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                   Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe 
                    (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 480-482 
                     
                    3. Ueber Schwärmerei. 
                     
                      
                    In der nämlichen Sammlung kleiner prosaischer Schriften (1819. 
                    1, 21) wiederholt Fouqué, auch ohne Quellangabe, aus 
                    Kleists Abendblättern vom 10. December 1810 einen Artikel 
                    Ueber Schwärmerei, der mit M. F. unterzeichnet 
                    ist. Fouqué schlägt darin schon flott auf den Rationalismus 
                    los. Einem großen Theile der Zeitgenossen sei vor <481:> 
                    nichts in der geistigen Welt so bange, als vor Schwärmerei. 
                    Aus dem rechten Gesichtspunkte gefaßt, auch mit vollem Rechte. 
                    Schwärmerei sei in der bürgerlich-sittigen Existenz etwas 
                    Unwürdiges, Auflösendes, wahrhaft Abscheuliches. Was sei denn 
                    das viel beklagte, viel gescholtene Verderbniß der Zeit anderes, 
                    als Schwärmerei? Nach dieser scheinbaren Concession an das 
                    gewöhnliche Leben, geht Fouqué nun aggressiv gegen die geistigen 
                    Gegner vor: Gewöhnlich aber braucht man Schwärmerei 
                    in einem ganz andern, ja meist gerade entgegengesetzten Sinne. 
                    Festhalten an der Idee,  sie über das Sichtbare, 
                    mit Händen zu fassende, stellen, glauben, weil wir den Bürgen 
                    des Glaubens in unserm eignen Herzen finden,  Gott 
                    lieben und Christum  das heißt heut zu Tage 
                    Schwärmerei. Es hat es schon Jemand mit tiefen Schmerzen vernommen, 
                    daß von sonst wackren, unbescholtenen Menschen, wenn man ihnen 
                    das Lesen der Bibel empfahl, gemeint war, das führe ja gerade 
                    zur Schwärmerei.  Wohin auch das Nichtlesen der 
                    Bibel führe und geführt habe, wollen wir hier nicht weiter 
                    berühren. Aber nur das laßt uns fragen: kann Schwärmerei heißen, 
                    was dem Leben eine unbedingte feste, über Freud und Leid hinauswirkende 
                    Richtung giebt, den Menschen zum Kampf gegen seinen innern 
                    Widersacher weckt und stählt, und folgerecht Früchte trägt, 
                    welche zu erreichen die sogenannte Aufklärung doch 
                    auch nach ihrer Weise ringt und strebt?  Nennt 
                    es doch lieber Irrthum, Ihr anders meinenden Brüder, wenn 
                    es Euch so vorkömmt und Ihr es über Euer Herz bringen könnt, 
                    aber begeht nicht die grund- und bodenlose Schwärmerei, es 
                    Schwärmerei zu heißen. Der Artikel läuft damit in eine 
                    Klage und Anklage gegen die praktische Intoleranz des Rationalismus 
                    aus, der sich in theoretischer Betonung der Toleranz nicht 
                    genug thun könne. Die da- <482:> maligen Journale, meist 
                    ja alle aufklärerischer Richtung, sind Zeugen der Unduldsamkeit, 
                    mit der die neuerwachte Religiosität verfolgt wurde. 
                     
                    
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