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                   Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe 
                    (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 521-530 
                     
                    1. Das Bettelweib von Locarno. 
                     
                      
                    Die Erzählung steht im 10. Abendblatt, vom 11. October 
                    1810, und ist mz gezeichnet. Das Bettelweib 
                    ist, wie das Käthchen, auf märchenhaftem Grunde gewachsen, 
                    und wenn wir seine Entstehung fassen wollen, so müssen wir 
                    mitten in die Märchen- und Sagen-Bemühungen Arnims, 
                    Brentanos, Grimms und Kleists eintreten. 
                     Märchen und Sage, als man auf sie zu achten begann, 
                    erfuhren, grundsätzlich, eine zwiefache Art der Behandlung. 
                    Die Einen benutzten Sage und Märchen als Stoff oder als Motiv 
                    für eigne freie Phantasiegebilde: so entstanden etwa in <522:> 
                    damaliger Zeit Ludwig Tieck, Brentano, selbst Goethe. Wohingegen 
                    Jacob unbd Wilhelm Grimm, um sie allein als Vertreter der 
                    andern Seite zu nennen, Märchen und Sage um ihrer selbst willen  
                    als litterarischen Zweck, nicht als Mittel  betrachteten, 
                    erforschten und wieder darstellten. So mußte etwas ganz Anderes 
                    aus Grimms Händen hervorgehen. Denn die Form der Darstellung, 
                    die sie fanden und im Fortschritt ihres eigenen Geschmackes 
                    weiter bildeten (wie es eine noch fehlende Textgeschichte 
                    der Grimmschen Märchen, eine höchst schwierige und feine 
                    Aufgabe, lehren würde) ging aus der Art, wie die noch jugendlichen 
                    Brüder Grimm die Frage stellten und sie beantworteten, mit 
                    innerer Nothwendigkeit hervor. Ihre Märchen und Sagen, wiewohl 
                    verschiedenster Herkunft, zeigen daher im allgemeinen die 
                    gleiche Form der Darstellung: sei es daß die Brüder mündlichen 
                    Berichten die erste litterarische Form zu geben hatten, oder 
                    daß sie aus gedruckten Vorlagen den echten Grund, wie er ihnen 
                    erschien, zurückzugewinnen suchten. 
                     Kleist nahm auch der Sage und dem Märchen gegenüber 
                    diejenige Freiheit der Behandlung für sich in Anspruch, die 
                    seinem Charakter und seinem Schaffen unerläßlich war. Man 
                    bedenke, Brentano dichtete damals seine Märchen und überspann 
                    sie, aller Wirklichkeit entrückt, mit den Fäden seiner Phantasie. 
                    In Kleist aber wohnte dicht neben seiner bis ins Mystische 
                    sich steigernden Phantasie ein sehr praktisches Wirklichkeits- 
                    und Natürlichkeits-Bedürfniß, zwei scheinbar getrennte Eigenschaften, 
                    auf deren Vereinigung aber noch heute Adel und Officiercorps 
                    in Preußen beruht. Diese merkwürdige Mischung zeigt sich in 
                    Kleists allbekannter Erzählung: das Bettelweib von Locarno. 
                    Vergegenwärtigen wir uns die entscheidenden Züge. Armuth und 
                    Reichthum, Niedrig und Hoch treten in schroffen Gegensatz 
                    zu einander, eine Bettelfrau wird im reichen <523:> 
                    Schlosse so übel behandelt, daß sie stirbt; ihr Tod bringt 
                    dem mitleidslosen Reichen Verderben. 
                     In Grimms Kinder- und Haus-Märchen, in der ersten 
                    Ausgabe von 1812, steht das Märchen von der alten Bettelfrau, 
                    die von einem Knaben aufgefordert, ins Haus zu treten und 
                    sich zu wärmen, den Flammen zu nahe kommt, so daß ihre Kleider 
                    Feuer fangen, ohne daß der Knabe, der das sieht, das Feuer 
                    löscht. Da bricht das Märchen ab, und die Brüder Grimm bemerken 
                    dazu im zweiten Bande von 1815: Ein Bruchstück und verworren 
 
                    der Schluß fehlt, vermuthlich rächt sich das Bettelweib durch 
                    eine Verwünschung, wie man mehr Sagen von eintretenden pilgernden 
                    Bettlerinnen hat, die man nicht unbestraft beleidigt. 
                    Die märchenhafte Grundähnlichkeit zwischen Kleists und 
                    Grimms Bettelweib leuchtet ein; sie wird uns im Grimmschen 
                    Sinne dadurch noch bestätigt, daß Wilhelm erst handschriftlich 
                    am Rande, dann im Druck des dritten Bandes von 1822 (S. 243) 
                    und von 1856 (S. 233) hinzugesetzt hat: siehe das 
                    Bettelweib von Locarno in Heinrich Kleists Erzählungen. 
                     Die Brüder Grimm geben als ihre Quelle Stillings 
                    Jünglingsjahre an. In diesem Buche (1778, S. 95) findet 
                    man eine überraschende Verwendung des Märchens, die zugleich 
                    seine, von Grimms zurückstilisirte, Form und das Abbrechen 
                    vor dem Schlusse erklärt. In Stilling haben sich zwei Schwestern 
                    verliebt. Die eine, Anna, geräth in einen seltsam verzückten 
                    Zustand. Ihre Gefühle und Gedanken drückt sie Stilling durch 
                    das Mittel des Volksliedes und Märchens aus. Es ergehe ihr 
                    wie der alten Bettelfrau im Märchen. Von Stilling freundlich 
                    zuerst behandelt, habe sie brennende Liebe zu ihm gefaßt, 
                    die Liebe könne er nun nicht erwiedern, auch nicht löschen. 
                    Ihre aussichtslose Liebe verkehrt sich aber nicht in Haß und 
                    Fluch, woraus Verderben wächst, sondern läßt <524:> 
                    sie in Trübsinn versinken, aus dem sie zu ihrer und seiner 
                    Beruhigung allmählich genest. Das Märchen, das Stilling oder 
                    Anna als bekannt vorschwebte, konnte unter dieser Verwendung 
                    nicht bis zu seinem wirklichen Ende, bis zum Verderben des 
                    Schuldigen, durchgeführt werden. 
                     Nun kann man ruhig behaupten, Kleist habe Jung-Stillings 
                    Werke gekannt. Leute seiner Weltauffassung achteten auf Jung, 
                    als auf den ehrwürdigen Vertheidiger eines lebendigen Glaubens. 
                    Brentano und Arnim kannten ihn von Heidelberg her persönlich. 
                    Durch Fouqué wurde 1810 ein directer Verkehr Jungs mit 
                    den Berlinern angebahnt, der Kleist mitbetraf (oben S. 484). 
                    Im Wintergarten zählte Arnim Jungs Selbstbiographie 
                    unter den bedeutenderen Werken deutscher Memoirenlitteratur 
                    mit auf, und gleichzeitig schrieb er eine Anzeige seiner 1808 
                    erschienenen Theorie der Geister-Kunde\*\. 
                     Diese Anzeige Arnims schließt nun merkwürdiger 
                    Weise mit der gereimten Darstellung einer märkischen Geistersage, 
                    die wieder die gleichen entscheidenden Züge aufweist. Bauern, 
                    mit reicher Einnahme für ihr Korn, kehren in trunkenem Uebermuth 
                    aus der Stadt zurück. Ein bleiches Weib an der Kirchhofsmauer 
                    bittet den ersten Bauern sie ein Stündlein für Gotteslohn 
                    mitzunehmen, wird aber höhnend von ihm zurückgepeitscht, eine 
                    Unbarmherzigkeit, die er, noch ehe die Stunde um ist, mit 
                    dem Tode büßen muß. So sehen wir die Brüder Grimm, Arnim, 
                    Kleist ungefähr zu derselben Zeit mit den gleichen Stoffen 
                    beschäftigt. 
                     Die Möglichkeit, daß Kleist die Anregung zum Bettelweib 
                    von Locarno aus Jung erhalten habe, empfiehlt sich dadurch, 
                    daß der Vorlage Kleists allem Anschein nach auch ur- 
                    <525:> sprünglich der märchenhafte Schluß fehlte. Derjenige 
                    wenigstens, welchen Kleists Erzählung hat, ist so unmärchenhaft 
                    ins psychologisch-Erklärliche, ins natürlich-Unumgängliche 
                    gewendet, daß man ihn für des Dichters eigne Zuthat halten 
                    möchte. Die Erscheinung des Geistes des todten Bettelweibes, 
                    mit der charakteristischen Eigenschaft, daß der Geist wohl 
                    dem Hunde, nicht den Menschen sichtbar wird, tritt zwar als 
                    poetisches Moment in die Erzählung ein, aber die Beunruhigung 
                    der Schloßbewohner, die Bestürzung und Wuth des Markese, die 
                    Verwüstung alles Vorhandenen geht, eins aus dem andern, mit 
                    so consequenter Nothwendigkeit hervor, daß die Welt des Märchens 
                    fast nur benutzt erscheint, um hülfsweise diese Wirklichkeit 
                    zu motiviren. 
                     Nun hat wieder Kleists Schloßbrand in Arnims 
                    Gräfin Dolores, 1810, ein sehr merkwürdiges Gegenstück. Auch 
                    Arnim stellt seine Markese in einen geheimnißvollen Geisterverkehr 
                    hinein. Jede Zeit, sagt Arnim, habe ihre eigne Art Geister, 
                    ihre eigne Art sie zu denken und zu citiren; die Gegenwart 
                    vermische mit dem rosenkreuzlerischen Streben wissenschaftlicher 
                    Kenntniß und Erkenntniß noch den Mesmerschen Magnetismus, 
                    um sie als eine furchtbare Geisterhand in das Innerste der 
                    Gemüther auszustrecken. Ein ganzes Capitel der Gräfin Dolores 
                    handelt in diesem Sinne von dem geisterhaft-gespenstisch vorbereiteten 
                    wirklichen Brande eines Schlosses, wie im Bettelweib von Locarno. 
                    Aber die der Geisterwelt und die der Wirklichkeit entlehnten 
                    Motive verschränken sich bei Arnim noch viel ungeschiedener 
                    in einander, so daß man unwillkürlich mitgezogen wird und 
                    sich dem Dichter gegenüber kaum behaupten kann. Ich gehe auf 
                    dieses wichtige Capitel der Gräfin Dolores ein. 
                     Die innere Gestaltung des Romanes verlangt, daß das 
                    neue gräfliche Schloß (aus dem die Geschichte des Romans <526:> 
                    ausgeht) verschwinden muß, weil es dem alterthümlichen Residenzschlosse, 
                    in das der alte Landesfürst unter dem Jubel seines Volkes 
                    nach beendigtem Kriege einzieht, die Aussicht nimmt. Diesen 
                    Dienst muß, um Mitternacht vorher, eine wirkliche Feuersbrunst 
                    verrichten. Arnim hätte als Motiv für den Brand blos die Erbitterung 
                    der Patrioten gegen das Neuentstandene zu benutzen brauchen. 
                    Allein in einem gwissen Ueberschwange dichtete er zur Motivirung 
                    eine Geistergeschichte noch hinzu. 
                     Der gräfliche Besitzer des Schlosses verläßt, bei 
                    Beginn des Romanes, heimlich sein Schloß und geht nach Ostindien. 
                    Die Gräfin stirbt, ihre Töchter vermählen sich. Das Schloß 
                    steht schon über zehn Jahre unbewohnt da, den alten Grafen 
                    hält man für längst gestorben: Ein seltsames Toben, 
                    das in gewissen Nächten das Schloß erfüllte, die Erleuchtung, 
                    die dann in mehreren Zimmern bemerkt wurde, gaben zu wunderlichen 
                    Gerüchten Anlaß; man sprach von dem Geiste des alten Grafen, 
                    der da umginge, und wie in alter Zeit in Festlichkeiten schwelge, 
                    keiner aber wagte es ohne Auftrag die Sache zu untersuchen. 
                    Jetzt endlich kehrt der alte Graf mit einer neuen Familie 
                    zurück\*\, der 
                    Gespensterspuk beginnt. Von der Anhöhe vor der Stadt herabfahrend 
                    sieht er die Zimmer seines Schlosses hellerleuchtet. Im Schlosse 
                    empfängt ihn eine prachtvolle Dienerschaft. Die Geister seiner 
                    ersten Frau und des einen Schwiegersohnes treten ihm als die 
                    Schloßherrschaft entgegen. Nach dem Abendtische entfernt sich 
                    aber sonderbarer Weise Einer nach dem Anderen. Der Schloßherr 
                    (also der geisterhafte Schwiegersohn des Grafen) erhält eine 
                    Botschaft von der Gräfin Dolores und: er wurde so heftig 
                    bewegt, zitterte so gewaltsam, die Haare sträubten sich ihm 
                    <527:> empor, er flog zur Thür hinaus ohne Abschied 
                    und nahm das letzte Licht mit sich fort. Den alten Grafen 
                    mit seiner Familie umfängt tiefes Dunkel. Plötzlich aber erhellt 
                    sich das Zimmer von außen, des Grafen eigne Leute und die 
                    Bürger der Stadt rennen mit Feuergeschrei durch die Vorsäle, 
                    und der alte Graf erfährt jetzt, daß das Schloß mit 
                    dem Glockenschlage zwölf an vier Ecken habe angefangen zu 
                    brennen. Mit Mühe rettet er sich, die Seinigen und seinen 
                    Reichthum. Herrlich, sagt Arnim, verklärten sich die schönen 
                    Verhältnisse des Gebäudes mit scheidender Sehnsucht in dem 
                    Feuer und nur halb eingestürzte oder geschwärzte Mauern sind 
                    noch übrig, als das Morgenroth am Himmel hervortritt. Die 
                    Aehnlichkeit, aber auch die Verschiedenheit der beiden Gespenstergeschichten 
                    bei Arnim und bei Kleist ist ersichtlich. Die Möglichkeit 
                    der Einwirkung Arnims auf Kleist scheint mir gegeben; 
                    ich setze voraus, daß Kleist die Gräfin Dolores gelesen hat; 
                    es kam ja auch die tägliche Aussprache und Gewohnheit des 
                    Umganges hinzu. 
                     Bearbeitungen einer Vorlage aber, sie mögen noch so 
                    sorgfältig hergestellt worden sein, lassen leicht an einzelnen 
                    Stellen den alten Grund noch durchscheinen. Der Satz bei Kleist: 
                    Der Marchese, von Entsetzen überreizt, hatte eine brennende 
                    Kerze genommen, und es (das Schloß) an allen vier Ecken, müde 
                    seines Lebens, angesteckt, ist im Rahmen der Erzählung 
                    eine groteske Unwahrscheinlichkeit, die an Arnim erinnert, 
                    wo dies Auffällige aber nicht besteht. Wäre ein irgendwie 
                    geartetes Verhältniß zwischen Arnim und Kleist hier anzunehmen, 
                    so hätte vielleicht die Unterzeichnung mz, 
                    im Abendblatte, wieder eine entsprechende Bedeutung. Kleist 
                    ginge dadurch nichts von seinem Eigenthum und seiner Eigenthümlichkeit 
                    verloren. Das Bettelweib von Locarno, wie es in den Abendblättern 
                    zuerst erscheint, ist die alleinige Schöpfung <528:> 
                    Heinrichs von Kleist. Die äußerliche Localisirung der 
                    Vorgänge hält die Erinnerung daran fest, daß Kleist einst 
                    die Gotthardtstraße ins italienische Land hinabgestiegen ist. 
                     Ich leite ein bemerkenswerthes Urtheil über das Bettelweib 
                    der Abendblätter aus einem Briefe Adam Müllers her, 
                    der an Rühle von Lilienstern Berlin 1810 schreibt: 
                    Er habe vom Staatskanzler den Auftrag erhalten, die damals 
                    noch in Aussicht stehenden Finanzmaßregeln publicistisch zu 
                    vertheidigen; er gedenke auch darüber in Rühles Pallas 
                    zu schreiben. Kleist (fährt er fort) giebt mit ungemeinem 
                    Glück Berlinische Abendblätter heraus, hat schon viel Geld 
                    verdient, fängt aber schon wieder an, sein sehr großes Publikum 
                    zum Bizarren und Ungeheuern umbilden zu wollen, was schwerlich 
                    gelingen wird. Der Ps, wenn Du es liest, bin ich, 
                    der Deinige, Adam Müller. Der Brief muß vor den 27. October 
                    fallen, als den Tag, an welchem das Adam Müller und seine 
                    Freunde in die Opposition, anstatt in die Vertheidigung, treibende 
                    große Finanzedict Hardenbergs erschien. Nimmt man aber 
                    die Abendblätter auf den Kleist gemachten Vorwurf des Bizarren 
                    in ihnen durch, so kann nur das Bettelweib von Locarno (im 
                    10. Abendblatt vom 11. October), auf das Müllers 
                    Ausdruck paßte, in Betracht kommen. Kleist fängt schon 
                    wieder an, sagt Müller  schon wieder, 
                    wie im Phöbus. Müller schrieb den Brief also um die Mitte 
                    des October. Dies Ergebniß ist wichtig: um Müllers willen, 
                    der zu Unrecht wegen seines Einflusses auf Kleist verdächtigt 
                    wird, und um Kleists willen, der, wie wir sehen, gegen 
                    den Einspruch der allernächsten Freunde seinen ästhetischen 
                    Willen durchsetzte. 
                     Und somit übte Kleist sein gutes Recht, das Bettelweib 
                    von Locarno in den zweiten Band seiner Erzählungen, 1811, 
                    mit aufzunehmen. Während er die anderen Erzählungen gänzlich 
                    umarbeitete, gab er ein Exemplar des Abendblattes mit <529:> 
                    dem Bettelweibe ungeändert als Vorlage in die Druckerei. Dies 
                    lese ich aus der typographischen Beschaffenheit des Originaldruckes 
                    von 1811 heraus. Ein geübtes und aufmerksames Auge erkennt 
                    leicht, daß die Veränderungen, die die Buchausgabe den Abendblättern 
                    gegenüber aufweist, erst im stehenden neuen Satze vorgenommen 
                    worden sind, mit steter Rücksicht darauf, keine zu hohen Correcturkosten 
                    hervorzurufen. Ein Beweis dafür, daß die endgültige Form eines 
                    litterarischen Werkes nicht allein von ästhetischen Bedingungen 
                    abhängig ist; und daß neben unsern modernen Gesammtausgaben 
                    niemals die Originaldrucke entbehrt werden können. Ich gehe 
                    beim Bettelweibe nicht auf jede einzelne Variante ein, nur 
                    zwei Stellen bespreche ich. Es heißt am Schlusse in den Abendblättern 
                     Aber ehe sie noch aus dem Thor gerasselt, sieht sie 
                    schon das Schloß ringsum in Flammen aufgehen  
                    in der Buchausgabe 
                     Aber ehe sie noch einige Sachen zusammengepackt und 
                    nach Zusammenraffung einiger Sachen aus dem Thore herausgerasselt, 
                    sieht sie schon &c. 
                     
                    Ich meine nun, daß Kleist durch Randcorrecturen im neuen Satze 
                    Zweierlei versuchte, entweder 
                     Aber ehe sie noch (einige Sachen zusammengepackt und) 
                    aus dem Thore herausgerasselt  
                    oder 
                     Aber ehe sie noch (nach Zusammenraffung einiger Sachen) 
                    aus dem Thore herausgerasselt  
                     
                    Der Setzer aber nahm versehentlich beide Correcturen auf, 
                    ein Irrthum, durch den der Text der Buchausgabe so geworden 
                    ist, wie wir ihn seitdem in den Ausgaben von Niemanden beanstandet 
                    lesen. 
                     Und weiter: in der Buchausgabe finden wir, den Abendblättern 
                    gegenüber, die scheinbar unerklärliche Verwandlung des genuesischen 
                    Ritters, der das Schloß kaufen will, in <530:> einen 
                    florentinischen Ritter. Den Grund hierfür aber entnehme 
                    ich wieder der Originalausgabe der Erzählungen. Auf das Bettelweib 
                    folgt daselbst, S. 93, unmittelbar der Findling, 
                    in dem durchgehends ein genuesischer Ritter zu nennen war. 
                    Der Abwechselung halber verlieh Kleist, wo es am leichtesten 
                    geschehen konnte, nämlich im Bettelweib, dem Ritter florentinische 
                    Abkunft, ein Beweis dafür, wie wenig die von Kleist gewählte 
                    Einkleidung und Localisirung der Erzählung ursprünglich zum 
                    Wesen seines Stoffes gehörte. 
                     Das Bettelweib von Locarno hat auf die Fortentwickelung 
                    der Litteratur einen starken Einfluß ausgeübt. Ich beschränke 
                    mich auf das Folgende. Nicht genirt hat sich der Dichter Varnhagen, 
                    als er, unmittelbar nach Kleists Tode, das Schloß, das 
                    Gespenst, den Hund, den Degen, den Wagen, die Abfahrt als 
                    die Ingredienzien für seine Novelle Das warnende Gespenst 
                    (in Fouqués und Neumanns Musen 1812. 1, 126) 
                    dem Bettelweibe von Locarno abborgte. In Hoffmanns Serapionsbrüdern 
                    erinnert das Fragment aus dem Leben dreier Freunde, wie der 
                    Geist der seligen Mamsell Tante schlarrend und vom alten Mopse 
                    angewinselt an den Wandschrank tritt, an Kleists Bettelweib. 
                    Erst in Herman Grimms Novelle Die Sängerin 
                    lebte der alte Märchenstoff zu neuer Gestaltung wieder auf. 
                     
                    \*\ Die von den 
                    Heidelberger Jahrbüchern damals, den antiromantischen Einflüssen 
                    zu Liebe, abgelehnt und erst 1817 zu Jungs Tode in Gubitz 
                    Gesellschafter gedruckt wurde. 
                    \*\ Als ein andrer 
                    Graf von Gleichen, wie Arnim selbst bemerkend auf sein gleichnamiges 
                    Schauspiel, das 1819 erschien, hindeutet. 
                     
                    
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