Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe
(Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 581-583
16. Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten.
Der Hauptmann, sahen wir, macht bei Kleist Figur.
Kleist wäre, wenn er das Militär nicht verlassen hätte, um
1811 nach fast zwanzigjähriger Dienstzeit, selber Hauptmann
gewesen: wie er ja wirklich im Herbste 1811 wieder als Hauptmann
in die Armee eingestellt zu werden Aussicht hatte. Als Hauptmann
bringt er denn auch selber im 8. Abendblatte, vom 10. Januar
1811, drei Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten
vor, die man mit Recht bereits in seine Werke aufgenommen
hat. Die Tendenz dieses Artikels ist eine antirationalistische.
Gegen die landläufige Forderung, daß die Wahrheit auch wahrscheinlich
sein müsse, führt Kleist als höhere Instanz die Erfahrung
vor, die lehre, daß die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf
Seiten der Wahrheit sei: ein Satz, der (wie Minor im Euphorion
1894 aufgewiesen hat) auch im Michael Kohlhaas steckt.
Zwei
von den unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten sind, meines Erachtens,
eigene Erlebnisse Kleists, während die dritte, Schillers
Geschichte des Abfalls der Niederlande (Hempel 11, 150)
entnommen, dazu bestimmt ist, autoritativ jeden vorgebrachten
Zweifel niederzuschlagen. <582:>
Ich
gehe von der zuzweit erzählten Wahrhaftigkeit aus: Im
Jahre 1803 befand ich mich, mit meinem Freunde, in dem Flecken
Königstein in Sachsen
unter vielen
andern Einwohnern der Stadt begaben auch wir uns, mein Freund
und ich, täglich Abends nach dem (eine halbe Stunde entfernten,
am Rande des äußerst steilen Elbufers gelegenen) Steinbruch
hinaus. Da sei durch den Druck der Luft, den ein niedergehender
Steinblock verursachte, ein schwerer Elbkahn aus dem Wasser
auf das Ufer gehoben worden. Der berichtete Vorgang fügt sich
leicht in das, was wir von Kleists Leben wissen. Er
war 1803 in Dresden (an Ulrike S. 86): gewiß also auch
in Königstein! Den Freund von damals kennen wir
ebenfalls: es war Pfuel. Ich sehe in der Geschichte ein selbstbiographisches
Zeugniß Kleists.
Ebenso
beurtheile ich die ersterzählte Wahrhaftigkeit, die (wenn
ich rückwärts rechne) elf Jahre früher, und zwar
auf einem Marsch, 1792, in der Rheincampagne geschehen
sei. Es war nach einem Gefecht, das wir mit dem Feinde
gehabt hatten. Ein Soldat, der in Reih und Glied mitmarschirte,
war anscheinend durch die Brust geschossen worden. Abends,
da wir ins Lager gerückt waren, fand der Chirurgus,
daß die Kugel, die vorn eingedrungen, rings um den ganzen
Leib herumgeglitscht und hinten aus der Haut herausgebrochen
sei, ohne den Soldaten ernstlich zu beschädigen. Nun aber
wurde das Potsdamer Bataillon Garde, bei dem Kleist seit Juni
1792 stand, im December 1792 (nach authentischer Auskunft
des Herrn Major von Ries) mobil gemacht; es kam jedoch schwerlich
noch 1792 vor den Feind, sondern erst 1793 am Rhein. Somit
würde Kleists Jahresansatz nicht genau stimmen. Aber
dieses Moment braucht uns nicht unsicher zu machen; denn rückschauend
vom Jahre 1811 konnte sich Kleist, wo historische Correctheit
nicht durchaus ge- <583:> fordert war, wohl irren. So
betrachte ich diese Geschichte als eine Kriegserinnerung Kleists,
die ihm lebendig in der Erinnerung haften blieb. Ich messe
ihr größeren biographischen Werth zu, als dem Wenigen, was
wir durch Zufall über seine Kriegsjahre wissen.
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