Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe
(Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 530-536
2. Die heilige Cäcilie oder
die Gewalt der Musik.
Diese Erzählung, die Kleist
zusätzlich als eine Legende bezeichnete, steht gleichfalls
in den Abendblättern, wie schon (von Erich Schmidt in der
Vierteljahrschrift 1890) gegen Zolling bemerkt worden ist,
und im zweiten Theile der Erzählungen; dort geht
sie durch die drei Nummern 40, 41, 42, vom 15. bis 17. November
1810, hindurch. Sie spielt zu Aachen um das Ende des sechszehnten
Jahrhunderts, als die Bilder- <531:> stürmerei in den
benachbarten Niederlanden wüthete. Das Kloster der heiligen
Cäcilie soll gestürmt werden. Da vollbringt die Heilige selbst,
unerkannt in der Gestalt der Schwester Kapellmeisterin, schreckliche
und herrliche Wunder zugleich. Die geheimnißvolle Macht der
alten Musik, die sie an die Spitze des Nonnenchors tretend
aufführt, bändigt die wilde Rotte. Mit schrecklichem
Wahnsinn aber schlägt die Heilige die Anstifter des Frevels,
vier gottverdammte Brüder. Das Kloster ist gerettet, und
schließt Kleist bestand noch bis am Schluß
des dreißigjährigen Krieges, wo man es, vermöge eines Artikels
im westphälischen Frieden, gleichwohl säcularisirte.
Es ist das einzige Schriftstück Kleists in den
Abendblättern, das wie in katholisirender Tendenz geschrieben
scheint. Kleists religiöses Bedürfniß hatte Stimmungen
gehabt, die dem katholischen Gottesdienste zuneigten. Durch
den Nationalismus war der evangelische Gottesdienst verödet
worden. Nirgends, bekennt Kleist 1801 aus Dresden,
fand ich mich tiefer in meinem Innersten gerührt, als
in der katholischen Kirche, wo die größte, erhabenste Musik
noch zu den andern Künsten tritt, das Herz gewaltsam zu bewegen.
Wie selbst die Worte dieser Schilderung in der Ueberschrift
unserer so viel späteren Erzählung wieder vorscheinen (gewaltsam
Gewalt), so spricht der Dichter in ihr überhaupt
den gesammten Gehalt jener Empfindungen aus. Ein Vermerk nur,
in den Abendblättern, deutet an, woher für Kleist der Ursprung
und der Anlaß der Erzählung kam. Er bestimmte sie nämlich
zum Taufangebinde für Cäcilie M
, d. i.
für Cäcilie Müller, das am 7. November 1810 geborene
Töchterchen seines Freundes Adam Müller, dasselbe, dem auch
Arnims Epigramm auf einen glücklichen Vater
galt (oben S. 381). Die beiden Glückwünsche zur Geburt
des Kindes, Arnims wie Kleists, stehen derartig
links und rechts auf S. 154 und <532:> 155 der
Abendblätter, daß, wenn sie aufgeschlagen werden, der Blick
zugleich auf beide fällt; und wieder ist es Absicht, daß unmittelbar
darauf Fragmente von Müller selber folgen. Taufvater und Taufpathen
scheinen gleichsam hier versammelt. Muß man nicht auf den
Gedanken kommen, nach der Cäcilien-Legende, die Kleist
bearbeitete, habe Müllers Kind den Namen erhalten?
oder umgekehrt?
Aber diese freundschaftlichen Beziehungen spielten
auf dem Grunde sehr ernster öffentlicher Angelegenheiten.
In den Strauß der Hardenbergischen Finanz-Maßnahmen gehörte
die durch Edict vom 30. October 1810 bestimmte Säcularisation
aller geistlichen Güter und die Aufhebung der Klöster, vornehmlich
in Schlesien, die durch das Beispiel benachbarter (d. h.
französischer) Regierungen geboten sei. Das Edict erbitterte
nicht nur die Katholiken, sondern machte auch bei Evangelischen
böses Blut. Ich beziehe mich dafür auf zwei Zeugnisse aus
entgegengesetzten Lagern: auf das Friedrichs von Raumer
(Erinnerungen 1, 146) und das Heinrich Steffens
(Was ich erlebte 6, 268). Raumer zumal, der kleine
Staatskanzler, galt in Berlin als Gegner der Klöster
und Befürworter der neuen Maßregel. Unter diesem Gesichtspunkt
betrachtet, erhält Kleists heilige Cäcilie eine neue
Bedeutung für uns. Was gegen die Klosterstürmer gesagt ist,
hat romantische Anwendung auf Hardenberg
und seine Leute; über alle weltlichen Maßnahmen wird der Triumph
der Religion verkündigt. Also nicht eigentlich katholisirende
Tendenz, sondern politische Opposition allerfeinster und allerschärfster
Art wohnt, in den Abendblättern, der Heiligen Cäcilie inne.
In drei Absätzen, wie gesagt, erscheint sie hier:
äußerlich angesehen, je zweieinhalb, dreiviertel, und zwei
Seiten Raum einnehmend. Der erste und der zweite Absatz sind
sorgfältig durchgearbeitet; der dritte aber ist nur als Skizze
hingeworfen. <533:> Auch hier das Nöthige zu thun, fehlte
es Kleist im Drange der erregenden Verhandlungen mit der Staatskanzlei,
die Müllers Aufsatz Vom Nationalcredit hervorrief
(oben S. 74), an Ruhe, Zeit und Sammlung. Erst für die
Buchform der Erzählungen holte Kleist das Versäumte nach.
Während er in den ersten und den zweiten Absatz nur kleine,
nicht immer glückliche Correcturen eintrug, dachte und formte
er das Schlußstück von Grund aus um. Den zweieinhalb
und den dreiviertel Seiten der Abendblätter stehen
sechs und zwei Seiten der Buchgestalt der Erzählungen
gegenüber: die zwei Seiten des Schlusses aber sind
hier auf zweiundzwanzig Seiten angestiegen! Ursprünglich
lautete nämlich der in den Ausgaben fehlende Schluß:
Aber der Triumph der Religion war, wie sich nach einigen Tagen
ergab, noch weit größer. Denn der Gastwirth, bei dem diese
vier Brüder wohnten, verfügte sich, ihrer sonderbaren und
auffallenden Aufführung wegen, auf das Rathhaus, und zeigte
der Obrigkeit an, daß dieselben, dem Anschein nach, abwesenden
oder gestörten Geistes sein müßten. Die jungen Leute, sprach
er, wären nach Beendigung des Frohnleichnamsfestes, still
und niedergeschlagen, in ihre Wohnung zurückgekehrt, hätten
sich, in ihre dunkle Mäntel gehüllt, um einen Tisch niedergelassen,
nichts als Brod und Wasser zur Nahrung verlangt, und gegen
die Mitternachtsstunde, da sich schon alles zur Ruhe gelegt,
mit einer schauerlichen und grausenhaften Stimme, das gloria
in excelsis intonirt. Da er, der Gastwirth, mit Licht
hinaufgekommen, um zu sehen, was diese ungewohnte Musik veranlaße,
habe er sie noch singend alle vier aufrecht um den Tisch vorgefunden:
worauf sie, mit dem Glockenschlag Eins, geschwiegen, sich,
ohne ein Wort zu sagen, auf die Bretter des Fußbodens niedergelegt,
einige Stunden geschlafen, und mit der Sonne schon wieder
erhoben hätten, um dasselbe öde und traurige Klosterleben,
bei Wasser und Brod, anzufangen. Fünf Mitternächte hindurch,
sprach der Wirth, hätte er sie nun schon, mit einer Stimme,
daß die Fenster des Hauses erklirrten, das gloria in excelsis
absingen gehört; außer diesem Gesang, nicht ohne musikalischen
Wohlklang, aber durch sein Geschrei gräßlich, käme kein Laut
über ihre Lippen: dergestalt, daß er die Obrigkeit bitten
müsse, ihm diese Leute, in welchen ohne Zweifel der böse Geist
walten müsse, aus dem Hause zu schaffen. Der Arzt,
der von dem Magistrat in <534:> Folge dieses Berichts
befehligt ward, den Zustand der gedachten jungen Leute zu
untersuchen, und der denselben ganz so fand, wie ihn der Wirth
beschrieben hatte, konnte schlechterdings, aller Forschungen
ungeachtet, nicht erfahren, was ihnen in der Kirche, wohin
sie noch ganz mit gesunden und rüstigen Sinnen gekommen waren,
zugestoßen war. Man zog einige Bürger der Stadt, die während
der Messe, in ihrer Nähe gewesen waren, vor Gericht; allein
diese sagten aus, daß sie, zu Anfang derselben, zwar einige,
den Gottesdienst störende, Possen getrieben hätten: nachher
aber, beim Beginnen der Musik, ganz still geworden, andächtig,
Einer nach dem Andern, aufs Knie gesunken wären, und,
nach dem Beispiel der übrigen Gemeinde, zu Gott gebetet hätten.
Bald darauf starb Schwester Antonia, die Kapellmeisterinn,
an den Folgen des Nervenfiebers, an dem sie, wie schon oben
erwähnt worden, daniederlag; und als der Arzt sich, auf Befehl
des Prälaten der Stadt, ins Kloster verfügte, um die Partitur
des, am Morgen jenes merkwürdigen Tages aufgeführten Musikwerks
zu übersehen, versicherte die Aebtissinn demselben, indem
sie ihm die Partitur, unter sonderbar innerlichen Bewegungen
übergab, daß schlechterdings niemand wisse, wer eigentlich,
an der Orgel, die Messe dirigirt habe. Durch ein Zeugniß,
das vor wenig Tagen, in Gegenwart des Schloßvoigts\*\ und mehrerer andern Männer abgelegt worden, sei
erwiesen, daß die Vollendete in der Stunde, da die Musik aufgeführt
worden, ihrer Glieder gänzlich unmächtig, im Winkel ihrer
Klosterzelle danieder gelegen habe; eine Klosterschwester,
die ihr als leibliche Verwandtin zur Pflege ihres Körpers
beigeordnet gewesen, sei während des ganzen Vormittags, da
das Frohnleichnamsfest gefeiert worden, nicht von ihrer Seite
gewichen. Demnach sprach der Erzbischof von Trier,
an welchen dieser sonderbare Vorfall berichtet ward, zuerst
das Wort aus, mit welchem die Aebtissinn, aus mancherlei Gründen,
nicht laut zu werden wagte: nämlich, daß die heilige Cäcilia
selbst dieses, zu gleicher Zeit schreckliche und herrliche,
Wunder vollbracht habe. Der Pabst, mehrere Jahre darauf, bestätigte
es; und noch am Schluß des dreißigjährigen Krieges, wo das
Kloster, wie oben bemerkt, säcularisirt ward, soll, sagt die
Legende, der Tag, an welchem die heilige Cäcilia dasselbe,
durch die geheimnißvolle Gewalt der Musik rettete, gefeiert,
und ruhig und prächtig das gloria in excelsis darin
abgesungen worden sein.yz.
Und nun bitte ich, den Schluß der heiligen Cäcilie in der
Gestalt, wie er bis jetzt in den Werken Kleists erscheint,
<535:> vergleichend nachzulesen. Es besteht zwischen
den beiden Fassungen kaum noch eine Aehnlichkeit. Um sechs
Jahre versetzt die neue Fassung den Leser vorwärts. Die vier
gottverdammten Brüder gelten in ihrer Heimath für verschollen.
Die Mutter sucht endlich ihre Spuren bis Aachen auf und Schritt
für Schritt, wie in einem Untersuchungsverfahren, enthüllt
sie das schreckliche Verhängniß und den Verbleib ihrer Söhne.
Alles was Kleist zu diesem Zwecke nöthig war: die Mitwirkung
des Magistrats, ein Brief, ein Besuch im Irrenhause, die Schilderung
des Tuchhändlers Veit Gotthelf, die Unterredung der Mutter
mit der Aebtissin, ist jetzt frei und neu hinzuerfunden worden.
Hier endigt die Legende, sagt dann Kleist, um
rasch hinzuzufügen, daß die Mutter in den Schooß der katholischen
Kirche zurückkehrte, und daß die Söhne, immerfort gloria
in excelsis singend, im späten Alter eines heitern und
vergnügten Todes gestorben seien.
So hat Kleist durch seine Nacharbeit etwas ganz Neues
entstehen lassen. Der uns durch die Abendblätter verstattete
Einblick in seine Arbeitsweise verhilft uns aber zu Anschauungen,
die wir, bei dem Fehlen fast alles sonstigen Materiales, uns
nicht würden bilden können. Kleist band sich keineswegs an
Form und Inhalt seiner Quellen, er folgte in allen Stücken
nur dem eigenen Genius. Wir gewahren, wie Kleist bewußt die
Kunstform der Neuen heiligen Cäcilie auf die Höhe seiner früheren
Erzählungen bringt. Als die dem Erdbeben in Chili Entronnenen
(1810, S. 333) in die Kirche der Dominikaner eintreten, da
glühte die große von gefärbtem Glas gearbeitete Rose
in der Kirche äußerstem Hintergrunde, wie die Abendsonne selbst,
die sie erleuchtete. In der Neuen heiligen Cäcilie nehmen
die Frauen, die zum Dome hinausgegangen sind, die prächtig
funkelnde Rose im Hintergrund der Kirche wahr. Namentlich
auch zwischen dem <536:> Findling und der Neuen (nicht
der ursprünglichen) heiligen Cäcilie begegnen solche aus gleichzeitiger
Kunstbehandlung hervorgegangene Aehnlichkeiten. In diesem
Sinne sind die von Minde-Pouet (Sprache und Stil 216f.) gesammelten
Belege zu verwerthen. Trotz solcher weitestgehenden Umgestaltungen
gab Kleist die zweite, wie die erste Fassung, mit der größten
Unbefangenheit als Legende aus, wie ja der Michael
Kohlhaas einfach einer alten Chronik sollte entnommen sein.
Wie mag, was der ersten Fassung der Cäcilie vorauslag, dürftig
gewesen sein! ebenso vielleicht wie die märchenhaften Reste,
mit deren Hülfe das Bettelweib von Locarno neu geschaffen
worden ist. Ein ähnliches Licht wird auf den Zweikampf
fallen.
\*\ Zu bessern:
des Klostervoigts.
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