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Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 565-570

10. Wissen, Schaffen, Zerstören, Erhalten.


Eine Reihe weiterer Gedanken über naturwissenschaftliche Probleme erscheint in Nr. 35 bis 37 der Berliner Abendblätter vom 11. bis 13. Februar 1811. Der nicht auf einheitliche Form gebrachte Titel deutet schon darauf hin, daß die einzelnen Theile nur lose mit einander verbunden sind. Der anonyme Verfasser bleibt aber nicht bei dem Naturwissenschaftlichen allein stehen, sondern strebt immer zu naturphilosophischer Nutzanwendung und Ahnung des Höheren hin. Er stellt, zur Demuth mahnend, das Wissen des Menschen unter das Schaffen, das ihm nicht verliehen sei, und er erklärt, gegen das Zerstören, das Erhalten für die sittliche Pflicht des Menschen.
Ich nehme das anonyme Schriftstück für Kleist in Anspruch und theile es, da es seinen Werken fehlt, hier zum ersten Male mit:

Wissen, Schaffen, Zerstören, Erhalten\*\.
Da Gold nächst Platina der schwerste Körper ist, den wir kennen, so ist künstliches Gold nur auf zwei Wegen möglich.
Durch Entdeckung eines wohlfeileren Körpers von derselben, oder größerer specifischer Schwere, dem man durch künstliche Behandlung die übrigen Eigenschaften des Goldes geben könnte. Durch die Platina ist nichts geholfen, weil sie theurer ist. <566:>
Durch Entdeckung einer Mischung mehrerer Substanzen, die zusammen alle Eigenschaften, auch die Schwere, des Goldes hätten. Also die Mischung muß schwerer sein, als die einzelnen Bestandtheile vor der Mischung, oder durch chemische oder mechanische Bearbeitung es werden. Unmöglich ist dieses nicht. Wir haben die Beispiele an einigen Metallen, die oxidirt durch Einwirkung des Feuers schwerer werden, als vorher im regulinischen Zustande, und durch Läutern und Hämmern nehmen viele Körper an specifischer Schwere zu. Gold auf künstlichem Wege zu machen, kann man also so wenig unmöglich nennen, als Zinnober und Mineral-Wasser. Dennoch hat man, seitdem es bei policirten Nationen ein Hauptmaterial des Geldes geworden ist, und seinen Inhaber gleichsam allmächtig macht, diese künstliche Erzeugung vergebens versucht; obgleich erfahrene Scheidekünstler mit aller Anstrengung und Aufopferung ihres Vermögens Menschenalter hindurch operirt haben.
Die künstliche Goldmacherei mag ihrem dereinstigen Erfinder ganz nützlich sein, aber für die höhere Naturkunde, für Erweiterung unserer Einsichten in ihre Oekonomie im Großen wird dadurch doch nur wenig gewonnen.
Wie unendlich lehrreicher würde die künstliche Erzeugung eines organischen, oder gar lebendigen Körpers sein. Der Schöpfer einer Milbe, des verächtlichsten aller Thiere, würde weit über dem stehen, dem es gelänge, den ganzen Aetna in reines Gold zu verwandeln.
Wenn wir es erst so weit gebracht hätten, den geringsten Pflanzenkeim, ein einziges keimfähiges Weizenkorn, durch Kunst hervorzubringen, dann erst könnten wir von Elementen und Urstoffen, von deren Kenntniß und Gebrauch reden, und uns eines Blicks hinter den geheimnißvollen Schleier der Werkstätte der Natur rühmen.
In Vogeleiern erwecken wir durch künstliche Wärme den schlafenden Keim des Lebens. Aber – ein Ei zu schaffen, das befruchtbar ist; Thiere oder wol gar den Menschen selbst auf mechanischem und chemischem Wege hervorzubringen; das wären Aufgaben, des so hoffärtigen Menschen würdig. Warum jagt man der Goldmacherei so nach? Hier ist ein erhabeneres Ziel, auch abgesehen von der Bereicherung der Naturkunde. Die Weltherrschaft wäre dem gesichert, der Menschen wie Besenstiele schnitzen, und ihren Schädeln nach der Gall’schen Theorie eminente Diebs- und Rauf-Organe imprimiren könnte!
Wozu noch unsre ärmlichen sich einander jagenden physischen und medicinischen Theorien, phlogistische und antiphlogistische, Hufelandsche und Brownsche Wasser- und Branntweinsysteme?
Sucht erst die Elemente des organischen und unorganischen Lebens kennen zu lernen, und die Art der Zusammensetzung zum Leben; und <567:> glaubt nicht, durch leere physische und hyperphysische, sinnige und unsinnige Träume schon aufs reine zu sein. Vermögt ihr wol vom Regen, Hagel, Thau und andern täglichen Erscheinungen eine andere Erklärung zu geben, als: es regnet, weil – es regnet! und kommen alle eure schwerfälligen, grundgelehrten, superfeinen Deduktionen am Ende auf etwas anderes heraus? Die Sternschnuppen, sagt ihr, sind wäßrige und feurige Dünste. Laßt doch einmal nur einen solchen Sternschnuppen herabfallen vom Firmament, mit allen eurem physicalischen und mechanischen Apparat, mit dem ihr die Erde aus den Angeln rücken würdet, wenn sich nur ein fester Stützpunkt fände: oder – sagt nur einmahl voraus, wann ein solcher Sternschnuppen, oder nur ein Tropfen Regen herabfallen wird!
Ihr rühmt euch eurer naturhistorischen Kenntnisse der Tausende und aber Tausende von Thieren und Vögeln, von Insekten und Würmern. Ihr kennt viele Fische und andere Bewohner des Wassers. Aber wie mit den Bewohnern der inneren Erde?
Glaubt ihr denn, diese ungeheure, 1200 Meilen dicke, Kugel sei unbewohnt und ohne Leben in ihrem Innern? Grabt doch einmahl mit allen euren Maschinen ein Loch durch die Erde bis zu den Gegenfüßlern, belauscht da die Natur in ihrer verborgensten Zeugungswerkstätte, und dann sprecht weiter!
Ihr redet zuviel von Feuer und Phlogiston, Elementarfeuer und Feuerluft. Fangt doch einmahl die sichtbare Flamme, und schließt sie in unveränderter Gestalt wie die Luft und das Wasser in eure Gefäße ein. Schaffet die Thiere, von denen eure Naturgeschichten sprechen, und setzt – die Urelemente des Lebens kennend – deren tausend neue Arten zusammen, die ihr jetzt nur durch eure ungeregelte Phantasie erschafft, und auf Leinwand oder in Marmor darstellt. Sattelt eure Hyppogriphen zur luftigen Reuterei, und richtet den Vogel Rab so ab, daß er euch von den Polen her zuträgt, wornach euch gelüstet! Was sind die Egyptischen Pyramiden und alle Wunder der Welt, gegen ein Loch durch die Erde, oder durch einen Bau nur von der Höhe des Tschimborasso? – Ihr wißt recht gut zu sagen, auch zu berechnen, warum ein solches Loch und ein solches Gebäude nicht möglich sind. Ihr müßt aber immer dazu setzen: mit unserem jetzigen Maaße von Kenntniß und Erfahrung, und mit unseren jetzigen Einsichten in den Haushalt der Natur. Ihr sagt z. B. so ein Gebäude bis zum Anfang der Frostzone aufzuführen, würde wol möglich sein; aber höher nicht. Die Arbeiter würden erstarren, die Bindungsmittel gefrieren u. s. w. Eben solche Hindernisse zu besiegen, übet euren Scharfsinn.
Zum Ausgraben des Loches würden wir bald auf Wasser stoßen. <568:> Das ist gewiß. Aber eben die Ueberwältigung des Wassers ist das Problem. Wenn es auch nie gelingen sollte, würde es vielleicht die Mechanik und Hydraulik mit den schätzbarsten Erfindungen bereichern. Also die Frostzone, nicht 1/1200tel Dicke unseres Planeten, wäre die Gränze unseres Emporsteigens zum Firmament, wenn auch die mechanischen Hindernisse glücklich besiegt würden? – Der Mensch kann im Wasser nicht leben. In der Taucherglocke kann er es. Er kann auf die Dauer nicht über dem Wasser bleiben. In der Korkweste kann er es. Also – macht daß er in der feinen und kalten Luft da oben dauern könne, oder – macht diese Luft dichter und wärmer!
Wir essen und trinken täglich die mannigfachsten Dinge. Aber wissen wir wol, wie jede Gattung Speise und Trank auf uns wirkt?
Wir sehen, daß Milch durch Zuthun einer Säure gerinnt. Wir schließen daraus, daß dieses auch im Magen der Fall sein müsse, wenn wir auf Milch Säuren zu uns nehmen, und daß die Verdauung dadurch zum Nachtheil unserer Gesundheit unterbrochen werden würde.
Wir bedenken nicht, daß der Magen und die innere Organisation der Verdauung dazu kömmt, und ganz andere Erfolge hervorbringt als wir im Destillir-Kolben sehen. Und doch sind unsre mehrsten diätetischen Regeln von einer hypothesiellen Analogie dieser äußeren chemischen zur inneren Gährung abgezogen, und unsre mehrsten Arzneimittel hierauf gegründet. Wir schließen: Chinarinde hat den Cajus und Mevius vom Fieber geheilt; also heilt sie jedermann. Wir vergessen dabei, daß jeder Mensch eine Welt ist, seine eigenthümliche Welt in seinem Innern trägt, und selbst im organischen Baue von jedem andern abweicht.
Erst wenn wir die Urelemente aller Körper rein darstellen und beliebig zusammensetzen können, sind wir um einen Schritt weiter.
Wir wissen seit Jahrtausenden, daß Wasser die Salze auflöst. Wie geschieht diese Auflösung? Warum lös’t sich Blei nicht im Wasser auf? Ist chemische Auflösung von einer mechanischen Trennung der Theile so wesentlich verschieden? und wirkt nicht auch bei jener nichts, als eine feinere Reibung?
So sehr der Mensch hier in seinem Wissen und in der Kunst zu schaffen noch zurück ist, so weit hat er es in der Kunst zu zerstören gebracht; vielleicht bis zum Höchsten.
Der äthiopische Kürbiß-Baum (Adansonische Baum, Calebay-Baum), dessen Stamm kaum 12 Fuß hoch wird, dagegen bis 37 Fuß im Durchmesser erhält, soll, nach Adansons Berechnung, um einen Stamm von 30 Fuß im Durchmesser zu erhalten, 5150 Jahre nöthig haben. Eine solche Frucht von 5000 Jahren zerstört der Mensch in 5 Minuten! Die <569:> Egyptischen Pyramiden, die schon mehrere tausend Jahre den Elementen trotzten, sprengt er vielleicht in einem einzigen Tage in die Luft!
Schaffen und Erhalten ist der Gegensatz von Zerstören. Und doch ist beides sehr nahe mit dem Zerstören verwandt. Denn oft ist Erhaltung nur durch Zerstörung möglich, so wie oft Leben nur aus dem Tode hervorgeht.
So müssen wir, um Obst, Gemüse, Feldfrüchte zu haben, Miriaden von Raupen, Schmetterlingen, Heuschrecken zerstören. Wir tödten den Holzwurm, um unsre Meubles zu retten, die Motte, um unsre Kleider zu erhalten. Wir tödten den Wolf, der in unsern Schaafstall bricht, ja selbst zuweilen unsers Gleichen, um Haus und Hof und unser Allerheiligstes zu retten. –

Wir haben zwar ein Schriftstück des minderen Stilranges vor uns, das, weil zu rascher Veröffentlichung bestimmt, nur stückweise und ungleichmäßig zugerichtet ist: wie denn das Erhalten allzu kurz abgethan wird. Nichts desto weniger gewahren wir überall den Geist Heinrich’s von Kleist. Einzelnes, wie das über die Wirkung der Säuren, erinnert an seine chemischen Studien in Paris (an seine Braut S. 203). Seinen Freund Brokes stattet er (ebenda S. 152) enthusiastisch mit den Eigenschaften aus, die ihm seinen Gedanken über „Wissen“ und „Schaffen“ zufolge als die höchsten erscheinen. Damals, im Februar 1811, bemächtigte sich der Menschen bereits das Gefühl, daß ein Vorstoß Napoleon’s gegen Osten erfolgen werde, der neue Opfer erfordere. Auf Napoleon und seinen Menschenverbrauch zielt der grimmige Satz Kleist’s, daß die Weltherrschaft dem gesichert wäre, der Menschen wie Besenstiele schnitzen, und ihren Schädeln nach der Gall’schen Theorie eminente Diebs- und Rauf-Organe imprimiren könnte. Am Schlusse des Ganzen, wo wir gegen das Zerstören weitere Bemerkungen erwarten würden, springt Kleist paradox zur Forderung des Zerstörens um; denn oft sei Erhaltung nur durch Zerstörung möglich, so wie oft Leben nur aus dem Tode hervorgehe; wie es einst im Phöbus gestanden hatte, poetischer und <570:> in anderem Zusammenhange: „aus der Verwesung Reiche locket er gern Blumen der Schönheit hervor“. Noch ahnen wir kaum, wo Kleist hinaus will. Immer dichter aber führt er uns an den entscheidenden Satz, den er aussprechen will, heran. Der Dichter der Herrmannschlacht, der (5, 22) dem fremden Tyrannenknechte Varus entgegenherrscht:
Steh, Wolf vom Tiberstrande,
Hier sind die Jäger, die dich fällen –
der im Kriegslied der Deutschen mit grausigem Humor den Franzmann wie ein jagdbares Wild zu hetzen räth:
Auf den Wolf, soviel ich weiß,
Ist ein Preis gesetzet;
Wo er immer hungerheiß
Naht, wird er gehetzet –
der Germania an ihre Kinder den Befehl der Rache richten läßt:
Eine Lustjagd, wie wenn Schützen
Auf die Spur dem Wolfe sitzen!
Schlagt ihn todt! Das Weltgericht
Fragt euch nach den Gründen nicht –

der unverzagte, liebeglühende, haßerfüllte Kleist ist es noch immer, der jetzt, wo Napoleon neu sich regt, mit dem Köcher der Rede unter die Seinigen tritt und mit unerhörter Kühnheit seine Pfeile auf die Feinde sendet:
Wir tödten den Holzwurm, um unsre Meubles zu retten, die Motte, um unsre Kleider zu erhalten. Wir tödten den Wolf, der in unseren Schaafstall bricht, ja selbst zuweilen unsers Gleichen, um Haus und Hof und unser Allerheiligstes zu retten.
Wir empfinden den Schwung und den Rhythmus dieser Sätze. Wenig fehlt, so wäre ein Gedicht entstanden. Wer besaß damals in Berlin den Muth, öffentlich eine solche Sprache zu führen und mit seiner Existenz für das Allerheiligste einzustehen?

\*\ Zweimal, in Nr. 35 und 36, steht fehlerhaft „Zerstreuen“, anstatt „Zerstören“, in der Ueberschrift: erst in Nr. 37 wird der Fehler beseitigt.

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Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
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