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 Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart:
        Spemann 1901), 587-589
           
           
                    19. Mutterliebe. 
                      
          
        
        Im 7. Abendblatt, vom 9. Januar 1811, anonym. Zu St. Omer im
        nördlichen Frankreich ereignete sich 1803 der merkwürdige Vorfall, daß eine
        Mutter im Kampfe mit einem tollen Hunde, den sie erdrosselt, mit ihren beiden Kindern zu
        Grunde ging. Man hat das Stück mit Recht bereits in Kleists Schriften aufgenommen.
        Es ist, trotz seines geringen Umfangs, mit kleistischer Sorgfalt durchgearbeitet. 
         Kleist war (an Ulrike
        S. 93) im Sommer 1803 in St. Omer. Ich glaube, daß wir es wieder mit einem
        selbstbiographischen Erlebnisse Kleists zu thun haben. <588:> 
           
         
          20. Beitrag zur Naturgeschichte des Menschen. 
         
        Unmittelbar hinter der Mutterliebe folgt, auch in die Bestrebungen
        Schuberts einlenkend, der in den Schriften Kleists nicht enthaltene 
         
         Beitrag zur
        Naturgeschichte des Menschen. 
        Im Jahr 1809 zeigten sich in Europa zwei sonderbare entgegengesetzte Naturphänomene: das
        Eine eine sogenannte Unverbrennliche, Namens Karoline Kopini, das Andere eine
        ungeheure Wassertrinkerinn, Namens Chartret aus Courton in Frankreich. Jene, die
        Unverbrennliche, trank siedend heißes Oel, wusch sich mit Scheidewasser, ja sogar mit
        zerschmolzenem Blei, Gesicht und Hände, gieng mit nackten Füßen auf einer dicken
        glühenden Eisenplatte umher, Alles ohne irgend eine Empfindung von Schmerz. Die Andere
        trinkt, seit ihrem 8ten Jahre, täglich 20 Kannen laues Wasser; wenn sie weniger
        trinkt, ist sie krank, fühlt Stiche in der Seite, und fällt in eine Art von
        Betäubung.  Uebrigens ist sie körperlich und geistig gesund, und war vor zwei
        Jahren 52 Jahre alt. 
         
        Kleist muß beträchtliche Sammlungen merkwürdiger Vorfälle, die er seiner
        weitgreifenden Lectüre verdankte, besessen haben. Die Vorräthe kamen ihm, jetzt als
        Redacteur der Abendblätter, außerordentlich zu Statten. Ich fand seine eine Quelle im
        Nürnberger Korrespondenten vom 16. März 1809 (Nr. 75) wieder auf: 
         
         Miszelle. 
        Karoline Kopini, die einzig Unverbrennbare, wie sie sich nennt, gab zu Prag bei ihrer
        Durchreise aus Italien nach St. Petersburg verschiedene Beweise. Nebst dem, daß sie
        Oel, welches bis auf 450 Grad siedend gemacht ward, trank, mit einem auf 30 Grade
        abgezogenen Scheidewasser, so wie auch mit geschmolzenem Zinn sich die Hände und Füße
        wusch, auf einer dicken glühenden Eisenplatte mit bloßen Füssen umherging, glühende
        eiserne Schaufeln mit der Zunge betastete, ohne die mindesten Zeichen einer schmerzhaften
        Empfindung an sich gewahren zu lassen; lieferte sie noch mehrere Proben ihrer wahrhaften
        Unverbrennbarkeit, und man kann sagen, daß Niemand den Schauplatz verließ, welcher diese
        so außerordentlichen Experimente nicht bewundert hätte. <589:> 
         
        Auf die andere Urstelle bin ich bei Durchmusterung der Zeitungen nicht gestoßen. Es
        handelt sich ja um keine großen Dinge; aber kleine interessante Beobachtungen lassen sich
        doch anstellen. Kleist sagt abweichend: sie wusch sich Gesicht und Hände. Warum
        nicht das originale Hände und Füße? Offenbar, weil Kleist stilistisch daran
        Anstoß nahm, daß das Wort Füße zweimal hinter einander, wie im Original,
        auch bei ihm gestanden hätte. Er gab in diesem Falle die Treue gegen die Ueberlieferung
        für die Befriedigung eines ästhetischen Bedürfnisses hin. 
         
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