf, wurden sie beide
von diesem Dichterkreise enthusiastisch aufgenommen. Trotzdem aber war die persönliche
Nähe eher geeignet, eine Entfremdung, als ein Einvernehmen zu Wege zu bringen.
Gesellschaftlich und dichterisch bedeuteten die Leute zu wenig. Sie hatten den Kopf noch
voll von unreifen poli- <7:> tischen Gedanken. Chamisso reizte bald durch seine
Sonderheiten Brentanos Spottlust an. Und welchen Eindruck Varnhagen damals schon auf
unbefangene Menschen machte, dafür gebe ich aus einem (ungedruckten) Briefe Wilhelm
Grimms an Brentano die folgende Stelle: Wir haben in diesen Tagen durch
Steffens Empfehlung einen Berliner zu Besuch gehabt, den Varnhagen: ein Mensch, der
mir aus allen Kräften zuwider ist und auf dem Leben mit einer matten, geistlosen
Frechheit steht. Es scheint, nach dem was er spricht, als ob er seinen Lebensbaum, an dem
auch nicht ein einziges frisches grünes Blatt hängt, mit allen möglichen Erfahrungen
ausputzen wolle.
Ernster war, dem inneren Gehalte nach, der romantische Anlauf, den die
Berliner Schriftsteller- und Gelehrtenwelt in dem Pantheon nahm. Es war dies eine
Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst, die, obwohl sie in Leipzig erschien,
ausschließlich von Berlinern geschrieben wurde. Die Herausgeber waren Büsching und
Kannegießer, der letztere dadurch noch bekannt, daß seine Auslegung der Harzreise
im Winter sich Goethes Dank erwarb. Sie zählten zu ihren Mitgliedern von der
Hagen, Iffland, Fichte, Hirt, Friedrich von Raumer (damals in Potsdam), Fouqué; auch
Heidelberger hatten zugesagt: Arnim, Brentano, Wilhelm Grimm, Boeckh,
Brentanos Schwägerin Henriette Schubert, und Steffens in Halle. Es kamen jedoch vom
Pantheon nur zwei Theile, 1810, heraus. Brentanos und Arnims Beiträge fehlen.
Aber für das Pantheon war ursprünglich die Geschichte der Gräfin Dolores bestimmt
gewesen, die sich unter der Arbeit zu dem zweibändigen Roman auswuchs, der uns späterhin
beschäftigen wird.
Im Pantheon veröffentlichte nun zuerst Adam Müller eine seiner
Vorlesungen über Friedrich den Großen. Müller nahm damals eine viel bemerkte und
angefeindete Stellung <8:> als Schriftsteller ein. Seinen Ruf hatte er durch sein
1809 erschienenes großes Werk über Die Elemente der Staatskunst begründet,
dem 1810 die Vorlesungen Ueber König Friedrich II. und die Natur, Würde und
Bestimmung der Preußischen Monarchie nachfolgten. Er war Berliner von Geburt und
stammte mütterlicherseits von protestantischer Pfarrersfamilie ab. Selbst zum Geistlichen
bestimmt, ging er aber schon auf der Universität Göttingen zu allgemein litterarischen
und historisch-politischen Studien über. Seine theologische Grundlegung der
Staatswissenschaft verband er mit der von Friedrich Gentz damals publicistisch
verbreiteten Gegnerschaft Edmund Burkes gegen die französische Revolution.
Burkes Betrachtungen über die französische Revolution erschienen
deutsch von Gentz, zusammen mit politischen Abhandlungen von diesem, 1793 zu Berlin. Liest
man vergleichend Arnims zehn Jahre später verfaßte Nachschrift zu des Knaben
Wunderhorn, so empfindet man mit Staunen die Aehnlichkeit, ja Gleichheit, der an beiden
Stellen vorgetragenen Grundanschauungen. Nicht von Lehrer und Schüler kann bei Gentz und
Arnim die Rede sein; sondern was bei Gentz gelehrt oder litterarisch durchdrang, das war
bei dem märkischen Edelmanne die Macht Jahrhunderte alter Tradition. So mußte auch bei
Adam Müller im Wesentlichen Uebereinstimmung mit Arnim und dessen adeligen
Gesinnungsgenossen herrschen.
Ich habe, sagt Müller in der Einleitung zu seinen
Elementen, für mein Zeitalter geschrieben, und so wird man es billigen, daß ich
mich der gerade jetzt unterdrückten geistlichen und feudalistischen Elemente des Staates
wärmer annehme, als der in diesem Augenblick triumphirenden. Und so bildet das
Fundament der Elemente der Satz, daß alle wahre menschliche Freiheit in der
Hingebung an Christus und an das Vaterland liege. Dieser Satz enthielt zugleich <9:>
eine feste Absage an alle die, denen Christenthum und Vaterland keine Güter waren. Das
Vaterland befand sich damals in der Noth, und darum fordert Müller im Sinne der
preußischen Kriegsparthei: Der Krieg muß zur Nationalangelegenheit werden.
Er wendet sich polemisch gegen Adam Smith und die von ihm behauptete sonderbare
Disposition des Menschen zum Tausch und Handel. Die absolute Scheidewand zwischen
Personen und Sachen sei ein in seinen Folgen gefährlicher Wahn, der den persönlichen
Charakter, den ein Familiengut im Laufe der Jahrhunderte annehme, völlig ignorire. Der
Theorie und Praxis glücklich in sich vereinige, sei Edmund Burke: der in der
Mißbilligung der französischen Revolution und in der Protestation dagegen mit den
jetzigen Machthabern von Europa übereinkomme. Müller erklärt sich gegen die Aufhebung
der Majorate, gegen die Abschaffung des Adels, gegen jedes leichtfertige Neubilden und
Abweichen vom Alten. Nach seiner Auffassung lebt die Idee der uralten Mosaischen
Verfassung, die Christus zu universalisiren und zu ergänzen kam, in Geistlichkeit und
Adel, oder Kirchenrecht und Feudalismus, fort: während der Entstehung des tiers-état
und der Ausbildung des Handels in Europa nichts so sehr zu Hülfe gekommen sei, wie der
jenen Mächten widerstreitende Geist des römischen Rechtes. Smith System habe einen
einseitig bürgerlichen Charakter; denn dadurch, daß Smith auf die Frage, welche Arbeit
im Staate eigentlich productiv und wirklich bereichernd sei, die Antwort gebe: die
welche ein Object hervorbringe, das Tauschwerth habe würden der Adel,
die Geistlichkeit und die Staatsbeamten, ebenso z. B. die Schauspieler, Musiker und
Domestiken, aus dem Kreise der productiven Arbeiter ausgeschlossen. So vertrete Smith den
Anspruch des Beweglichen gegen das Unbewegliche, des Erwerbs gegen den Besitz, des
Materiellen gegen das Geistige. <10:> Als Bundesgenossen kämen die Juden hinzu,
denen die alte Mosaische Idee der Auserwähltheit durch eigene Schuld verloren
gegangen sei, so daß sie nur noch am Begriff derselben kleben: und so
ward, sagt Müller, aus dem uralten gerechten und edlen Stolz nunmehr ein
widerwärtiger, unerträglicher Hochmuth, der uralte entwichene Adel ward nunmehr zu einem
Fluch, wie aller entweihete Adel nothwendig zur äußersten Verworfenheit wird. So
müsse das Judenthum der auf uralter Tradition beruhenden Idee des Staates feindlich
gegenübertreten; und daraus folgt die ablehnende Haltung Adam Müllers und seiner
Gesinnungsgenossen gegen die staatsbürgerliche Reception der Juden. Es gelte endlich
wieder den Kampf für die geistlichen und feudalistischen Kräfte der Nation; den:
Noth, Verzweiflung und Entbehren haben die Besseren unter uns das Wesen des
geistlichen Besitzes und Capitals der Menschheit reiner und kräftiger kennen
gelehrt. Dem preußischen Volke sei es ergangen, wie dem auserwählten Volke, das
Moses durch die Wüste führte, bis es (mit Goethe gesprochen!) im Feuer und in der
Noth die himmlischen Mächte kennen lernte und deutlich ihre Stimme vernahm. Ja,
Adam Müller steigert sich zu dem kühnen Ausspruche: Hätte Adam Smith die große
Schule unserer Zeit erlebt, die revolutionäre Richtung seines Werkes hätte er zuerst
verdammt; er wäre ein göttlicher Apostat geworden, wie Burke. Die Vermittelung
zwischen dem Individuum und der ewigen Menschheit sei der besondere Staat, die
Nationalität: gleichwie ein Mittler sein müsse im Verkehr der Menschen mit Gott. So
schließt sich bei Müller die christliche und die nationale Idee zu Einer Gesammtwirkung
zusammen.
Die drei Bände der Elemente kann man so auffassen, daß in dem ersten
die Grundgedanken, in dem zweiten und dritten die Begründung und Ausführung der
hauptsächlichen <11:> Positionen enthalten sind. Ja selbst die Grundlinien für die
Schrift Ueber König Friedrich II. werden bereits in den Elementen
sichtbar. Vornehmlich behandelt Müller in dieser das Wesen, die Bedeutung und die
Nothwendigkeit des wahren, der Idee seiner Bestimmung treu gebliebenen Geburtsadels. Der
Bauernstand sei, der ewigen Natur der Dinge nach, nichts anderes als die erweiterte
Familie des Adels. Noch habe die herrschende, staatswirthschaftliche Anglomanie das
heilige Princip der monarchischen Construction aller Continental-Landwirthschaft bei uns
nicht umstoßen können. Müller redet einer neuen ständischen Verfassung nationaler
Natur das Wort. So lange sie fehle, hänge es allein von dem Talente des Staatsmannes ab,
wie er sich stellen wolle: ob unten in der Masse; ob etwas weiter hinauf, wo die
Geschäfte nur mit der Sorge um die Stunde abgemacht würden; oder ganz oben, wo keine
Gebrochenheit und Zerbrochenheit mehr stattfinde und alles ideenweise und im Zusammenhang
erscheine: So stand Friedrich, ob durch sein Schicksal, ob durch sein Genie, ist
gleichgültig. Das was an der Administration Friedrichs zuerst ins Auge
fällt, ist, daß es keinen Premierminister giebt, daß Friedrich sein eigener
Premierminister ist. Mit welchem Gefühle mußten Adam Müller und sein politischer
Kreis die Ernennung Hardenbergs zum Premierminister, zum Staatskanzler, aufnehmen!
Adam Müller kam im Frühjahr 1809 von Dresden nach Berlin zurück,
mit vom Minister Altenstein ihm eröffneten Aussichten, im preußischen Staatsdienste
Verwendung zu finden. Die bevorstehende Rückkehr des Königlichen Hofes aus Königsberg,
die Neuordnung des erschütterten Staates, die geplante Gründung der Universität lockte
ihn und viele andere Männer in die Hautpstadt. Weihnachten 1809 hielten die Königlichen
Majestäten in Berlin ihren Einzug. Und nun erschien auch <12:> plötzlich bei Adam
Müller, Ende Januar 1810, Heinrich von Kleist, ging auf ein paar Tage aufs
Land (wie Brentano berichtet), d. h. wohl zu seinen Verwandten nach Frankfurt,
und siedelte sich Anfang Februar 1810 dauernd in Berlin an.
Adam Müller und Heinrich von Kleist galten, seit der Phöbus ihre
beiden Namen auf seinem Titelblatte vereinigt hatte, als unzertrennliche Freunde und
Gesinnungsgenossen. Und das war richtig. Von dem Ringen und Irren, Verlieren und Gewinnen
des jugendlichen Kleist, das, an sich Niemandem erspart, bei Kleist uns heute durch den
Einblick in seine Briefe übermäßig vergrößert erscheint, wußte damals Keiner etwas.
Abgerechnet die Familie Schroffenstein, kannte man nur Kleists Amphitryon nach
Moliére, herausgegeben und bevorwortet 1807 von Adam Müller. Man hatte eindrucksvoll
gesehen, wie beide Männer im Phöbus 1808 dieselben Grundanschauungen, der eine als
ästhetisch-politischer Schriftsteller, der andere als Dichter, bethätigten. Organische
Fragmente aus der Penthesilea, dem Zerbrochenen Kruge, Robert Guiskard und dem Käthchen
ließen ahnen, in welcher Welt der Dichter Kleist zu Hause sei. Seine Poesie machte da
nicht Halt, wo der Verstand zu Hause war, sondern schweifte kühnen Fluges in das Reich
des Unbegreiflichen empor. Seit dem Tage von Jena war er ein nationaler Dichter. Er hatte,
wie er 1810 in Berlin eintraf, die Herrmannsschlacht fertig bei sich, diese romantische
Abspiegelung der schlimmen Zustände Deutschlands 1809, deren Folgen ihm auf dem
mährischen Kriegsschauplatze so schmerzlich nahe getreten waren, und aus denen sein
Herrmann der Nation den Ausweg zeigen sollte. Im Prinzen von Homburg wollte er den Geist
erscheinen erscheinen lassen, der den preußischen Staat erschaffen hatte, überzeugt,
daß er per aspera ad astra dringen werde. Das war der Glaube Adam Müllers
und Arnims auch: dafür kämpften und litten sie. Arnim <13:> hatte, als er in
Heidelberg die ersten Hefte des Phöbus las, sofort das Tüchtige derselben durchgefühlt,
und während der allzeit spottlustige Brentano ein paar Witze über den steifen
sächsischen Phöbus machte, wies Arnim ehrenvoll in seiner Einsiedlerzeitung auf
des Herrn von Kleist Organische Fragmente hin. Nun sie alle in Berlin
vereinigt waren, gehörten sie als Gesinnungsgenossen zusammen. Kleist nahm in derselben
Straße, wie Arnim und Brentano, Wohnung: er Mauerstraße 53, sie beide Mauerstraße 34
beim Geheimen Postrath Pistor, dem Schwiegersohn Reichardts. Tagtäglich konnten sie
sich treffen und besuchen. Als Junggesellen hielten sie gemeinsamen Mittagstisch, an dem
jeder Zeit Theil nehmen konnte, wer durch Talente oder gesellschaftlichen Rang
ausgezeichnet war. Unsre Tischgesellschaft, berichtete Brentano 1810
(ungedruckt), hat sich jetzt sehr vermehrt: der Poet Kleist ist frisch und gesund unser
Mitesser.
Nach kurzer Zeit bereits gewährte diese Vereinigung den Anblick einer
eigenen Partheigruppe mit gleichen politischen, litterarischen und künstlerischen
Absichten, die bei ihren vortrefflichen Beziehungen zu bedeutenden Männern, zum Militär,
zur Regierung, zum Hofe auf Erfolge rechnen durfte. Der Minister Altenstein war
Kleists unwandelbarer Gönner. Ihm und Adam Müller und Arnim und Brentano öffnete
sich der Salon des ihnen befreundeten Geheimen Staatsraths Stägemann. In das Palais des
Fürsten Radzivil, des Gemahls der Schwester des bei Saalfeld gebliebenen Prinzen Louis
Ferdinand, stand ihnen der Zutritt frei: Arnim hat dem Fürsten als dem Schutzgeiste, der
ihn aus dunkler Zeit erhoben, seine Gräfin Dolores zugeeignet, und Kleists Prinz
von Homburg wurde der Ehre gewürdigt, auf dem Privattheater des Fürsten Radzivil
aufgeführt zu werden. Einen anderen aristokratischen Vereinigungspunkt bildete der Salon
der Gräfin Voß, geb. <14:> von Berg, der schwesterlichen Freundin der Gräfin
Marie Brühl, die Clausewitz Gemahlin wurde. Bei der Gräfin Voß war bis kurz vor
seinem kühnen Zuge Schill mit seinen Offizieren täglich Gast gewesen, und ab und zu
kamen dahin die beiden Brüder Carl und Achim von Arnim, besonders der Dichter, der
im gesellschaftlichem Umgange so einfach und angenehm sei, daß man ihn gar nicht für den
Autor so toller Schriften halten sollte, ferner der Graf Arnim, Wilhelm von Humboldt
u. a. (Schwartz, Clausewitz, 1,396); wir haben da, schrieb Arnim
Bettinen, fast immer von Saragossa und niemals von Schlegel oder Kotzebue
gesprochen. Frau von Berg, die Mutter der Gräfin Voß, war die bekannte Freundin
der Königin Luise. Des Schutzes der Frau von Berg hatte sich auch Kleist zu erfreuen
(unten S. 181). Sie wird die vermittelnde Persönlichkeit gewesen sein, durch die Kleist
jetzt von neuem der Königin Luise empfohlen wurde, so daß er an ihrem Geburtstage, dem
10. März 1810, bei Hofe erscheinen und ihr sein Gedicht überreichen durfte, das
sie, vor den Augen des ganzen Hofes, zu Thränen rührte. Man plante eine Hofcharge für
ihn zu schaffen. So glücklich war Kleists Lage viele Jahre nicht gewesen, wie in
den ersten Monaten des neuen Berliner Aufenthalts. Der einzige Brief an Ulriken aus dieser
Zeit athmet die Beruhigung, die über ihn gekommen war.
Diese aristokratischen Cirkel wirkten in der Stille und in eng
geschlossener, exclusiver Geselligkeit. Es war eine politische Höhenluft, die da geathmet
wurde, fern ab vom derberen Getriebe des gewöhnlichen Tages. Aber es gab noch eine andre
patriotische Vereinigung, die kraftvoll ihre Wirkung in die neue Berliner Bewegung warf,
und das war Zelters Liedertafel, an der sich Männer aller Schichten der vornehmeren
Berliner Einwohnerschaft zur Pflege des Gesanges und des nationalen Gedankens
zusammenfanden. <15:>
Die Anfänge der Berliner Liedertafel reichen bis in das Jahr 1807
hinauf. König Friedrich Wilhelm III., durch den Gesang eines russischen Männerchors
erfreut, ließ Zelter in Berlin bedeuten, auf eine Hebung des deutschen Männergesanges zu
denken. Aus dem December 1808 liegen in den Acten\*\ der Liedertafel die ersten Statutenentwürfe
vor. Die Gegenstände des Vaterlandes und des allgemeinen Wohles, heißt es da, seien in
ihrem ganzen Umfange Dichtern und Componisten empfohlen. Die Liedertafel sehe sich als
eine Stiftung an, welche die ersehnte Zurückkunft des Königlichen Hauses feiere und
verewige. Das Lob des Königs gehörte zu ihren ersten Geschäften. Am 24. Januar
1809, dem Geburtstag Friedrichs des Großen, wurde die neue Vereinigung errichtet.
Je mehr sich die Rückkehr des Königs hinausschob, desto dringender erschien den
Mitgliedern der Zweck der Liedertafel: die singen solle dem König, dem Vaterlande,
dem allgemeinen Wohl, dem deutschen Sinn, der deutschen Treue.
Mit Zelter, als dem Meister, und mit 24 ordentlichen Mitgliedern fand
am 2. Mai 1809 einem Dienstage, auf den hinfort die Sitzungen immer
fielen die Eröffnung Statt. Bei klingenden Gläsern sang man Gleims
Lied auf den König, von Zelter componirt:
Der König soll leben, soll leben ein Held!
Gegeben dem Throne, gegeben der Welt!
Gegeben dem Lande zum deutschesten Mann,
Der König soll leben, soll leben, stoßt an!
Der König soll leben, soll streben, sich freun,
Der Deutschheit und Freiheit Geleitsmann zu sein.
Der König soll leben, der deutscheste Mann!
Der König soll leben, soll leben, stoßt an! <16:>
das von jetzt ab immer zum ersten Liede eines jeden Abends bestimmt wurde. Aeltere Lieder
von Matthias Claudius und von Schiller kamen gleichfalls zum Vortrage. Bald stellte sich
die Geselligkeit der Liedertafel unter den Einfluß Goethes und der jüngeren ihm
zuneigenden Dichter. Zelter, ein in seiner Gegenwart mit thätigen Kräften wirkender
Mann, bedurfte immer neuer Menschen und Eingänge, um frisch zu bleiben. Den großen
Meister in Weimar wußte er dergestalt für die Liedertafel einzunehmen, daß er Lieder
der Freude, des Frohsinns und der Weinlaune lieferte. Das Ergo bibamus, die
Generalbeichte, die Rechenschaft, das Bundeslied, das Tischlied, die Weltschöpfung, der
Canon, die heiligen drei Könige, das Kophtische Lied, die Versus memoriales und
die Schneidercourage sind an der Zelterschen Liedertafel mit immer neuer Lust
gesungen worden.
Goethes Berliner Freunde steuerten gleichfalls bei. Friedrich
August Wolf aus dem Sueton den derb anspielenden Cantus Martialis Romanus:
Gallias Caesar subegit, Nicomedes Caesarem.
Ecce Caesar nunc triumphat, qui subegit Gallias.
Nicomedes non triumphat, qui subegit Caesarem
den Zelter componirte. Man versteht den Enthusiasmus der den Cantus Singenden nicht, wenn
man nicht annimmt, daß unter Cäsar Napoleon gedacht wurde, dem man so den beißendsten
Spott anhängen durfte. Bettinens Brief an Goethe vom December 1810 (Ausgabe von Herman
Grimm, S. 376) scheint auf den Cantus hinzudeuten, wenn sie schreibt: an der Liedertafel
sei Zelter Cäsar und freue sich seiner Siege.
Wie Wolf, Arnims Lehrer von Halle her, wurde auch Zelter von
Goethe, 1806, auf das Wunderhorn, als auf eine musikalische Fundgrube, hingewiesen:
Sie haben doch das Wunderhorn im Hause und lassen Sich dadurch wohl manch-
<17:> mal aufregen? Theilen Sie mir ja die Melodien mit, die gewiß dadurch erweckt
werden. Die Anregung wirkte. 1809 in der Juli-Sitzung wurde in Zelters
Composition Ein Musikant wollt fröhlich sein aus dem Wunderhorn
gesungen; das Lied Zu Klingenberg am Maine, die Fischpredigt des heiligen
Antonius und einiges Andere kam hinzu. All das ist in die gedruckten Gesänge der
Liedertafel vom Jahre 1811 und vom Jahre 1818 aufgenommen worden; Arnim hat Zelter
1818 für die neuen Melodien, mit denen die kräftigen Trinklieder von ihm ausgestattet
seien, einen herzlichen Dank gesagt.
Die Zahl der Theilnehmer einer Sitzung war unbegrenzt, da Gäste von
den Mitgliedern eingeführt werden konnten. Zum bleibenden Ruhme der Liedertafel sei
gesagt, daß damals kein Name von Klang, kein Name von Bedeutung ihr fern geblieben ist.
In der Sitzung, die am 16. Januar 1810 die Rückkehr des Königs feierte, waren
allein 43 Gäste anwesend, die sich in das Fremdenbuch eingeschrieben haben. Darunter die
Minister von Altenstein, Beyme, Graf Dohna; der Geheime Staatsrath Sack, der Kammerherr
Graf Brühl, der Polizeipräsident Gruner; von Gelehrten und Künstlern Wolf,
Schleiermacher, Schmalz, Schadow, Hofrath Parthey. Die nächsten Sitzungen fanden am
6. Februar und am 13. März 1810 Statt, die letztere, nach den Protokollen,
zur Feier des Geburtsfestes unserer geliebten Königin. Aus den Gastlisten
hebe ich Stägemann, Fürst Radzivil, Wilhelm von Humboldt, Nicolovius und Staatsrath
Alberti hervor; Wilhelm von Humboldt schrieb am 13. März 1810 an Wolf: Ich war
heute bei Zelter in der Liedertafel, wo man aber für Gesang zu ernsthaft
ist Worte Humboldtscher Diplomatensprache, die uns noch anzudeuten
scheinen, welche Dinge da, neben dem Gesange, behandelt wurden. Und wenn ich noch weiter
<18:> greife, so sind zu nennen Reichardt und Carl Maria von Weber; Beuth, Schinkel,
Rauch; Wolfart, Niebuhr, Savigny, Ringseis, Gneisenau, Graf Dohna-Wundlacken (des Majors
von Lützow Schwager), Ernst Moritz Arndt, Wilken und August von Goethe, der letzte
am 11. Mai 1819 von Zelter eingeführt. Sie alle haben an Zelters Liedertafel
gesessen.
Und nun auch Achim von Arnim und Clemens Brentano und Heinrich von
Kleist.
Leider fällt, zu großem Verlust für die Geschichte der Liedertafel,
das Fremdenbuch, weil es verlegt war, von Mitte 1810 bis 1812 gänzlich aus. Die
Sitzungsprotokolle bieten nur sehr spärlichen Ersatz dafür. In diesen wird Brentano
wenigstens mehrmals als anwesend aufgeführt, am 9. April 1811 z. B., wo sein
von Flemming componirtes Lied Der Musikanten schwere Weinzunge (Gesänge der
Liedertafel 1811, S. 236) gesungen wurde. Der Dichter, berichtet das
Protokoll, las es selbst vor, der Componist hatte jeden Vers zu einer besonderen
Soloparthie gemacht, und den Refrain in Doppelchören bearbeitet. Die Gesellschaft war
durch mehrere hiesige und auswärtige Gäste vermehrt, zahlreich, und schienen die
Auswärtigen vorzüglich mit Liebe und Theilnahme aus der Liedertafel zu scheiden.
In diesem ausgelassenen Liede bekam auch Zelter einige anzügliche Späße zu hören:
Einer.
Ich lob den Zelter mir,
Der zu dem vollen Faß (Wein)
Von meiner Kelter hier
Trabt einen tollen Paß.
Ein Andrer.
Ja unser Zelter hier
Singt einen vollen Baß <19:>
Auch eins von Arnims eigenen Gedichten Katz ist nicht zu Haus (1811, S.
246) neckt sich mit Zelter herum:
Heida, der Meister ist fort!
Heute sind wir Alle Meister!
Und ärgert ihn das Wort,
So sprecht, warum wohl reist er?
Es ist gedichtet und von Flemming componirt, als Zelter im Sommer 1810 seine Badereise
nach Töplitz angetreten hatte, um auch mit Goethe dort zusammen zu treffen. Später kam
von Arnims Gedichten noch der Christmarkt im Felde hinzu (Gesänge von
1818, S. 310), und in den Acten der Liedertafel finden sich noch zwei eigenhändige
Niederschriften Arnims, die ein Trinklied bei verschlossenen Thüren, und zweitens
den auch sonst bekannten Becherklang
Seit nun Gott die Welt durchschnitten
Mit der Allmacht sausend Schwert &c.
enthalten, der in den sämmtlichen Werken Arnims (22, 72) gedruckt ist.
Und Kleist? Nun, wo seine Freunde waren, da wird er sicherlich auch zu
finden sein. Freilich die Sitzungsprotokolle und die Acten bewahren uns seinen Namen
nicht, aber dennoch kommt uns auch für ihn erwünschte Kunde. Einer der treuesten
Mitglieder der Liedertafel war Wilhelm Bornemann, der Vater des Preußischen
Justizministers, der durch seine plattdeutschen Gedichte litterarisch wohl bekannt ist.
Bornemann hat 1851 ein Buch über Die Zeltersche Liedertafel, ihre Entstehung,
Stiftung und Fortgang nebst einer Auswahl von Liedertafel-Gesängen und Liedern
veröffentlicht. Er druckt auf S 31 die schon genannte Fuge aus dem Wunderhorn
Ein Musikant wollt fröhlich sein,
Es thät ihm wohl gelingen &c. <20:>
ab und bemerkt dazu, wie seiner Zeit Ludwig Hellwig die Fuge humoristisch vortrug,
wähhrend der fugirte Chor überraschend einschlug. Da vertraute mir Zelter,
fährt Bornemann fort, eines Montag Abends 1810: ,Morgen zur Liedertafel will ich
den Achim von Arnim, von Kleist, Brentano und den Friedrich Wolf
einladen. Die sollen mal Augen reißen, wenn sie meine Wunderhorns-Fuge hören. So
begab es sich denn in auch in der That, und ein endloses Sturm-da capo brach aus.
Aber auch ich entwarf sogleich im Stillen ,die fortsetzende Zugabe
Der Kaiser hochvergnüget ward
Als er das Lied thät hören &c.
und legte diese, nach vorgängiger Einverständigung mit Hellwig, seinem Stimmbuche bei.
Mit dem Chor bedurfte es keines Vorbesprechens, denn nur die letzten zwei Zeilen jedes
Verses wurden von diesem wiederholt. Nun erst, nach ausgestürmtem da capo!
entstand das rechte und allgemeine Augenreißen, als der Sänger noch einen dritten und
vierten Vers, ganz neuen Inhalts, vernehmen ließ, dem ein ganz unaufhörliches da
capo folgte. Einige Zeit war vergangen; Zelter hatte abermals jene vier Gäste
eingeladen, die Fuge wurde von Neuem gewünscht, zu welcher ich im Stillen bereits einen
andern, gegensätzlich vierten Vers eingelegt hatte, der kein da capo fand, denn
es spielte sich darin das erfahrungsmäßige Musikantenleben ab, mit 1000 Kronen in
der Tasche und einem Fuder Wein im Keller. So weit Bornemann. Nun fand, nach den
Protokollen der Liedertafel, am 11. December 1810 eine außerordentliche Sitzung, zur
Feier des Geburtstages Zelters, mit geladenen Damen Statt: zu den letzteren gehörte
Bettina, und die Eindrücke dieses Abends liegen ihrer Schilderung Zelters in dem
Briefe an Goethe (oben <21:> S. 16) zu Grunde. Als das vierte Lied wurde, nach den
Protokollen, gesungen: Fuge von Zelter mit ganz neuen Strophen von Bornemann.
Hier also haben wir die Sitzung, die Bornemanns Erzählung meint. Mithin erhalten
wir das bestimmte Resultat, daß auch Heinrich von Kleist sowohl im December 1810, wie
vorher und nachher, an Zelters Liedertafel gesessen hat; und es steigt vor unserm
Auge ein neuer, erweiterter Kreis von Freunden und Bekannten auf, innerhalb deren die
Kleistische Gruppe heimisch war.
Bald konnte sie sich sogar stark genug fühlen, mit der Gründung
einer eigenen Gesellschaft hervorzutreten.
\*\ deren Benutzung
ich Herrn Professor Dr. Martin Blumner, dem heutigen Meister der
Liedertafel, verdanke.
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