Zeitung
für die elegante Welt (Leipzig), 10. 6. 1811, Nr. 115, Sp. 913-917: Briefe aus Berlin
(172 Zeilen); (a:) Sp. 913 (bis Z. 16); (b:) Sp. 915-917 (ab Z. 102)
Penthesilea
<a:>
Briefe aus Berlin.
Erst jetzt kann ich, lieber Freund, Deiner
Aufforderung Gnüge leisten, und Dir über die pantomimischen Darstellungen der Madame Schütz meine Meinung sagen, welche ich Dir ohne
allen Rückhalt und lediglich nach den Eindrücken geben will, welche sie auf mich gemacht
haben. Umstände, die sich nicht ändern ließen, verhinderten mich, den beiden ersten
Darstellungen beizuwohnen; ich habe nur die letzten sehen können, welche eine eben so
große Menge von Zuschauern herbeigezogen haben, als jene ein Beweis, wie allgemein
der Beifall ist, dessen die Künstlerin sich auch hier zu erfreuen hat. Daß sie diesen
Beifall in vollem Maße verdient, wer könnte hieran noch zweifeln? Sie leistet in ihrer
Kunst etwas Außerordentliches, und hat es unstreitig zu einem hohen Grad der
Meisterschaft gebracht.
<b:>
Für die befriedigendste von allen ihren Darstellungen, die ich gesehen, halte ich die
Scene der Hagar und des Ismaël in der Wüste. Sie hat mich bis zu Thränen
gerührt, so innig und wahr ist der Ausdruck der Verzweiflung Hagars über den
verschmachtet hinsinkenden Ismaël und wie sie in der Noth sich betend zum Himmel
wendet, welche Inbrunst ist in ihrem dringenden Flehen um Hülfe! und als sie nun
zu ihren Füßen eine Quelle rieseln hört, den Knaben hingeleitet, der Verlechzte sich in
langen Zügen erlabt, und ihr dann Wasser mit den Händchen hinreicht welch
mütterliches Entzücken, welche herzliche Freude ist da über alle ihre Züge, über ihr
ganzes Wesen verbreitet! Hier vergaß ich ganz die Künstlerin und merkwürdig war
mit, wie diese Scene ohne allen scenischen Apparat so allgemein verständlich war, daß
Jedermann davon ergriffen wurde.
Auf diese herrliche Darstellung folgte die weltliche Magdalena.
Die schöne Sünderin macht ihre Toilette; wohl ein halbes Dutzend Shawls legt sie nach
einander um, bis ihr endlich ein Anzug genügt, in welchem sie sich selbstgefällig
belächelt. Welch ein Kontrast zwischen dieser und der vorigen Scene ein Sprung vom
Tragischen ins Halbkomische! das ist freilich ein Mittel, seine Kunst zu zeigen, aber so
wird die Kunst überhaupt zum Mittel, da sie doch immer Zweck seyn sollte. Wer fühlt hier
nicht eine Art von Profanation etwas Gaukelhaftes, wodurch die schönste
Täuschung, der herrlichste Genuß, zum Theil wieder zerstört wird? Wir sehen zwar auch
von einem Schauspieler die abweichendsten Charaktere darstellen, und bewundern ihn um so
mehr, je mehr er seiner Individualität sich zu entäußern weiß. Aber wir erblicken ihn
doch nicht in einem und demselben Stück unter den verschiedensten Gestalten; unser
Hauptvergnügen ist vielmehr, ihn den Charakter, der er darstellt, in allen seinen
Schattirungen durch ein ganzes Drama mit Konsequenz durchführen zu sehn und sein
höchster Triumph ist es, wenn wir ihn, seine Persönlichkeit, ganz und gar vergessen und
ganz in dem leben, was er darstellt.
Nächst der Scene der Hagar und des Ismaël gefielen mir die
Darstellungen der deutschen Maria am besten, und unter diesen besonders die
Verkündigung und die Verklärung. Worte geben solche herrliche Erscheinungen
nicht wieder, und Du wirst mir daher gern jede nähere Schilderung erlassen.
Charakteristisch war der Unterschied, den die Künstlerin in der Verkündigung der
italienischen Madonna andeutete, vielleicht etwas zu stark andeutete. Die italienische
Verklärung schien mir etwas zu theatralisch. Vorzüglich wird dieGalathea gepriesen; ich gestehe, sie blieb unter meiner
Erwartung; das Übergehen ins Leben schien mir nicht leise, nicht allmälig genug
und am Ganzen vermißte ich eine gewisse jungfräuliche Zartheit, und jene völlige
Neuheit und Unerfahrenheit, die sich nicht weiter beschreiben läßt. In der Penthesilea gab es herrliche Momente besonders schön war
der letzte, wo sie ihren Schmerzen erliegt; nur folgte alles so schnell auf einander, und
der Stoff war nicht recht passend gewählt. Da nur Wenige mit ihm bekannt seyn mögen,
erzählte Herr Professor Schütz die Geschichte, und deklamirte zuletzt eine Scene aus dem
Drama dieses Namens von Herrn von Kleist. Mit der Deklamation war die Versammlung sehr
unzufrieden.
Am wenigsten konnte ich den antiken Darstellungen Geschmack
abgewinnen. Sie sind ein Gegebnes, dem man sich doch immer nur sehr unvollkommen annähern
kann. Ungünstig gewählt schienen mir besonders die Sphinx und die Karyatide,
zumal letztere, welche die menschliche Gestalt zwar in einer künstlichen, aber nichts
weniger als schönen Form zeigt.
Darstellungen cf. >> Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen
(Spenersche Zeitung), 20. 4. 1811, Nr. 43 (unpag.)
>> Königlich privilegirte Berlinische Zeitung
von Staats- und gelehrten Sachen (Vossische Zeitung), 25. 4. 1811, Nr. 50 (Rubrik:
Königliches Nationaltheater; unpag.)
>> Berlinische Nachrichten von Staats- und
gelehrten Sachen (Spenersche Zeitung), 25. 4. 1811, Nr. 50 (unpag.)
>> Privilegirte gemeinnützige
Unterhaltungs-Blätter (Hamburg), 22. 5. 1811, Nr. 27, Sp. 215f.: Das Neueste in der
Kürze; darin: Sp. 216
>> Morgenblatt für gebildete Stände, 28. 5.
1811, Nr. 127, 508: Korrespondenz-Nachrichten; darin: Berlin, 30 April (86 Zeilen); (bis
Z. 13)
Emendation
Karyatide]
Karpatide J
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