Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe
(Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 549f.
5. Sonderbare Geschichte, die
sich, zu meiner Zeit, in Italien zutrug.
Die sonderbare Geschichte füllt,
bis auf zwei Zeitungsnotizen, das ganze zweite Abendblatt
vom 3. Januar 1811, ist mz wie das Bettelweib
unterzeichnet und bereits in Kleists Schriften aufgenommen
worden. Frauenwitz bringt es zu Wege, daß den Folgen einer
gewaltsamen Verführung die Form legitimer Existenzbefugniß
zu Theil wird. In der auch etwas humoristischen Fassung, wie
die Geschichte vorgetragen ist, gehört sie zweifellos Heinrich
von Kleist. Man verbreitet z. B., daß den fingirten Gatten
Grafen Scharfeneck dringende Geschäfte nöthigten
nach Venedig, wo ihm ein Onkel gestorben sei und er eine
Erbschaft zu erheben habe, zurückzukehren
genau wie im Eingang der Heiligen Cäcilie, beider Fassungen,
wo Kleist, um das Zusammentreffen der vier Brüder in Aachen
zu motiviren, sagt: Sie wollten daselbst eine Erbschaft
erheben, die ihnen von Seiten eines alten, ihnen allen unbekannten
Oheims zugefallen war. Über den unsichtbaren Gemahl
erfährt man, daß der Gemahl wohlauf sei; daß
er sich
zeigen würde; daß &c.
ein Seitenstück zu der ungeheuren daß-Coordination in Kohlhasens
Brief an Nagelschmidt. Und <550:> schließlich, damit
Graf Scharfeneck nicht mehr zu erscheinen brauche, hat nach
dem bekannten Recepte Kleists ihn der Schlag auf der
Stelle gerührt. Gleichwohl ist die Diction im ganzen
minderen Ranges, als in Kleists großen Erzählungen.
Der
Dichter verlegt also die Handlung in das Jahr 1788, in eine
Zeit also, mit der die Angabe der Ueberschrift, daß er damals
in Italien gewesen sei, im schärfsten Widerspruche steht.
Es macht den Eindruck, als habe er sich den Lesern der Abendblätter
möglichst als Autor verdecken wollen. Warum? Ich glaube, im
Hinblick auf die Vielen aus dem Phöbus oder dem ersten Theil
der Erzählungen bekannte Marquise von O. Denn
die Berührungspuncte zwischen der Sonderbaren Geschichte
und der Marquise von O. fallen Jedem in die Augen.
Auch hier sind gewaltsame Entehrung einer unschuldigen vornehmen
Frau und ihre Anstrengung, dem sich regenden Kinde im voraus
die Rechte ehelicher Geburt zu schaffen, die beiden Triebfedern
der Handlung. Das gerade, worin der Unterschied gegen die
Sonderbare Geschichte sichtbar wird, verbürgt
mir wieder die mehrfach bei Kleist beobachtete Umwerthung
der für einen kunstreichen Aufbau als zu einfach befundenen
ursprünglichen Motive. Es sind zur Erforschung der Quelle
der Marquise von O. sehr beachtenswerthe Wege
ausgekundet worden, die Kleist eingeschlagen haben könnte:
indessen glaube ich, daß wir in der Sonderbaren Geschichte
die erste noch schmucklose Gestaltung des Kleist verlockenden
Stoffes vor uns haben. Hier wie dort ist der Schauplatz, nach
seinen eigenen Worten, aus dem Norden in den Süden verlegt.
Wahrscheinlich hat Kleist die Sonderbare Geschichte
seinen älteren Beständen entnommen und für das Erscheinen
in den Abendblättern leicht zurechtgemacht.
|