Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart:
Spemann 1901), 1-3
Erstes Capitel.
Preußische Patrioten.
Goethes Tod hat der deutschen Litteraturgeschichte lange als das Ziel gegolten,
bis zu dem sie wissenschaftlich vorzudringen habe. Bereits aber faßt sie jetzt in immer
weiterem Umfange die neben Goethe hergehende und nach Goethe folgende Entwickelung ins
Auge, deren erste, noch nicht verklungene Phase die romantische Culturbewegung ist, die
die Kunst, die Litteratur, die Politik um die Wende des 18. Jahrhunderts ergriff.
Die Romantik wuchs aus der Goethischen Epoche heraus, mit derjenigen
Nothwendigkeit, die in der allgemeinen politischen Veränderung Europas begründet lag.
Die Goethische und die romantische Epoche schließen sich nicht aus, doch sie decken sich
auch nicht. Was beiden an geistigen Tendenzen gemeinsam war, lebte mit gesteigerten
Effecten in der Romantik fort, die, so betrachtet, daher als die Fortsetzerin, ja als die
Vollenderin Goethischer Culturgedanken gelten darf. Die grundsätzliche Verschiedenheit
trat auf dem politischem Gebiete ein. Goethe, als der Repräsentant seiner Alters- und
Zeitgenossen angesehen, hatte als Jüngling und Mann mit politischen Zuständen
Deutschlands zu thun, die unzulänglich waren und geändert werden mußten. Wer aber
besaß in Deutschland die Macht dazu? Niemand konnte die Gewalten vorhersehen, die
hereinbrechen würden; Niemand, ohne Preuße zu sein, die <2:> deutsche Mission
Preußens ahnen. Die Goethische Cultur erschuf sich selber eine deutsche Welt, die
schöner war, als die politischen Zustände in der Wirklichkeit. Sie nahm sich die ideale
Einheit vorweg, die spätere Generationen sich erst erringen mußten. Da aber, wo die
classische Cultur zu Ende war, begann ihr Werk erst die romantische. Aus der Humanität
wurde Nationalität, aus der Abkehr von der Politik die thätige Theilnahme an derselben.
Goethe saß einsam in Weimar, herrschend wie ein Gewaltiger; nur ganz
Wenige, die wie er zu fühlen vermochten, bildeten seinen Stab; alles Uebrige war
beherrschtes Volk. Die Romantik dagegen hatte viele Centren und viele Führer zugleich. In
Jena, in Göttingen, in Heidelberg, in Berlin und an anderen Orten blühte sie neben und
nacheinander auf. Ueberall aber wehte ihr scharfe Luft entgegen, die schärfste in Berlin.
Die brandenburgisch-preußischen Herrscher hatten Jahrhunderte lang
ihre Thatkraft auf die politische und militärische Festigung ihres Staates verwandt, zu
der sie die besten Elemente der Nation als Mithelfer sich beriefen. Die übrigen
Erfordernisse eines höhereren geistigen Lebens konnten vorläufig Nebensache bleiben, die
auf eigene Hand treiben mochte, wer die Lust dazu verspürte. Friedrich der Große, auf
der Höhe seiner militärischen und politischen Macht, mußte, bei seinem Interesse für
alles Geistige, zuerst den Abstand empfinden, in dem die litterarischen Leistungen unter
ihm standen. Was in der Litteratur lebendig war, hatten seine Thaten mit hervorgebracht.
Lessings Tellheim hat nationals Blut. Ohne Lessing sank die eingeborene
altberlinische Litteratur auf die unterste Stufe dessen, was möglich war. Die Humanität,
die man noch zu besitzen wähnte, trocknete zu einem unfruchtbaren, unduldsamen
Rationalismus ein, der für Religion, Volk und Vaterland kein Organ mehr hatte. Der
Sebaldus Noth- <3:> anker ist ein einziger Beweis dafür, von Anfang bis zu Ende.
Der alte Berliner Rationalismus erlag an demselben Tage, an dem die Schlacht von Jena
verloren ging. Er wäre damals aus der Geschichte ausgetilgt worden, hätte er sich nicht
in die frische Lebenskraft der französischen Revolution geflüchtet. Wie eine verlorene
Schildwacht hielt Nicolai thatenlos auf seinem Posten von ehemals aus, während ringsherum
schon die neuen Mächte ihre Stellungen bezogen hatten; und in öffentlichen Blättern
wurde nach alter Façon weiter geschrieben, wie wenn die Welt seit zwei Jahrzehnten still
gestanden hätte.
Der Rückschlag aber begann in Berlin noch im 18. Jahrhundert.
Nächst Wackenroder war Ludwig Tieck, dem der Schlegelsche Kreis anhing, der erste
in Berlin, der die Bekämpfung des alten Berlinerthums und die Schaffung neuer geistiger
Werthe ins Auge faßte. Trotz der von vielen Seiten freudig bekannten Anregungen, die von
Tieck ausgegangen sind, war doch seine productive Kraft nicht bedeutend genug, um in
Berlin Wandel zu schaffen. Das Bürgerthum, dem er entsprossen war, blieb ihm
unzugänglich, das Theater unter Iffland verschlossen, und der in Regierung und Militär
maßgebende Adel hielt sich außer theilnehmender Verbindung mit ihm. Er ging fort von
Berlin. Andre nach ihm begannen sein Werk wie von Neuem.
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