Reinhold
Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe
(Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 447-452
Jacob und Wilhelm Grimm über Kleist
Der Druck bei Kleist und das Manuscript sehen äußerlich verschieden aus. Da wir
Kleists Art, mit fremden Manuscripten umzugehen, genugsam kennen und kennen lernen
werden, so müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß Kleist vielleicht auch in
Wilhelm Grimms Handschrift eingegriffen habe. Im Druck sind die Räthsel mit
römischen Zahlen gezählt: von II-VII und von IX-X. Es fehlen sonderbarer Weise die
Räthsel I und VIII. Die beiden hat doch wohl Kleist redactionell, nicht Wilhelm Grimm,
ausgelassen, und deswegen werden wir nach der Einleitung die Worte Ich wähle nur
einige aus auch Kleist zuzuschreiben haben. Ich zweifle ferner, daß die, in
Klammern vorausgeschickten, Be- <448:> merkungen über die Hervararsage von Grimm
herrühren. Sein Stil ist es meines Empfindens nicht. Ich würde eher glauben,
Arnims unbesorgte, assertorische Schreibart in den Sätzen zu erkennen. Vom
Standpunkte der Abendblätter aber war eine Orientierung vor den Räthseln nötig, und es
gab sie von den Berliner Freunden, wer genügend über die Dinge Bescheid wußte. Wozu
auch sonst die Einschließung der Sätze in Klammern? In den Kleineren Schriften Wilhelm
Grimms sind freilich die Klammern fortgelassen worden.
Ich sagte, daß die Brüder Grimm auf die Berliner Abendblätter
abonnirt gewesen seien. Aber nicht nur sie allein in Hessen: sondern auch, auf ihre
Verwendung, ein anderer hessischer Leserkreis in Höxter, den Grimms Jugendfreund
Paul Wigand leitete, legte sich die Abendblätter zu. Wilhelm schrieb an ihn am 18.
November 1810: In Berlin erscheint jetzt vom Kleist, der sonst den Phöbus
herausgab, ein Abendblatt, das Du dort einführen mußt, es kostet jährlich höchstens
nur 4 Thaler, und enthält eine Menge ganz köstlicher Anekdoten. Es erscheinen alle Woche
sechs Octavblätter, ganz bescheiden gedruckt, und soll eigentlich eine ideale
Wurstzeitung sein. Worauf Wigand antwortete: Für die Empfehlung des
Abendblattes von Kleist danke ich Dir, der Preis ist gering, man kann es sehr leicht
halten. Ob sich dies Exemplar etwa noch ermitteln ließe, weiß ich nicht. Dem
Abonnement der Brüder Grimm aber verdanken wir heute das einzige vollständige Exemplar
der Abendblätter, das existirt. Dem bücherliebenden Ordnungs- und Bewahrungssinn der
Brüder kam, zu unserem heutigen Gewinn, die Art des Vertriebes der Abendblätter nach
außerhalb zu Statten. Während die einzelnen in Berlin täglich ausgegebenen Nummern dem
gewöhnlichen Zeitungsschicksale anheimfielen, so daß nicht einmal aus Interesse
aufsammelnde <449:> Liebhaber\*\
vollständige Exemplare aufbringen konnten, wurden nach außerhalb die Abendblätter nur
in ganzen Monatslagen abgegeben, eine Einrichtung, die der Aufbewahrung natürlich
förderlich war. Das Grimmsche Exemplar, in festem Einbande, trägt jetzt von des
greisen Jacob Hand die Einschrift vorne liber nunc rarissimus, welche
von ihm unter dem Eindruck der Friedrich Raumerschen Lebensbeschreibung 1861, die er
dazu notirte, eingetragen wurde. Das Buch ist inzwischen in mancher Gelehrten Hände
gewesen. Ich danke es Herman Grimm, daß ich das Exemplar wie mein eigenes um mich haben
darf: ohne seine Güte, die mir freie Hand ließ, würde ich mich nicht in die Dinge haben
einleben können. Es ist meine Absicht, Kleists Berliner Abendblätter durch einen
Neudruck allgemein wieder zugänglich zu machen.
Die Brüder Grimm haben von Heinrich von Kleists Bedeutung als
Dichter, Schriftsteller und Beherrscher der deutschen Sprache eine Meinung gehabt,
wie Goethe ausgenommen von keinem der mit ihnen lebenden Poeten.
Kleists Art, die Novelle ohne Vorbild neu zu behandeln, muthete viele Leser anfangs
befremdend an. Noch unter diesem Eindruck steht Wilhelm Grimms frühestes Urtheil
über den Kohlhaas, das ich kenne, in einem Briefe an Brentano 1811 (ungedruckt):
Der Kohlhaas ist eine kunstreiche treffliche Schmiedearbeit, die jeder mit großem
Vergnügen lesen wird; sonst prahlt er etwas, wie gelehrte Maler mit Anatomie.
<450:> Das, was wie Bemängelung in diesem Urtheile aussieht, ist ähnlich von
Wilhelm Grimm selbst gegen Goethe geltend gemacht worden, und sollte die Entfernung
andeuten, welche, ihrem Gefühle nach, alle Kunstpoesie von der Schlichtheit der
Naturpoesie trenne; im vorliegenden Falle war es zugleich eine Art Concession an Brentano,
der den Kohlhaas zuerst dem Casseler Freunde gegenüber erwähnt hatte. Der eigentliche
Accent ist auf das Anerkennende in dem Urtheil zu legen. So auch Jacob Grimm an Wigand
(21. 2. 1811): Willst Du eine vortreffliche Erzählung lesen, so schaff
Dir Kleists Erzählungen an, worin nun der Kohlhaas, davon der Anfang schon im
Phöbus stand, vollendet ist. Eine übermaßen gelungene und lebende Geschichte. Die
Antwort Wigands lautete (12. 3. 1811): Auf die
Erzählungen von Kleist bin ich recht neugierig, denn ich erinnere mich noch sehr lebhaft
des Kohlhaas im Phöbus und des außerordentlichen Interesses, den diese Erzählung bei
aller Ruhe und Einfachheit der Darstellung erweckte. Man sieht, daß unter den
Besseren der Zeit sich im Stillen ein Publicum für Kleist zu bilden begann\*\.
Kleists Arbeiten waren den Brüdern so werth und
lieb, wie unmittelbar nach seinem Tode Wilhelm an Arnim, 10. December 1811,
schrieb (ungedruckt), daß sie sich verpflichtet fühlten, für ihn öffentlich
einzutreten: ich hatte etwa vierzehn Tage vorher eine Anzeige von seinen
Erzählungen nach Heidelberg geschickt, weil ich sie sehr schätzte und weil ich
<451:> dachte, meine Anerkennung sei doch besser als gar keine, da sie
wahrscheinlich von der Redaction übersehen würden. Ich hatte sie darin gelobt, so gut
ich konnte, und meine Meinung darüber gesagt; weil mir eben die vielen niederträchtigen
Urtheile über seine Dichtungen einfielen, sind auch ein paar Sätze gegen diese darin; so
ist die Recension ziemlich ausführlich geworden. Grimms Recension, die an
Wilken als den damaligen Redacteur der Heidelberger Jahrbücher gelangt war, ist leider
nicht abgedruckt worden. Mag sein, daß die dem Vossischen Einflusse damals schon
verfallenden Jahrbücher für Kleists Poesie nicht gern mehr eintreten mochten, oder
daß die ziemlich fade und geistlose Anzeige des Käthchens von Fn, die wirklich in den
Jahrbüchern 1812 (5, 411) steht, der Recension Wilhelm Grimms zuvorgekommen
ist. Wer wird nicht den Verlust um Kleists und Grimms willen bedauern? Wilhelm
wirkte für Kleist im Stillen weiter. Einer Büchersendung an den Pfarrer Bang legte er
noch 1817 Kleists Erzählungen bei, die er besonders wegen des Michel Kohlhaas
und der heiligen Cäcilia schicke, in welchen sich das herrliche Talent des unglücklichen
Verfassers recht zeige.
Als in den, von Tieck herausgegebenen, Hinterlassenen Schriften
Kleists der Prinz von Homburg zum ersten Male in die Oeffentlichkeit drang, schrieb
Wilhelm Grimm an Arnim 5. April 1821 (ungedruckt):
Kleists Prinzen von Hessen habe ich mit großem Vergnügen
gelesen. Der Gegenstand ist sehr geschickt behandelt und wird auf dem Theater großen
Eindruck machen. Das Mühsame in der Ausarbeitung fühlt man doch und macht einen
vielleicht nicht ungünstigen Gegensatz zu den tiefen und kühnen Zügen; ich habe
nirgends schöner die Macht des Gesetzes und die Anerkennung des Höhern, vor dem auch das
Gesetz zerfällt, dargestellt gefunden. Sonst haben die Kleistischen Sachen etwas von den
niederländischen Malereien, die Ausführung in den Beiwerken und in einzelnen Stücken,
die das Auge reizt und ergötzt. <452:>
In Göttingen trafen die Brüder Grimm in ihrer Verehrung
Kleists mit Dahlmann zusammen. Wie wird und muß Jacob in seinen litterarischen
Vorlesungen, ehe Gervinus kam, über Kleist gesprochen haben, anders als nachgeschriebene
Notizen uns zu sagen scheinen. Dahlmann und die Brüder Grimm hielten auch nachher
Gervinus gegenüber, der von anderen Anschauungen ausging, in der Beurtheilung
Kleists das Gegengewicht, und dementsprechend galt Kleists Schriftstellerei
den Brüdern Grimm, als sie sich zum deutschen Wörterbuche rüsteten, als eine Quelle
unserer Sprache. In dem Quellenverzeichniß des ersten Bandes sind das Käthchen und die
Erzählungen beide übrigens in den Originalexemplaren noch im Nachlaß der
Brüder vorhanden mitaufgezählt: zu denen dann im zweiten Bande des
Wörterbuches die Penthesilea, von 1808, und endgültig Julian Schmidts
Gesammtausgabe der Schriften Kleists von 1859 hinzutraten.
Als productiv arbeitende Männer berührten sich die Brüder Grimm mit
Kleist ferner auf dem Gebiete der Sage und des Märchens. Sie athmeten ja mit ihm die
gleiche geistige Luft jener Tage vor den Freiheitskriegen ein, und als befreundete
Vermittler zwischen ihnen standen Arnim und Brentano da. Was über die litterarische
Behandlung von Märchen und Märchenstoff bei Grimms und bei Kleist zu sagen ist,
wird im folgenden Capitel an die Erzählung Das Bettelweib von Locarno
angeschlossen werden.
\*\ aus deren Kreisen wohl das sogenannte
Maltzahnsche Exemplar, jetzt auf der Königlichen Bibliothek in Berlin, das aus
einzelnen von mir in Wiepersdorf gefundenen Nummern handschriftlich ergänzt ist, und das
in der Graf Yorkschen Fideicommißbibliothek in Schlesien hervorgegangen sein
mögen; einzelne Blätter bewahrt noch das Königliche Geheime Staats-Archiv und die
Göritz-Lübeck-Stiftung in Berlin.
\*\ Die Briefe Wigands an die Brüder
Grimm werden künftig in den Grimm-Schränken auf der Königlichen Bibliothek zu Berlin
befindlich sein. Aus den Grimmschen Briefen, auf der Ständischen Landesbibliothek
in Cassel, theilte mir auf meine Bitte der Vorsitzende der Casseler Grimm-Gesellschaft,
Herr Director Dr. Lohmeyer, freundlich die beiden Stellen mit.
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