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                   Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe 
                    (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 557-565 
                     
                    9. Aeronautik. 
                     
                      
                    Ich fasse unter dieser Ueberschrift diejenigen Berichte und 
                    Aufsätze der Abendblätter zusammen, die sich mit dem Problem 
                    <558:> der Luftschiffahrt beschäftigen. Drei davon sind 
                    bereits in Kleists Schriften aufgenommen. Mir kommt 
                    es darauf an, die Vorgänge und Zusammenhänge darzulegen, durch 
                    die Kleists Artikel hervorgerufen wurden. 
                     Wir 
                    treten damit in die Betrachtung der naturwissenschaftlichen 
                    Bestrebungen ein, die in den Abendblättern vorliegen. Es ist 
                    wunderbar zu beobachten, wie innerhalb eines Jahrhunderts 
                    bei uns die Gebildeten ihr Verhältniß zu den Naturwissenschaften 
                    geändert haben. Heute sind Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft 
                    getrennte Bezirke, in denen Niemand mehr zugleich zu wohnen 
                    pflegt. Am Anfang des 19. Jahrhunderts war das noch anders. 
                    Die damalige Jugend sah mit eigenen Augen, daß Goethe nicht 
                    blos als Dichter, sondern auch als Erforscher der Natur immer 
                    neue Werke lieferte. Wie er, studirten die jüngeren Talente 
                    die Naturwissenschaft. Der Galvanismus hielt die Geister damals 
                    in seinem Banne. Der Moment, in welchem Elektricität und chemischer 
                    Proceß in einer höheren Einheit sich wechselseitig zu erklären 
                    schienen, trat eben als ein neues Problem mit ungeheuren Aussichten 
                    für die Zukunft hervor. Es wurden überall höhere Zusammenhänge 
                    zwischen Natur und Geist geahnt. Die Naturphilosophie kam 
                    empor und gewann Anhänger. Sie wurde die philosophische Ueberzeugung 
                    derer, die sich aus der rationalistischen Weltauffassung herausarbeiteten. 
                    So empfanden Heinrich von Kleist und seine Freunde. In diesem 
                    Sinne suchten die Berliner Abendblätter ihren Einfluß geltend 
                    zu machen und naturwissenschaftliche Anschauungen unter das 
                    Publicum zu bringen. 
                     Eine 
                    der wichtigsten Erfindungen damals war die des elektrischen 
                    Telegraphen durch Sömmerring in München. Die Abendblätter 
                    nahmen Notiz davon. Aber was darüber vorgebracht wurde, hatte 
                    so sehr die politische Farbe angenommen, <559:> daß 
                    es in Kleists politische Kämpfe (oben S. 68) eingeordnet 
                    werden mußte. Rein wissenschaftlich behandelte Kleist von 
                    seinem Standpunkte aus nur die Aeronautik; da er jedoch 
                    von einem Berliner Localereignisse ausging, wurde er in eine 
                    Fehde verwickelt, in der die neue und die alte Berliner Richtung 
                    auf einander stießen. 
                     In 
                    den Zeitungen damaliger Zeit trifft man auf ungezählte Berichte 
                    über Luftfahrten und Versuche mit dem lenkbaren Luftballon. 
                    Berühmte Luftschiffer waren die Garnerin in Paris, Degen in 
                    Wien, Reichard in Berlin. Das Publicum strömte, wo ein Aufstieg 
                    Statt finden sollte, wie zu einer Volksbelustigung zusammen. 
                    Nur wenige Männer verfolgten die Versuche mit wissenschaftlichem 
                    Ernste, um das Problem der Lenkbarkeit des Luftballs  
                    so sagte man damals meistens  zu lösen. Zu diesen 
                    Wenigen gehörte in Berlin der Professor Jungius vom Königl. 
                    Friedrich-Wilhelms-Gymnasium. 
                     Jungius 
                    war Mitglied der Gesellschaft naturforschender Freunde, 
                    die sich aus vornehmen Beamten, naturwissenschaftlichen Gelehrten 
                    und angesehenen Bürgern Berlins zusammensetzte. Ich nenne 
                    Minister von Altenstein und Gruners Amtsnachfolger von 
                    Schlechtendahl, die Professoren der Universität Hermbstädt, 
                    Klaproth, Weiß. Die Gesellschaft gab ein splendid gedrucktes 
                    Magazin für die neuesten Entdeckungen in der gesammten 
                    Naturkunde heraus. In diesem Rahmen erhielten Jungius 
                    Bemühungen leicht den Anschein größerer Bedeutung und Wichtigkeit, 
                    als ihnen sonst wohl zugekommen wäre. Er hat sich nach eigenen 
                    Ideen einen Luftball bauen lassen, mit dem er in die Lüfte 
                    stieg, und besaß am Wachstuchfabrikanten Claudius auf der 
                    Prenzlauerstraße einen Mann, der Wind, Luft und Wolken lange 
                    beobachtet hatte, an die Lenkmöglichkeit der Luftbälle glaubte 
                    und jeden Augenblick bereit war, seine und Jungius Theorieen 
                    durch die That zu erproben. <560:> 
                     Der 
                    Geburtstag des Kronprinzen, der 15. October 1810, stand 
                    bevor. Unter dem 9. October zeigte Claudius in der Spenerschen 
                    Zeitung dem Berliner Publicum an, daß er zur Feier dieses 
                    Tages, mit Allerhöchster Genehmigung Sr. Majestät des 
                    Königs, mit dem dem Professor Jungius gehörigen Ballon eine 
                    Luftreise machen wolle. Er werde vor dem Aufstieg bestimmen, 
                    wieviel Meilen sein Luftball in einer Stunde zurücklege, und 
                    werde mit einer eigens von ihm erfundenen Maschine dem Winde 
                    links das Laviren abzugewinnen suchen. Dies doppelte Versprechen 
                    hielt sich innerhalb der wissenschaftlichen Bemühungen des 
                    Professors Jungius. Damit aber auch das Publicum für sein 
                    Eintrittsgeld einen rechten Spaß habe, sollte des Herrn Claudius 
                    elfjährige Tochter sich vierzig bis fünfzig Fuß hoch erheben, 
                    einen Prolog, der Feier des Tages angemessen, sprechen und 
                    in der Gondel ein Solo tanzen. 
                     Das 
                    Publicum strömte des Morgens zum Königsthor hinaus dem Schützenplatze 
                    zu, wo die Füllung des Luftballes und der Aufstieg vor sich 
                    gehen sollte. Auch Heinrich von Kleist blieb aus sachlichem 
                    Interesse und als Berichterstatter seiner Abendblätter nicht 
                    zurück. Von 10 Uhr Morgens ist sein erster 
                    Bericht über die Tagesneuigkeit niedergeschrieben und so zeitig 
                    in die Druckerei gegeben worden, daß er noch im nämlichen 
                    Abendblatt erscheinen konnte. Kleist äußert sich nur über 
                    den sachlichen Werth des Versuches und ohne ein Wort über 
                    den sensationellen Nebenspaß zu verlieren. 
                     Dieser 
                    Bericht Heinrichs von Kleist theilte sachgemäß mit, daß und 
                    unter welchen Umständen Herr Claudius in einer Stunde, um 
                    11 Uhr, mit dem Ballon des Prof. J(ungius) 
                    in die Luft gehen werde. Der Mann interessirte Kleist. 
                    Er erzählt von Claudius: Einen Gelehrten, mit dem er 
                    sich kürzlich in Gesellschaft befand, soll er gefragt haben: 
                    ob er ihm wohl sagen könne, in wieviel Zeit eine Wolke, <561:> 
                    die eben an dem Horizont heraufzog, im Zenith der Stadt sein 
                    würde? Auf die Antwort des Gelehrten: daß seine Kenntniß 
                    so weit nicht reiche, soll er eine Uhr auf den Tisch 
                    gelegt haben, und die Wolke genau, in der von ihm bestimmten 
                    Zeit, im Zenith der Stadt gewesen sein. Und weiter: 
                    Auch soll derselbe, bei der letzten Luftfahrt des Prof. 
                    J(ungius) im Voraus nach Werneuchen gefahren, und die Leute 
                    daselbst versammelt haben: indem er aus seiner Kenntniß der 
                    Atmosphäre mit Gewißheit folgerte, daß der Ballon diese Richtung 
                    nehmen, und der Prof. J(ungius) in der Gegend dieser Stadt 
                    niederkommen müsse. Diesen scheinbar so schlichten Erzählungen 
                    wohnt aber doch eine polemische Absicht inne. Die gesunde 
                    Erfahrung eines einfachen Mannes sollte über die theoretische 
                    Kenntniß eines unpraktischen Gelehrten gestellt werden. 
                     Aber 
                    vier Stunden später war der Aufstieg noch nicht bewerkstelligt. 
                    Von 2 Uhr Nachmittags datirt Kleists 
                    zweiter Bericht\*\. 
                    Claudius hatte, diesem zufolge, schon Zettel vertheilen lassen, 
                    er werde längs der Potsdamer Chaussee nach dem Luckenwaldschen 
                    Kreise zu gehen, und vier Meilen in einer Stunde zurücklegen. 
                    Er konnte jedoch mit der Füllung des Ballons nicht fertig 
                    werden, und es verbreitete sich das Gerücht, daß er vor 4 Uhr 
                    nicht in die Luft gehen würde. Am nächsten Tage aber meldete 
                    ein Extrablatt von Kleist sehr launig, daß der Versuch überhaupt 
                    nicht gelungen sei. Selbst der erfahrene und muthige Luftschiffahrer 
                    Reichard habe nichts ausrichten können. Schließlich sei der 
                    Ballon ohne Schiffahrer in das Reich der Lüfte empor gelassen 
                    worden; ob man ihn wieder finden werde, stehe dahin. Dies 
                    Extra- <562:> blatt machte solch Aufsehen, daß es wörtlich, 
                    z. B. im Freimüthigen (S. 844) nachgedruckt wurde. 
                     Kleist 
                    betrachtete das Problem der Lenkbarkeit des Luftschiffes. 
                    Schon im allerersten Bericht drückte er sein Befremden über 
                    Claudius Lenkversuche aus, da die Kunst, den Ballon 
                    auf ganz leichte und naturgemäße Weise ohne alle Maschinerie 
                    zu bewegen, schon erfunden sei: Denn da in der Luft 
                    alle nur möglichen Strömungen (Winde) übereinander liegen: 
                    so braucht der Aeronaut nur vermittelst perpendikularer Bewegungen 
                    den Luftstrom aufzusuchen, der ihn nach seinem Ziel führt: 
                    ein Versuch, der bereits mit vollkommenen Glück, in Paris, 
                    von Herrn Garnerin, angestellt worden ist. Und diese 
                    Behauptungen erläuterte und erweiterte Kleist in seinem Extrablatte, 
                    indem er Garnerins Grundanschauungen darlegte und dessen 
                    der Vorherbestimmung gemäß verlaufene Luftfahrt von Paris 
                    nach Cöln als Beweis anführte. Der Versuch habe genügt, um 
                    darzuthun, daß man, bei Direction des Luftballons, schlechthin 
                    keiner Maschinen bedürfe. Auch diese Polemik richtete sich, 
                    über Claudius hinaus, wieder gegen Jungius und seine Theorie. 
                     Für 
                    Jungius war die Angelegenheit verdrießlich. Ihn ärgerten Kleists 
                    kritische Anzweifelungen. Er veröffentlichte daher, mit seiner 
                    Namensunterschrift, zwei Tage später in der Spenerschen Zeitung 
                    einen Artikel zu seiner Rechtfertigung. Er citirte weder Kleist 
                    noch die Abendblätter, aber indem er einen Satz von Kleist 
                    wörtlich hervorzog, um ihn zu widerlegen, zeigte er den Eingeweihten, 
                    an welche Adresse er sich richtete. Er betonte, die Ursach 
                    dieses Mißlingens habe nicht an dem Mangel oder der 
                    schlechten Beschaffenheit der angewandten Materialien gelegen. 
                    Schuld trage die niedrige Temperatur des Tages. Dies sei nicht 
                    seine Ansicht der Sache allein, sondern auch die des Herrn 
                    Geh. R. Hermbstädt <563:> und des Herrn 
                    Reichard, die zugegen gewesen wären. Der Gelehrte hielt es 
                    nicht für angemessen, den Namen eines Dilettanten wie Kleist 
                    auszusprechen. 
                     Aber 
                    damit nicht genug. Am 25. October trat ein neuer Widersacher 
                    gegen Kleist in der Spenerschen Zeitung auf. Diesmal unter 
                    ausdrücklichem Hinweis auf die Abendblätter. Die von Garnerin 
                    angeblich bereits erfundene Direction der Luftbälle wird sach- 
                    und fachgemäß auf die dabei in Frage kommenden Umstände hin 
                    geprüft und als verfehlt bestritten. Erst am Schlusse bricht 
                    unerwarteter Weise die bis dahin verhaltende Gereiztheit gegen 
                    Kleist hervor, der ungenannt mit einem ganzen Kübel derbster 
                    Invectiven überschüttet wird. 
                     Kleist 
                    antwortete noch einmal freundschaftlich in Nr. 25 
                    und 26 seiner Abendblätter. Mit der Ueberschrift Aeronautik 
                    zeigte er an, daß er nur das allgemeine Interesse verfolgen 
                    wolle, und die persönliche Wendung ihn nicht störe. Der unbekannte 
                    Herr Verfasser mag Kleist dennoch wohl bekannt gewesen 
                    sein. In acht Puncten trägt Kleist seine Gegengründe vor, 
                    die sich auf physikalische, chemische und mathematische Berechnungen 
                    stützten. Es ist erstaunlich, über welche Kenntnisse Kleist 
                    auf diesen Gebieten noch verfügte. Er hielt seine Auffassung 
                    des Windes, als aus einer chemischen Zersetzung oder Entwicklung 
                    beträchtlicher Luftmassen hervorgehend, nach den Aufschlüssen 
                    der neuesten Naturwissenschaft aufrecht. Man bemerke, 
                    wie hier die neueste Naturwissenschaft, der Kleist und seine 
                    Freunde anhingen, gegen die ältere Richtung Jungius 
                    ausgespielt wird. Für das Vorhandensein verschiedener Luftströme 
                    sah Kleist darin eine Bestätigung, daß der frei aufgelassene 
                    Ballon erst westlich aufstieg und dann innerhalb zweier Stunden, 
                    durchaus südlich, zu Düben in Sachsen niederkam. 
                     Dieses 
                    letztere Factum, von dem die Berliner Zeitungen <564:> 
                    wieder eifrigst Notiz nahmen, wurde in Berlin durch ein Schreiben 
                    aus Neuhof bei Düben am 16. October 1810 bekannt, 
                    das Kleist im Abendblatt vom 1. November 1810 zu veröffentlichen 
                    in der Lage war. Das Schreiben beginnt mit der Anrede Geliebter 
                    Bruder und schließt mit der Unterschrift F. Fl
r. 
                    Sicherlich, sagte ich mir, ein nicht von Kleist fingirter 
                    Brief. Ich fragte in Düben an. Ich empfing von dort nicht 
                    nur einen fast genau mit dem Schreiben aus Neuhof stimmenden 
                    Bericht über den Niedergang des Luftballons, wie ihn alte 
                    Leute noch vom Hörensagen zu erzählen wissen, sondern 
                    außerdem einen Auszug aus dem Taufregister des Kirchenbuches, 
                    das über die damals Neuhof besitzende Familie Aufschluß giebt\*\. 
                     Danach 
                    war 1810 Friedrich Flitner Besitzer des Gutes. Er also ist  
                    womit die Unterschrift in den Abendblättern stimmt  
                    der Schreiber des von Kleist veröffentlichten Briefes. Die 
                    Personalien des in Berlin ansässigen Bruders ergeben sich, 
                    da eins seiner Kinder 1808 auf Neuhof getauft wurde, gleichfalls 
                    aus dem Dübener Kirchenbuche. Schon daß die Königin Luise, 
                    mit Stellvertretung, der Leibarzt Hufeland und andre Berliner 
                    Persönlichkeiten als Taufpathen eingetragen sind, läßt auf 
                    einen angesehenen Mann der Berliner Gesellschaft als den Taufvater 
                    schließen. Dieser war, nach dem Kirchenbuche, Dr. Christian 
                    Gottfried Flitner, Königlich Preußischer Medicinal-Assessor 
                    und Inhaber der Apotheke zum König Salomo, jener altrenommierten 
                    Apotheke, die noch heute hinter dem Schauspielhause in der 
                    Charlottenstraße existirt. An Dr. Flitner also war 
                    der Brief gerichtet. Kleist muß mit ihm bekannt genug gewesen 
                    sein, um das Schreiben für seine <565:> Abendblätter 
                    zum Abdruck zu erhalten. Man ersieht daraus, wieviel die Abendblätter 
                    in höheren Kreisen trotz, oder vielleicht wegen, ihrer Regierungsopposition 
                    galten. Und so sind durch die Luftschiffahrt-Artikel für Kleist 
                    auch neue Zusammenhänge mit hervorragenden Männern wieder 
                    gewonnen worden. 
                     
                    \*\ Mittelbar folgt 
                    aus den Angaben, daß die Einweihungsfeier der Universität 
                    an diesem Tage nicht Statt fand, weil sich sonst Heinrich 
                    von Kleist mit seinen Freunden daran betheiligt haben würde. 
                    \*\ Durch Vermittelung 
                    des Magistrats in Düben verdanke ich die Auskunft dem die 
                    Secretariatsgeschäfte der Kirche versehenden Hrn. Marbitz. 
                     
                     
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