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Adam Müller, I. Prolegomena einer Kunst-Philosophie, 3-27; darin: 26f.

 *) Anmerkung 1. zu Seite 13.

Es ist der Unterschied des Negativen und der Negation in der Mathematik, von dessen klarer Erkenntniß alle Deutlichkeit an dieser wichtigen Stelle der Philosophie abhängt. Die Begriffe, Ausgabe und Einnahme in der Öconomie, sind streng entgegengesetzte Begriffe: Ausgabe ist negative Einnahme und Einnahme negative Ausgabe. Wenn jemand so viel einnimmt als er ausgiebt, wenn er z. B. +1000 einnimmt und -1000 ausgiebt, so ist das Resultat seiner Öconomie 0. Die +1000 Einnahme wollen wir Positives, die -1000 Ausgabe wollen wir Negatives nennen, so ist dann das 0, welches  wir zum Resultat erhielten, die Negation. Niemanden wird es einfallen, die -1000 mit der 0 zu verwechseln und zu behaupten, daß, weil nichts übrig behalten, die Folge vom Ausgeben der gesammten Einnahme sei, eben deshalb das übrig bleibende Nichts und die wirklich geschehene Ausgabe auch eins und dasselbe sein müsse. – Ferner, Schuld und Vermögen sind entgegengesetzte Begriffe, Schuld ist negatives Vermögen und Vermögen negative Schuld. Wird es uns je einfallen zu behaupten, Schulden haben und Nichts haben, Negatives und Negation sei einerlei? – Wenn wir uns von einem Orte A nach einem andern B auf geradem Wege begeben, so entfernen wir uns offenbar von A um eben so viel, als wir uns dem B nähern; nehmen wir an, die Entfernung A von B sei =10 Meilen. Haben wir 4 Meilen dieses Weges gemacht, so haben wir uns B um +4 genähert, von A um -4 entfernt: kann nun irgend jemand behaupten, wir hätten uns zwar gegen B um +4 genähert, aber von A nicht entfernt: d. h. sich entfernen und bleiben, -4 und 0, Negatives und Negation sei eins und dasselbe. – In allen diesen Beispielen ist der Widerspruch so handgreiflich, daß ein Mißgriff fast unmöglich ist. Indeß bedarf es nur eines leichten Blicks in die Geschichte der bisherigen Physik und Philosophie, um allenhalben Folgen der Vernachlässigung dieses allerwichtigsten Unterschiedes zu finden. Um eins der auffallendsten Beispiele herauszugreifen, betrachten wir die Art, wie man sich Leben und Tod einander entgegengestellt hat: offenbar kann Tod nichts weiter bedeuten als Nichtleben; wenn wir das Leben +1 nennen, so ist der Tod = 0. Jeder Lebendige fühlte sich gedrungen, eben weil er lebte, zu dem positiven Leben, das er jetzt lebt = +1 ein negatives künftiges Leben, = -1, ein Antileben unter irgend einer Gestalt zu denken. Wenn er z. B. +1 zeitliches, irdisches Leben nannte, so übersetzte er das - in dem -1, durch den Gegensatz vom Zeitlichen, Irdischen, durch Ewiges und Himmlisches. Leben heißt durchaus nichts weiter, als ohne Ende Gegenleben annehmen, nach allen Seiten ins Unendliche beleben: diesem Wesen des Lebens genügt das Lebendige, indem es das Universum, wo es hingelangen mag, disseits und jenseits mit positiven und negativen Zuständen bevölkert. Demungeachtet melden sich Philosophen und Theologen von allen Farben, weitläufig beweisend, daß das Leben (oder die Seele) nicht sterbe, gleichsam als könnte es doch noch einmal darauf hinauskommen, daß Tod und Antileben, negatives Leben und die Negation des Lebens, -1 und 0 eins und dasselbe wären. –

 **) Anmerkung 2. zu Seite 18.

Man theilt in der Grammatik bekanntlich die einzelnen Worte der Sprache in gewisse Classen, in Substantiva, Adjectiva, Verba, Adverbia u. s. f. Die Weisheit früherer Zeiten hob eine unter diesen Classen vor allen andern hervor, indem sie die Individuen derselben Worte Verba par exell. ohne weiteren Zusatz nannte. Zeitwörter, wie sie in der deutschen Grammatik übersetzt worden, ist eine schlechte und unvollkommene Bezeichnung. Diese Verba haben das Auszeichnende vor allen andern übrigen Worten, daß sie einer viel reicheren Veränderung, Umstaltung oder Conjugation fähig sind als alle andre. Diese Verba bezeichnen die Bewegung, das Handeln der unendlichen Natur wie der Individuen, da- <27:> hingegen die Substantiva dem Bleibenden, Ruhenden, zugewiesen sind. Die Verba sind gleichsam die Flüsse und die Meere der Sprache, die Substantiva hingegen, Felsen und festes Land: die Verba das Blut, die Substantiva das Fleisch der Sprache. Die Bewegung erzeugt ein Bleibendes, das Bleibende löst löst sich in Bewegung auf, die Bewegung in neues Bleibende u. s. f.: der Baum schlägt aus, dieses Leben offenbart sich im Laube: er blüht; Blume: er reift; Frucht. Wie unsrer obigen Darstellung zufolge nun alles Handeln nur angeschaut werden kann, als Verhältniß zweier Elemente, des Handelnden und des Behandelten, so müssen unter allen möglichen Flexionen und Veränderungen, die mit dem Sprachrepräsentanten des Handelns, mit dem Verbum vorgenommen werden können, zwei Grundformen vor allen andern sich auszeichnen; in deren einen sich das Handeln im Handelnden, in deren anderen sich das Handeln im Behandelten darstellen muß. – Das erstere geschieht im Activum, das andre im Passivum. – Wie nun in der Sprache z. B. das ruhende Substantiv: Liebe, in der bewegten Gestalt des Verbums sich auflöst in vielfache Actionen und Reactionen von lieben und geliebt werden, und das Wesen der Liebe selbst als das Mittlere, als die unsichtbare Einheit, als Antigegensatz durch alle mannichfachen Beugungen und Umstaltungen des Verbums hindurch greift: so soll in der wahrhaft philosophischen Darstellung jede Erscheinung des Lebens selbst leben, und unter unendlichen Formen gelebt, belebt und erlebt werden, um dann selbst wieder zu beleben u. s. f.

 

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