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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 599-605

23. Geistererscheinung.


Im 63. bis 66. Abendblatte, vom 15. bis 19. März 1811. Anonym. Bisher nicht bekannt. Die allerletzte Erzählung, die Kleist für die Abendblätter geliefert hat. Sie lautet: <600:>

Geistererscheinung.
Im Anfange des Herbstes 1809 verbreitete sich in der Gegend von Schlan (einem Städtchen 4 Meilen von Prag auf der Straße nach Sachsen) das Gerücht einer Geistererscheinung, die ein Bauernknabe aus Stredokluk (einem Dorfe auf dem halben Wege von Schlan nach Prag) gehabt habe. Dies Gerücht ward endlich so allgemein und so laut, daß endlich ein Hochlöbl. Kreis-Amt zu Schlan eine gerichtliche Untersuchung der ganzen Sache beschloß, und demzufolge eine eigene Commission ernannte, aus deren Akten zum Theil, und zum Theil aus mündlichen Berichten an Ort und Stelle, nachfolgende Geschichte gezogen ist.
Ein Bauerknabe von ungefähr 11 Jahren aus Stredokluk, mit Namen Joseph, bekannt bei seiner Familie sowohl als im ganzen Dorfe für einen erzdummen Jungen, schlief für gewöhnlich mit einem alten Onkel und einigen seiner Geschwister, von seinen Eltern getrennt, in einer besondern Kammer. Eines Nachts wird er durch Schütteln geweckt, und wie er aus dem Schlafe aufschreckt, sieht er eine Gestalt sich langsam vom Fuße seines Bettes fortbewegen und im Dunkel verschwinden. Joseph, dem Schlafen über alles geht, nimmt es gewaltig übel, so muthwillig gestört zu werden, und in der Meinung, die Gestalt sei der Onkel gewesen, der ihn habe necken wollen, fängt er an, sich laut zu beklagen und sich dergleichen Scherze scheltend zu verbitten. Der Onkel, ein alter Invalide, wacht über den Lärm ebenfalls auf, fragt ziemlich barsch nach der Ursache, und da Joseph ihn zu Rede stellt, warum er ihn necke und nicht schlafen lasse, so ergrimmt der alte Soldat, und nach einigen Betheuerungen und Fluchen, daß er von nichts wisse, die aber unserm Joseph nicht einleuchten wollen, steht er auf und, um seinen Gründen Gewicht zu geben, nimmt er den Stock und zerprügelt den ungläubigen Herrn Neffen. Joseph schreit fürchterlich, alle seine Geschwister werden wach und schreien mit, die Eltern eilen voll Angst herbei, sie besorgen Feuer oder Mord, beruhigen sich aber bald, da sie sehen, daß nur der dumme Joseph etwas geprügelt wird. Sie fragen nach dem Anlasse des Tumults; Joseph erzählt schluchzend seine Geschichte; der Onkel flucht laut über den Lügner; den Eltern ist der Fall zu spitzig; zum Untersuchen ist nicht Zeit, und da Joseph von seinem Satz nicht abgeht, so vereinigen sie sich der Kürze halber mit dem Onkel, prügeln gemeinsam auf den Aermsten und schicken ihn zu Bette. In der folgenden Nacht geht derselbe Spaß von neuem an, Joseph wird wieder geweckt, sieht eine Gestalt, hält sie wieder für den Onkel, und da er diesmal seiner Sache noch gewisser zu sein glaubt, als das erstemal, so beklagt er sich noch ungestümer; der alte Onkel erwacht, prügelt, die Eltern kommen herbei, prügeln auch, und Joseph flüchtet <601:> sich, ein gutes Theil mürber als die vergangene Nacht, in sein Bett. In der dritten Nacht dieselbe Erscheinung, aber nicht dieselben Prügel. In dem Kopfe des dummen Josephs entwickelt sich allmählig die Idee vom ewigen Unrechte des Schwächern, er schweigt demnach, und versucht es, mit einem äußerst vedrießlichen Gesicht, sobald wie möglich wieder einzuschlafen, was ihm denn auch gelingt. Den Tag darauf kömmt Joseph Abends vom Felde nach Hause, und erzählt der Mutter, wie um die Mittagsstunde ein fremder Herr zu ihm gekommen sei, in einem weißen Mantel und mit sehr bleichem Angesichte; wie dieser, als er sich anfangs vor ihm gefürchtet und davon laufen wollen, ihm freundlich zugeredet habe, er solle sich nicht fürchten, er meine es gut mit ihm und wolle ihn belohnen, wenn er hübsch folgsam wäre. Als er sich hierauf beruhigt, habe der fremde Herr mit tiefbetrübter Miene gesagt, daß er schon sehr lange, lange auf ihn gewartet habe, daß er ihm die drei vergangenen Nächte erschienen sei, und jetzt komme, um von ihm einen Dienst zu begehren, dessen Gewährleistung er nicht zu bereuen Ursach haben würde. Morgen nehmlich mit Sonnenaufgang solle er, mit einem Spaten versehen, aufs Feld hinausgehn und an einem Orte, den er ihm zeigen werde, nachgraben; er werde dort Menschen-Knochen finden, an denen fünf eiserne Ringe befestigt wären; dies wären seine Gebeine, über die sein Geist nun schon seit 500 Jahren ohne Ruhe und ohne Rast herumirre; habe er die Gebeine gefunden und herausgenommen, so solle er noch tiefer graben, wo er sodann auf fünf verschlossene irdene Truhen stoßen werde; was damit zu thun, würde er ihm später entdecken. Nachdem er ihm dies alles gesagt, sei der Herr plötzlich weggekommen, er wisse nicht wohin. Die Mutter hatte mit offenem Munde zugehört und voller Verwunderung ihren Joseph betrachtet, welcher, da er sonst in dummer Unbehülflichkeit kaum ein halb Dutzend Worte an einander zu reihen wußte, jetzt mit fließender Rede, im reinsten Böhmisch seine Geschichte vortrug. So unheimlich ihr auch bei der Erzählung zu Muthe sein mochte, so witterte sie doch als eine kluge Frau in den verheißenen Truhen so etwas von einem Schatze, und um des Schatzes willen beschloß sie, mit ihrem Joseph gemeinschaftlich das Abentheuer zu bestehn.
Den andern Morgen in aller Frühe machten Mutter und Sohn gehörig zum Graben gerüstet sich auf und gingen dem Felde zu, wo der Geist sich hatte sehn lassen; kaum waren sie vor das Dorf gekommen, als Joseph sagte: ei seht doch Mutter, da ist der Herr schon. Wo? rief die Mutter erblassend und schlug ein Kreuz über ihren ganzen Leib. Hier dicht vor uns, antwortete Joseph, er hat mir aber gesagt, er komme, uns zu führen. Die Mutter sahe nichts; der Geist, nur dem <602:> auserwählten Joseph sichtbar, zog still vor ihnen her. Die Reise ging querfeld ein, einer Heide zu, die an einem Feldwege hinlief; dort steht Joseph still und sagt zur Mutter: hier Mutter, hier sollen wir graben, spricht der Herr. Die Mutter, den Angstschweiß auf der Stirn, setzt den Spaten an, und gräbt hastig darauf los. Sie mochte ungefähr 2 Schuh tief gegraben haben, als sie auf Todtengebeine stößt; der Herr sehe dem Dinge sehr freundlich zu, versichert Joseph der Mutter, die für die Freundlichkeit des 500jährigen Herrn wenig Sinn hat, und geistliche Lieder und Avés und Beschwörungs-Formeln bunt durch einander sich immer lauter in Gedanken zuschreit. Der Gebeine wurden immer mehrere, sie waren mit einem gewöhnlichen Schimmel überzogen und zerfielen an der Luft in Asche, um beiden Arm- und Beinröhren\*\, dicht über den Hand- und Fußgelenken, lagen starke eiserne Bänder. Auf einmal ruft Joseph in die Mutter hinein: Mutter, der Herr will, daß ihr dort mehr rechts grabet; dort, wo er mit dem Degen hinzeigt, da liege sein Kopf, spricht er. Die Mutter gehorcht und nach einigen Spatenstichen hebt sie einen Todtenkopf heraus, dessen Stirn ein großer eiserner Ring umgiebt. Nun wars mit der Mutter am Ende; mit jedem Knochen, den sie herausgegraben, hatte die Angst und der innere Lärmen sich gemehrt; halb in Verzweiflung hatte sie nach dem Schädel gesucht, sein Anblick gab ihr den Rest, sie warf den Spaten hin, und floh laut schreiend dem Dorfe zu. Joseph begriff die Mutter nicht, ihm war nie so wohl in seiner Haut gewesen. Als er den fremden Herrn fragen wollte, was denn das bedeute, war dieser verschwunden; kopfschüttelnd nahm Joseph seine fünf Ringe um den Spaten, spielte noch ein wenig mit der Knochenasche, und ging dann jubelnd dem Dorfe zu. Die fünf Ringe wurden später bei den Gerichten deponirt, wo sie noch jetzt zu sehn sind.
Als die Commission die Untersuchung dieser Geschichte geendigt hatte, ohne die Sache selbst ins Reine gebracht zu haben, entschloß sich eine hohe Amts-Obrigkeit, durch die fünf Ringe aufgemuntert, den verheißenen fünf Truhen nachzuspüren; es ward von Amtswegen weiter nachgegraben. Im November 1809, wo Erzähler die Grube selbst gesehn, war man schon zu einer beträchtlichen Tiefe gelangt. Da die weitere Fortsetzung der Arbeit die Kräfte gewöhnlicher Tagelöhner überstieg, so ließ man, um nicht den Vorwurf halber Maaßregeln auf sich zu laden, endlich gar Bergleute kommen. Diese erweiterten den Bau und trieben Gänge rechts und links; nicht lange, so wollte man es haben hohl klingen hören, man grub und grub; umsonst, die Truhen zeigten sich nicht; man kam auf Schutt, die Hoffnung wuchs; der Schutt <603:> ward durchwühlt, er verlohr sich, die Hoffnung sank. In der Verlegenheit worin man sich befand, fiel es einem gescheidten Kopfe ein, daß Schätze ihre Capricen haben, die respectirt sein wollen, daß sie nicht jeder rohen Faust in die Hände laufen sondern sich nur von sympathetischen Fingern berühren lassen, und that daher den Vorschlag, den Joseph kommen zu lassen, um künftig bei der Arbeit gegenwärtig zu sein.
Da man schon im December ziemlich weit vorgerückt war, so packte man den armen Jungen warm ein, gab ihm einen kleinen Spaten in die Hand, und hieß ihm hin und her ein Schaufelchen Erde heraus heben. Man versprach sich sehr viel von dieser List, doch es schien, als wäre es dem Geiste mehr um seine Knochen als um die Truhen zu thun gewesen, denn auch die Gegenwart unseres Josephs verfing nichts. Der zunehmende Frost machte endlich dem Suchen ein Ende; im Frühjahr, beschloß man, sollte die Arbeit fortgesetzt werden, hat es jedoch unterlassen. Uebrigens hat der Geist gegen Joseph nicht ganz undankbar gehandelt, als es auf den ersten Anblick scheinen möchte; denn, wenn er ihm auch den gehofften Schatz, den er ihm übrigens nie versprach, entrückte, so hatte er doch wahrscheinlich veranstaltet, daß die Leute von nah und von fern herbei strömten, um den kleinen Geisterseher zu sehn und reichlich zu beschenken.

Ich erkläre mich kurz, aus welchen Gründen der Artikel Kleist’s Feder zuzuweisen sei. Stil, Satzbildung und Periodisirung, zwar nicht bis zur Kunstfeinheit der Erzählungen der Buchausgabe durchgearbeitet, ist Kleistischer Natur. Inhaltlich treten die Parallelen zum Bettelweib von Locarno hervor. Dreimal schildert Kleist, in leichter Variation der angewandten Sprachmittel, die nächtlichen Erscheinungen des Bettelweibes: dreimal, ebenso, die nächtlichen Erscheinungen des vornehmen Herrn in Schlan. Wie schließlich die Marquise, rennt die Mutter des dummen Joseph in Verzweiflung davon. Der Unterschied zwischen den beiden Erzählungen ist wieder ebenso sorgsam angelegt und durchgeführt. Im „Bettelweib von Locarno“ läßt Kleist vornehme Leute, gleichsam adlige Standesgenossen von sich auftreten und standesgemäß handeln: die an der Geistererscheinung in Schlan Betheiligten schildert er mit derberem Humor. Weder ihm, als Autor, noch anscheinend <604:> dem Bauernjungen thun die vielen Schläge weh: der Junge wird „zerprügelt“, wie Kohlhaasens Knecht auf der Tronkenburg „zerprügelt“ wird. Das „Bettelweib von Locarno“ stattete Kleist mit ernster poetischer Glaubwürdigkeit aus: der Schlaner Geistererscheinung und Knochengräberei ist ein komischer Anstrich gegeben worden. Darum dort der Ausgang tragisch, hier vergnüglich. Wie Ernst und Scherz stehen sich die beiden Erzählungen gegenüber.
Was über die Zeit der Schlaner Geistererscheinung und über die Quellen, denen die Darstellung entfloß, gesagt wird, fügt sich auch in Kleist’s bekannte Lebensumstände ein. Kleist befand sich damals in Prag, also nahe dem Thatorte: „im November 1809“, als er von dort in seine Frankfurter Heimath reiste, und „im December 1809“, als er in das Oesterreichische wieder zurückging (an Ulrike S. 154), muß er Schlan, über das seine Straße führte, zweimal passirt haben. Warum sollte, da doch die Leute von nah und fern nach Schlan kamen, nicht auch Kleist sich die Grube angesehen und die Geschichte sich haben erzählen lassen? Wenn sich aber in österreichischen oder nicht österreichischen Zeitungen – was meinen Bemühungen unauffindbar gewesen ist – ein Bericht, ein Actenauszug, aufweisen lassen sollte, so bin ich dessen gewiß, daß Kleist dies Material mit der Freiheit, die er sich immer nahm, umgearbeitet hat. So, wie die Schlaner Geistererscheinung vorgetragen wird, schreibt kein gewöhnlicher Berichterstatter.
Ich lenke die Aufmerksamkeit noch auf ein Sentiment, das humoristisch in den dummen Bauernjungen hinein gelegt wird, ohne daß es in ihm selbst könnte aufgestiegen sein. Kleist verleiht ja, wie Schiller, seinen dramatischen Personen Sprache und Gedanken, die über ihren Wirklichkeitshorizont weit hinausgehen. „In dem Kopfe des dummen Josephs <605:> (heißt es oben) entwickelt sich allmählig die Idee vom ewigen Unrechte des Schwächeren, er schweigt demnach, und versucht &c.“ Kleist läßt hier Etwas von seinem Eignen mit einfließen. Das war die Stimmung, die sich in ihm nach den ewigen Kämpfen mit Hardenberg und Angesichts des nahen Schlusses der Abendblätter festgesetzt hatte. In seinen Briefen aus dem Frühjahr 1811, als er seine Entschädigungsansprüche wegen der Zugrundrichtung der Abendblätter neu betrieb, ist sie deutlich ausgedrückt. So verbürgt auch dieser höchst individuelle Satz die Autorschaft Heinrich’s von Kleist für die Geistererscheinung in Schlan.

\*\ „um beiden“ im Original.

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Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
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