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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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S

Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 409-415

Übersetzung aus dem Englischen


Als Beispiel dafür gebe ich einen sich wie einen Originalartikel lesenden Aufsatz, der auf dem Annual-Register von 1776 beruht, und der zugleich zeigt, wie Kleist auch bestrebt war, andere als politische und militärische Nachrichten heranzuziehen: <410:>

The Annual Register.
London 1776, Natural History
pag. 82.
Extraordinary Instance of Maternal Affection in a savage Animal, to which several of the Gentlemen and Seaman belonging to the Carcass Frigate, which went out, a short Time since, to make Discoveries towards the North Pole, were Eye Witnesses.

Kleist.
Berliner Abendblätter Nr. 33. 34,
8. 9. Februar 1811.
Außerordentliches Beispiel von Mutterliebe bei einem wilden Thiere.

While the Carcass was locked in the ice, early one morning the man at the masthead gave notice, that three bears were making their way very fast over the frozen ocean, and were directing their course towards the ship. They had, no doubt, been invited by the scent of some blubber of a sea-horse the crew had killed a few days before, which had been set on fire, and was burning on the ice at the time of their approach. They proved to be a she-bear und her two cubs; but the cubs were nearly as large as the dam. They ran eagerly to the fire, and drew out from the flames part of the flesh of the sea-horse that remained unconsumed, and eat it voracciously. The crew from the ship threw great lumps of the flesh of the sea-horse, which they had still left upon the ice, which the old bear fetsched away singly, laid every lump before her cubs as she brought it, and, dividing it, gave each a share, reserving but a small portion to <411:> herself. As she was fetching away the last piece, they levelled their musquets at the cubs, and shot them both dead, and, in her retreat, they wounded the dam, but not mortaly. It would have drawn tears of pity, from any but unfeeling minds, to have marked the affectionate concern expressed by this poor beast in the dying moments of her expiring young. Though she was sorely wounded, and could but just crawl to the place where they lay, she carried the lump of flesh she head fetched away, as she had done others before; tore it in pieces, and laid it down before them; and, when she saw that they refused to eat, she laid her paws first upon one, and then upon the other, and endeavoured to raise them up: all this while, it was pitiful to hear her moan. When she found she could not stir hem, she went off, and, when she had got at some distance, looked back and moaned; and, that not availing her to entice them away, she returned, and, smelling round them, began to lick their wounds. She went off a second time, as before; and, having crawled a few paces, looked again behind her, and for some time stood moaning. But still, her cubs not rising to follow her, she returned to them again, and, with signs of inexpressible fondness, went round one, and round the <412:> other, pawing them and moaning. Finding at last that they were cold and lifeless, she raised head towards the ship, and growled a curse upon the murderers, which they returned with a volley of musquet balls. She fell between her cubs, and died licking their wounds.

Als die Fregatte the carcass, welche im Jahr 1772 nach dem Nordpol segelte, um Entdeckungen zu machen, eingefroren war, meldete der Wächter auf dem Mast an einem Morgen, daß drei Bären heftig über den Ocean liefen, und dem Schiffe zueilten. Sie waren ohne Zweifel durch den Thrangeruch von einem Seepferd eingeladen worden, welches das Schiffsvolk einige Tage vorher getödtet hatte, und eben auf dem Eise verbrannte. Es zeigte sich gleich, daß es eine Bärinn mit zwei Jungen war, die aber fast so groß waren, wie ihre Mutter. Sie rannten dem Feuer zu, rissen Stücke Fleisch heraus, welche unverbrannt geblieben waren, und fraßen sie gierig auf. Das Schiffsvolk warf ihnen noch mehr Klumpen Seepferdefleisch hin, welche man auf dem Eise hatte liegen lassen. Die alte Bärinn holte einen nach dem andern, legte ihn, so wie sie ihn brachte, vor die Jungen hin, zertheilte ihn, gab jedem ein großes Stück, und behielt für sich nur ein kleines. Wie sie den letzten holte, feuerte man auf die Jungen, schoß <411:> sie nieder, und verwundete die Mutter auf ihrem Rückwege, obgleich nicht tödtlich. Hier würde es auch der rauhesten Seele Empfindungen des Mitleidens ausgepreßt haben, wenn sie die liebevolle Kümmerniß gesehen hätten, welche das arme Thier bei dem Sterben ihrer Jungen ausdrückte. Ob sie gleich schwer verwundet war, und kaum zu dem Platze, wo sie lagen, kriechen konnte, so schleppte sie doch das Stück Fleisch mit, welches sie zuletzt gefaßt hatte, zertheilte es wie die vorigen, und legte sie vor sie nieder. Und wie sie sah, daß sie nicht fressen wollten, legte sie ihre Tatzen erst auf das eine, und dann auf das andere, und wollte sie gerne aufrichten. Erbärmlich war die ganze Zeit über ihr Aechzen anzuhören. Wie sie fand, daß sie ihre Jungen nicht aufrichten konnte, kroch sie eine kleine Strecke von ihnen weg, sah zurück und ächzte. Wie dieses Hinweglocken nicht helfen wollte, kehrte sie zurück, roch um sie herum, und hub an, ihre Wunden zu lecken. Sie kroch darauf noch einmal einige Schritte weg, sah wieder zurück, und stand einige Augenblicke still und ächzend. Aber ihre Jungen konnten ihr nicht folgen. Sie kroch wieder zu ihnen, ging mit den Zeichen der unausdrückbarsten Liebe um sie herum, sie betastend und ächzend. Endlich, wie sie fand, daß sie todt, und ohne Leben waren, hob sie ihr Haupt in die Höhe, sah nach dem Schiffe, und heulte den Mör- <412:> dern eine Fluch zu, den diese mit einer Musketensalve beantworteten. Sie fiel hierauf zwischen ihre Jungen nieder, und starb, ihre Wunden leckend.

Die Stoffe derartiger unterhaltender Nachrichten sind äußerst mannichfaltig. Sie gehen auch auf das Gebiet der Litteratur, Poesie und Kunst hinüber. Daß von Geßner’s Tode Abels eine französische Uebersetzung im Moniteur erschien, bemerkte Kleist sogleich in seinem Abendblatt vom 23. November 1810. Jede auswärtige Notiz über die Frau von Stael, über Oehlenschläger, über Baggesen u. a. fand sicher ihren Eingang in die Abendblätter. In allen Fällen aber muß man, soweit Kleist’s eigene Arbeits-Betheiligung oder -Nichtbetheiligung in Frage kommt, auf der Hut sein: ohne Auffindung und Bestimmung der Quelle, führt ein nach sprachlichen Beobachtungen allein gebildetes Urtheil gar zu leicht auf falsche Wege. Ich habe das, im langsamen Fortschritt meiner Untersuchungen, oft genug durchkosten müssen. Ich führe zum Belege eine Miscelle aus dem 51. Abendblatte, vom 28. November 1810, vor, die auf Zschokke’s Miscellen für die neueste Weltkunde (1810, S. 364) beruht:

Misc. f. d. n. Weltkunde.
Aus Italien.
Zu Siena ist vor kurzem ein für die Literatur und Kunst gleich interessanter Fund gemacht worden. Schon seit geraumer Zeit beschäftigte sich hier ein Hr. Antonio Piccolomini Bellanti mit Sammlung alter Medaillen und berühmter <413:> Malereien. Sein Museum ward reicher und merkwürdiger, als man es bei irgend einem wohlbegüterten Privatmann zu finden erwarten könnte. Jetzt verschönert eins der seltensten Gemälde seine Sammlung. Es ist das Bildniß der unsterblichen Laura, der Geliebten Petrarka’s, welches auf Verlangen des Dichters Simone di Memmo von Siena gemalt hat. Es ist so schön erhalten, daß man davon auch nicht den geringsten Schaden der Zeit wahrnimmt. Die Arbeit selbst gehört zu den vortrefflichsten des berühmten Künstlers. Man sieht sie nicht ohne Bewunderung. Man erkennt Lauren, ihr Alter, ihren Karakter, ihr Kostüm, ihren Schmuck, ganz wie der göttliche Sänger sie zu schildern pflegte.
Abendblätter.
Aus Italien.
Zu Siena ist vor Kurzen ein für die Litteratur und Kunst gleich interessanter Fund gemacht worden. Hr. Antonio Piccolomini Bellanti nämlich, der sich längst mit Sammlung alter Medaillen und Mahlereien beschäftigte, hat das Bild- <413:> niß der unsterblichen Laura, der Geliebten Petrarka’s aufgefunden, welches, auf Verlangen dieses Dichters, sein Zeitgenosse, der Mahler Simone di Memmo mahlte. Es ist so schön erhalten, daß man davon auch nicht die geringsten Spuren seines Alters wahrnimmt. Die Arbeit selbst gehört zu den vortrefflichsten des berühmten Künstlers. Man erkennt Laura, ihr Alter, ihren Charakter, ihr Kostüm, ihren Schmuck, ganz wie der göttliche Sänger sie zu schildern pflegte.

Wie hat Kleist hier wieder durch Auslassung und Zusammenziehung etwas hervorgebracht, das, für sich allein gelesen, den Eindruck kleistischer Originalität gewähren würde!
Der Nachrichtendienst, den Kleist in dieser Weise für die Abendblätter zu üben hatte, war eine schwere Last für ihn. Erträglich noch, wo ein das Material ummodelndes Gedankenspiel die Thätigkeit erhöhte und in seiner eignen Schätzung adelte. Unerträglich aber auf die Dauer, als er allmählig sich genöthigt sah, nichts als geistlose Frohnarbeit zu leisten. Wie mag Kleist im Kampfe um das tägliche Brod unter dieser alle Tage neu aufstehenden Arbeit gelitten haben! Was ihm als die Hohepflicht seines Daseins vorschwebte, wonach seine Seele leidenschaftlich rang, mußte ungethan liegen bleiben. Keine Hand rührte sich für ihn. Welcher ins Physische übergreifende geistige Schmerz für ihn, durch Erfüllung aufgegebener <414:> Tagespflicht sich selbst sein Lebensglück, das Glück künstlerischen Schaffens, zerstören zu müssen!
Worüber uns kein Zeugniß erhalten ist, das erschließe ich aus der Beschaffenheit der Abendblätter zweiten Quartals: Kleist arbeitete im Solde und im Interesse seines Verlegers Kuhn. Kuhn gab zugleich den Freimüthigen heraus. Während Abendblätter und Freimüthiger im ersten Quartal nichts miteinander gemein haben, erscheinen plötzlich im zweiten Quartal immer die nämlichen Nachrichten, wortgenau, in den beiden Journalen zugleich. Ein ganzes Vierteljahr lang! Massenhaftes Material habe ich aufgebracht. Kein Zweifel, daß Kleist die unselbständige Redactionsarbeit für beide Journale that. Vielleicht wurde Kleist dafür besonders honorirt; vielleicht war es aber die Kostenentschädigung, die Kleist an Kuhn in Tagesraten zu zahlen hatte. Unter diesem Gesichtspunkte betrachte ich es auch, daß von Kleist die Novelle „Die Verlobung“ als Zugstück für den Quartalswechsel des Freimüthigen erhielt: die vor und nach dem 1. April 1811 vertheilten „Fortsetzungen“, in denen sie veröffentlicht wurde, sollten nach bekannter Speculation die Leser aus dem alten Quartal in das neue hinüberziehen helfen. Dazu war in diesem Falle Kleist’s voller Name nöthig.
Ich habe Grund zu den Annahme, daß Kleist die niedere journalistische Arbeit, auch als er durch das Eingehen seiner Abendblätter frei wurde, im Stillen und ohne Preisgabe seines Namens fortgesetzt hat, ja – daß er sie auch früher all die Jahre hindurch, die er amt- und einkommenlos als Schriftsteller lebte, wo er sich aufhielt und die Gelegenheit sich bot, ausgeübt hat. Wovon lebte er die Jahre? Diejenigen Erzeugnisse, die er seines Namens würdigte, brachten ihm immer wenig ein. Die Zuschüsse von Hause, und für wenige Jahre die Pension der Königin, konnten ihm nur <415:> das Nothdürftigste gewähren. Immer wieder, in Prag, in Berlin, und später noch einmal 1811, kommt er auf die Uebernahme einer Redactionsstellung zurück. Er mußte eben journalistische Erfahrungen gemacht haben und wissen, daß und wie auf diesem Wege Geld zu verdienen sei. Während des Schweizer Aufenthaltes schreibt er von nicht unbeträchtlichen Summen, die er durch eigne Arbeit erworben habe. Liegt die Annahme fern, daß er in irgend welche Zeitungen und Journale geschrieben habe? Seine Schwester Ulrike muß gewußt haben, daß er für Zeitungen correspondirte: nur so versteht sich 1803 ihre Anfrage bei ihm wegen einer Correspondenz im Freimüthigen und seine Verneinung der Autorschaft. Unsre Untersuchung muß hier ganz neu einsetzen: indem ich dies ausspreche, bin ich mir wohl der mühseligen Folgen und der großen Schwierigkeiten bewußt, die zu überwältigen oder auch nicht zu überwältigen sind. Ich werde an anderer Stelle anonyme Arbeiten Kleist’s in auswärtigen Zeitungen aufzuweisen suchen. Wir haben Kleist’s „Sämmtliche Werke“ noch lange nicht beisammen. Es wird noch sehr energischer neuer Arbeit bedürfen, ehe wir dahin kommen. Dasselbe gilt mir von Arnim, von Brentano und anderen Zeitgenossen. Die Schriftstellerei dieser Männer fiel in eine Zeit, wo die an Bedeutung wachsende Tagespresse die deutsche Literatur bereits in ihren Bereich zu ziehen begann, und günstig oder ungünstig auf ihre Entwicklung einwirkte. Wissenschaftlicher Thätigkeit fällt die Aufgabe zu, in diesen Zusammenhang zwischen Presse und Litteratur einzudringen, und was dabei gewonnen wird, zum Aufbau der Geschichte unserer Litteratur mit zu verwenden.

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Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
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