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 Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart:
        Spemann 1901), 571-574 
           
                    11. Geographische Nachricht 
                    von der Insel Helgoland.  
                     
                     In den stetig fortgesponnenen 
                    Kleinkrieg gegen Napoleons Pläne gehört auch die Geographische 
                    Nachricht von der Insel Helgoland im 56. Abendblatt, 
                    vom 4. December 1810, die mit hk unterzeichnet 
                    ist. Wiewohl sich Kleist auf die Hamburger Gemeinnützigen 
                    Unterhaltungs-Blätter, 1810 Nr. 43, beruft, so darf uns 
                    Kleists Artikel doch als Originalarbeit gelten. In den 
                    Hamburger Blättern beginnt die Artikelserie Einige Nachrichten 
                    von der Insel Helgoland und ihren Bewohnern mit Nr. 38, 
                    vom 22. September 1810, und zieht sich bis Nr. 46, 
                    vom 17. November, hin. Zwischen diesen Aufsätzen und 
                    dem Kleists geschah etwas ganz Neues: die Proclamirung 
                    der Continentalsperre und die festländische Verbrennung der 
                    Colonialwaaren, die auch in Berlin Statt finden mußte. Helgoland 
                    wurde in den wirthschaftlichen Kämpfen der wichtigste Stützpunkt 
                    und Stapelplatz der Engländer. Diese politischen Zustände 
                    gaben Kleist für die Ein- und Ausleitung seines Artikels die 
                    Farbe, und auch in der eigentlichen Beschreibung Helgolands 
                    hält er sich so frei von der Vorlage, die er citirt, daß dieses 
                    Citat nur decorativen Deckwerth zu haben scheint. Der Aufsatz 
                    Kleists lautet: 
         
         Geographische Nachricht
        von der Insel Helgoland. 
        In den öffentlichen Blättern las man vor einiger Zeit, daß auf der, an der Mündung
        dreier Flüsse zugleich, nämlich der Weser, Elbe und Eyder, liegenden und mithin den
        Unterschleifshandel, zwischen England und dem Kontinent, bis zu den letzten Kaiserlich-
        Französischen Dekreten, äußerst begünstigenden Insel Helgoland, für
        20 Mill. Pfund Sterl. Werth, an Kolonial-Waaren und Engl. Fabrikaten aufgehäuft
        wäre. Wenn man erwägt, wie groß die Menschenmasse sein muß, die ein Gewerbe, von so
        beträchtlichem, man mögte sagen ungeheurem Umfange, auf diesen Platz zusammenzieht: so
        wird eine Nachricht über die <572:> geographische und physikalische Beschaffenheit
        dieser Insel sehr interessant, die kürzlich in den Gemeinnützigen
        Unterhaltungs-Blättern gestanden hat: ein Journal, das überhaupt, wegen der Abwechselung
        an lehrreichen und ergötzenden Aufsätzen, und des ganzen Geistes, ernst und heiter, der
        darin herrscht, den Titel eines Volksblatts (ein beneidenswürdiger Titel!) mehr als
        irgend ein andres Journal, das sich darum bewirbt, verdient. Nach diesem Blatt
        (St. 43) beträgt der Umfang des thronartigen Felsens, worauf dies kleine,
        Bedrängnissen aller Art seinen Ursprung dankende Etablissement ruht, nicht mehr als
        ½ Meile; und auf der, dem zufolge nicht mehr als ¼ Quadratmeile betragenden
        Oberfläche, fanden, schon vor Ausbruch des Krieges, weder die Häuser, 400 an der Zahl,
        die darauf befindlich waren, noch die Familien, 430 an der Zahl, die sie bewohnten,
        gehörigen Platz. Schon Büsching giebt die Menschenmenge zu 1700 Seelen an; eine
        ungeheure Bevölkerung, die die beträchtlichsten in England und in den Niederlanden, von
        4500 Seelen auf 1 Quadratmeile, um ein Drittel übersteigt. Dabei ist der hohe und
        steile, an drei Seiten vom Meere bespülte Felsen, worauf der Flecken gebaut ist, wegen
        seiner mürben, zwischen den Fingern zerreiblichen Substanz, durch die Witterung vom
        Gipfel zum Fuß zerspalten und zerrissen; dergestalt, daß, aus Furcht vor den Erdfällen
        und Zerbröckelungen, die sehr häufig eintreten, bereits mehrere, auf dem äußersten
        Rand schwebende Häuser haben abgebrochen werden müssen, und bei einem derselben, vor
        mehreren Jahren, wirklich der Flügel des Königl. Wachthauses, schon herabgestürzt ist.
        Die Besorgniß, den Felsen ganz sich auflösen und zusammenfallen zu sehen, hat den Rath
        schon längst die Nothwendigkeit einer Abdachung empfinden lassen; aber der beschränkte
        Raum, den sein Gipfel darbietet, und der im umgekehrten Verhältniß stehende, ungeheure
        jährliche Wachsthum der Bevölkerung, verzögern die Ausführung dieses Entschlusses von
        Jahr zu Jahr. Die Einrichtung der Häuser kleiner und compendiöser zu machen, oder sie
        dichter an einander zu rücken, oder die Straßen, die dadurch gebildet werden, zu
        verengen, ist unmöglich; denn die ein Stock hohen Häuser enthalten nicht mehr, als ein
        Zimmer, eine Kammer, eine Küche und eine Speisekammer, und die Straßen sind schon, ihrer
        ersten Anlage nach, so eng, daß kein Fuhrwerk sie passiren, und höchstens nur eine
        Leiche hindurch getragen werden kann. Gegen Südost befindet sich zwar noch ein kleines
        dünenartiges Vorland oder Unterland, auf dessen höchstem Punkt dicht an der Felswand,
        noch 50 Häuser angenistelt sind; aber die Fluth, so oft sie eintritt, überschwemmt
        diese Düne, und bei Stürmen und Ungewittern droht der Wachsthum derselben, die Häuser,
        die darauf befindlich sind, gänzlich hinwegzuspülen. Erwägt man hierbei, daß der
        Felsen ganz unfruchtbar <573:> ist; daß auf dem Vor- oder Unterland, zwischen den
        Häusern, der einzige süße trinkbare Quell entspringt; daß man sich, im Flecken selbst,
        mit bloßem Regenwasser behelfen, und an heißen Sommertagen, über eine Treppe von
        191 Stufen herabsteigen muß, um daraus zu schöpfen; daß nur einige
        Johannisbeersträucher, ein wenig Gerste (400 Tonnen nach Büsching) und Weide
        fürs Vieh, auf der Oberfläche des Felsens wachsen; daß innerhalb des hohen, vor
        Stürmen einigermaßen gesicherten, Hofes des Predigerhauses der einzige Baum befindlich
        ist (ein Maulbeerbaum); daß demnach, vom Ursprung dieses Etablissements an, alle
        Bedürfnisse, auch die ersten und dringendsten, aus den, sechs und zehn Meilen fernen
        Häfen des festen Landes, geholt werden mußten; daß durch den Krieg und die
        unerbittliche Sperrung des Continents der Insel diese Zufuhr gänzlich abgeschnitten ist;
        daß mithin, bis auf Fleisch, Butter, Bier, Salz und Brod, Alles, mit
        unverhältnißmäßig mühevollen Anstrengungen, aus den Häfen von England
        herübergeschafft werden muß: so gehört dieser, um einen Werth von 20 Mill. Pfund
        Sterling spielende, continuirliche, an Leben und Bewegung alle Messen des Continents
        übertreffende Handel, der auf dieser öden, nackten, von der Natur gänzlich
        vernachlässigten Felsscholle, in Mitten des Meers, sein Waarenlager aufgeschlagen hat
        (nun aber wahrscheinlich Bankerott machen wird) gewiß zu den außerordentlichsten und
        merkwürdigsten Erscheinungen der Zeit.     hk. 
         
        Man bemerke die außerordentliche Vorsicht, mit der Kleist den gefährlichen Artikel an
        den Klippen der Censur vorbeibrachte. Das blinde Citat der Gemeinnützigen
        Unterhaltungs-Blätter, als habe das Alles schon in ihnen gestanden, und wohl auch der
        Klammerzusatz am Schlusse, daß der englische Handel wohl Bankerott machen werde, sollten
        gewiß nur den Censor in Sicherheit wiegen. Kleists und seiner Freunde Wunsch und
        Hoffnung ging gerade dahin, daß der englische Handel gegen Napoleon nicht unterliegen
        möge. Kleist wollte für Helgoland beim preußischen Leser Stimmung machen, in der klugen
        Erwägung, daß dadurch die moralischen Widerstände gegen die französische Herrschaft
        gestärkt würden. In dem gleichen Sinne wirkte er, als er zwei Tage später, im
        58. Abendblatt, eine kurze Nachricht vom Helgoländischen Gottes- <574:>
        gerichte gab, welches darin bestände, daß Streitigkeiten zweifelhafter Entscheidung
        durch das Werfen von Lootsenzeichen geschlichtet würden. 
         Kleists Aufsatz wurde
        verstanden, wie er verstanden werden sollte. Der Oberstlieutenant von Ompteda sei wieder
        unser Zeuge (Nachlaß 2, 32). Als der Partheigänger des englischen Königshauses und
        der Widersacher Napoleons griff er mit Befriedigung die Tendenz des Kleistischen
        Artikels auf, schrieb selbst, aus eigner Kenntniß Helgolands, einen neuen Artikel und
        zeigte ihn Heinrich von Kleist: der ihn indeß, der Censur wegen, nicht zum Abdruck
        bringen konnte. Aber das gesammte Material legte Ompteda doch seinem Bruder, dem Minister,
        als wichtiges Symptom des preußischen Geheimkrieges gegen Napoleon vor. 
         
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