Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe
(Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 545-549
4. Der neuere (glücklichere)
Werther.
Auch Kleists dritte Erzählung des zweiten Theiles, der
Findling, hat in den Abendblättern seine Wurzel, die es blos
zu legen gilt. Hier, in Nr. 5 vom 7. Januar 1811,
treffen wir den anonymen Aufsatz Der neuere (glücklichere)
Werther an, der bereits in Kleists Schriften aufgenommen
worden <546:> ist\*\.
Ein Kaufmannsdiener liebt die junge Frau seines reichen, schon
bejahrten Principals, legt sich in Abwesenheit des Ehepaares
in das Bett der Frau, schießt sich, von den unerwartet zurückkehrenden
Eheleuten überrascht, eine Kugel in die Brust, die ihm nur
eine fünftägige Bewußtlosigkeit, dem alten Herrn aber den
Tod durch Schlagfluß einträgt, und heirathet ganz vergnügt
die Wittwe. Für Kleists Autorschaft führe ich zwei Bemerkungen
an. Der ertappte Kaufmannsdiener schleicht, seines
Lebens müde, in sein Zimmer: dieselbe Motivirung
wie im Bettelweib, wo der Markese das Schloß
,
müde seines Lebens, ansteckt\**\.
Wenn Kleist Personen, die er nicht mehr braucht, los werden
will, so verordnet er ihnen als poetisches Mittel einen Schlagfluß,
der auf der Stelle hilft: so ist im Michael Kohlhaas der
alte Herr am Schlagfluß gestorben, im Zweikampf rührte
augenblicklich der Schlag Frau Littegardens alten Vater
und in unsrem anonymen Werther-Aufsatze zieht der Schuß
dem alten Herrn den Schlagfluß zu. In der Gestalt, wie
der anonyme Aufsatz vorliegt, kann er nur von Kleist niedergeschrieben
sein. Es ist zwar kein Glanzstück Kleistischer Diction, aber
guter Humor läßt sich nicht verkennen. <547:>
Kleist verlegt die Geschichte nach Frankreich in das
Jahr 1801 und beruft sich auf einen Bekannten, der sie ihm
erzählte. Er deutet auch, um den Personen den Schein wirklicher
Existenz zu verleihen, ihre Namen durch Anfangsbuchstaben
an. Ob diese Angaben Wahres enthalten oder nicht, bleibe dahingestellt.
Vielleicht sind sie nur als Verkleidungen zu beurtheilen,
wie sie Heinrich von Kleist geläufig waren. Sie dürfen jedenfalls
für uns kein Hinderniß werden, zu erkennen, daß die humoristische
Geschichte im Zusammenhang mit einem Aufsehen erregenden Berliner
Localereigniß entstanden ist. Im December 1810 trug sich in
Berlin der folgende Vorfall zu, den ich nach dem Nürnberger
Korrespondenten Nr. 19, vom 19. Januar 1811, citire\*\:
Ein junger Kaufmannsdiener hatte eine Liebschaft mit
einer verheiratheten Frau; sie gab ihm einst des Abends ein
Rendezvous bei sich, wo sie die Zurückkunft ihres Mannes nicht
so früh vermuthet hatte, als sie wirklich erfolgte. Der junge
Mann, aus Furcht, und aus Besorgniß, seine Geliebte zu kompromittiren,
faßte den unüberlegten Entschluß, aus dem zweiten Stockwerk
zum Fenster hinaus zu springen; er fiel auf ein, vor dem Hause,
mit Spitzen versehenes eisernes Gitter, und beschädigte sich
so, daß er
schon am folgenden Morgen an seinen
Wunden starb.
Der tragische Vorfall, aus bedenklichem Anlaß, wurde
in Berlin besprochen; der Berliner Witz hält nicht zurück;
und so mag, als humoristisches Seitenstück, Kleists
Niederschrift über den glücklicheren Kaufmannsdiener, der
nicht zu Tode kam, entstanden sein.
Was aber in die Abendblätter paßte, gehörte deswegen
noch nicht in Kleists zweiten Theil der Erzählungen.
Kleist ersann und dichtete vielmehr wieder eine ganz neue
Novelle: den Findling. Die Handlung spielt sich gleichfalls
in der Kauf- <548:> mannssphäre ab: nur in der aristokratisch-vornehmeren
Schicht des italienischen Kaufherrnstandes. Ein alter Kaufherr
hat eine schöne junge Frau. Der als Findling in das Haus gekommene
Pflegesohn Nicolo, der in der Handlung thätig ist, ersieht
die ahnungslose Frau seinem schändlichen Gelüste zum Opfer.
In Ehe und Besitz vernichtet, drückt der alte Kaufherr dem
ruchlos undankbaren Findling das Gehirn an der Wand ein, und
seiner Seelen Seligkeit verschmähend will er in den untersten
Grund der Hölle verdammt sein, nur um dort das Geschäft der
Rache zu vollenden. Die Art, wie Nicolo zu der jungen Frau
entbrennt, wie er sich in Abwesenheit des Hausherrn in ihr
Schlafgemach einschleicht, wie er von dem unerwartet heimkehrenden
Hausherrn aber gefaßt wird, scheint eine Verwendung der Berliner
Werther-Geschichte zu sein.
Der Findling weist sich erst als kurz
vor dem Herrichten des zweiten Theiles der Erzählungen, 1811,
gearbeitet aus. Ich wies vorhin auf das Verhältniß zur Neuen
heiligen Cäcilie hin. Eine formale und eine sachliche Beobachtung
trete hinzu. Im Bettelweib, beider Gestalten, erschrickt
die Marquise, wie sie in ihrem Leben nicht gethan
im Findling erstaunt Nicolo, wie er noch in seinem Leben
nicht gethan! Erinnern wir uns der Anekdote vom Griffel
Gottes (oben S. 355), die kurz vor dem Bettelweib erschien:
Der in das Denkmal einschlagende Blitz läßt eine Anzahl von
Buchstaben übrig, die zusammengelesen sie ist gerichtet
lauteten. Im Findling sind von einer Schachtel Buchstaben
nur sechs noch vorhanden, die einst, beim Spiel des Knaben,
den Namen Nicolo bildeten: aus denen aber auch
die, an ihrer Stelle als Novellenmotiv frappirende, Verbindung
Colino hergestellt werden kann. Ich meine, daß
diese Dinge den Schluß, den ich ziehe, gestatten: die Abfassung
des Findlings liege <549:> hinter dem Griffel
und dem Bettelweibe von Locarno. Die Mitte der Erzählung vom
Findling machen Motive der neuen Werther-Geschichte
aus. als Schluß fügt Kleist die Rache des alten Kaufherrn
an; als Einleitung, wie derselbe in den Besitz des Findlings
und seiner jugendschönen Gemahlin kam. Der tragische Charakter
der neuen Novelle schloß natürlich jede humoristische Färbung
aus. Man darf sagen, daß Kleists Findling
ein Stück Berliner Localgeschichte in sich berge.
\*\ Unmittelbar
voran steht der Mord aus Liebe. Es ist bereits
gefunden worden (von Minde-Pouet), daß dieser Mord aus
Liebe vorher wörtlich in der Zeitung für die elegante
Welt, 18. 12. 1810, erschienen war. Ich finde das
Stück auch im Nürnberger Korrespondenten, 29. 12. 1810,
wieder. Der Stil ist unkleistisch. Die Einleitung daß
ein Paar Liebende sich gegenseitig aus Verzweiflung in einem
Augenblicke getödtet hätten, wozu ein ganz gleicher
Londoner Vorfall, nach dem Journal Encyclopédique
von 1770 trete, deutet auf den Selbstmord zweier Liebenden
im Gehölz von Gilly hin, über den im Herbst 1810 das Journal
de la Côte dor, und nach ihm die deutschen Blätter
(z. B. Korrespondent 1810 S. 1194, Abendblätter
1810 S. 154 &c.), berichteten.
\**\ Der Hamb.
Stadtsoldat ist auch seines Lebens müde (o. S. 353).
\*\ Ich bemerke,
daß Berliner Nachrichten, wenn sie nicht äußerst dringlich
waren, etwa nach drei Wochen in Nürnberg erschienen.
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