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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 398-403

Kleist’s Quellen

Im umgekehrten Verhältnisse zur anwachsenden Entwickelung des „Bülletins der öffentlichen Blätter“ in den Berliner Abendblättern verminderte sich das Maß der Arbeit, die Kleist aufwandte. Ein je beschränkterer Raum anfänglich für das Bülletin zur Verfügung blieb, desto mehr Partheiinteresse in der Auswahl und desto mehr Sorgfalt in der Uebesetzung oder kürzenden Stilbehandlung der Nachrichten war möglich und in Kleist’s Sinne auch nothwendig. Kleist’s Aufmerksamkeit als Redacteur erstreckte sich bis in alle Ecken und Winkel seines Unternehmens. Er drückte, in den guten Zeiten der Abendblätter, jeder Zeile den Stempel seines litterarischen Willens auf. Wer äußerlich, damals wie heute, die Abendblätter ansieht, merkt das nicht. Aber in der Folge fortgesetzter Vergleichungen der benutzten Zeitungen mit den Abendblättern ist mir ein unerschöpfliches Beobachtungsmaterial in die Hände gewachsen. Ich staune über die Arbeit, die Heinrich von Kleist tagtäglich geleistet hat. Die ganze Masse vorzulegen ist unmöglich. Nur Proben seien im Folgenden zur Veranschaulichung der Dinge gegeben. <399:>
Ich wähle zunächst ein paar vollständige Nachrichtengruppen der Abendblätter aus. Die erste aus der früheren Zeit, wo noch unter dem Titel „Miscellen“ auswärtige Nachrichten und Berlinische Neuigkeiten vereinigt wurden. Ich
stelle die Abendblätter neben ihre Quellen.

Abendblätter Nr. 24, 27. Oct. 1810.
Miscellen.
Fr. v. Stael hat das Unglück gehabt, daß ihr Werk, Lettres sur l’Allemagne u. s. w. woran sie seit acht Jahren gearbeitet hatte und welches von drei Censoren war gebilligt worden, confiscirt worden ist: die Probebögen und Manuscripte sind ihr zu Blois von dem Präfecten abgenommen worden. Man berechnet den Verlust der Verleger auf 50 000 Franken.
[ohne Angabe der Herkunft.]

Liste der Börsen-Halle, den 24. October 1810.
Madame de Stael, die, wie man weiß, sich in diesem Augenblick im Innern von Fankreich befindet, sich seit acht Jahren mit der Composition eines Werkes über Literatur beschäftigt, und es so eben drucken lassen wollte, hat das Unglück gehabt, daß ihr Werk, obgleich es von drei Censoren war gebilligt worden, konfiscirt worden ist; die Probebögen und Manuscripte sind ihr, wie man sagt, zu Blois von dem Präfecten abgenommen worden, so daß auch nicht ein Exemplar davon ans Tageslicht kommen kann. Den Verlust für den Verleger berechnet man auf 50 000 Franken. 

In Wilmersdorf hat man, bei dem Brande, wiederum zwei verdächtige Menschen bemerkt, die sich gleich nachher entfernt haben.
Auch hat man neuerlich in der Hasenheide wieder zwei Pechkuchen gefunden.
Die Bank von London, heißt es, werde denjenigen Hülfe leisten, die dem Hrn. A. Goldschmidt Vorschüsse gemacht haben. (L. d. B.)

 [Aus einem längeren Artikel über das Schwanken der englischen Staatsfonds:]
… Uebrigens will man wissen, daß die Bank denjenigen Hülfe leisten wird, welche dem Herrn Goldsmid Vorschüsse gemacht haben …

Oeffentliche Blätter widerlegen das Gerücht, daß der Kaiser von <400:> Oesterreich und ein Prinz seines Hauses in Fontainebleau eintreffen werden.
[Ohne Angabe der Herkunft.]

Liste der Börsen-Halle (nach dem Journal de l’Empire):
Einige politische Speculanten, welche die Souverains von Europa <400:> nach eigenem Gefallen auf Reisen schicken, verbreiten seit einigen Tagen das Gerücht, daß Se. Majestät der Kaiser von Oestreich, oder ein Prinz seines Hauses, in Fontainebleau eintreffen werden. Man weiß nicht, woher diese Neuigkeitskrämer ihre Nachrichten erhalten; es scheint aber gewiß, daß man in Wien und in Fontainebleau nichts davon weiß.

Ferner: in den Abendblättern No. 67, vom 17. December 1810, bilden folgende Nachrichten (links), zu denen ich (rechts) die Quellen setze, das vollständige „Bulletin der öffentl. Blätter:“

Berliner Abendblätter.
Am 27sten Nov. war in Petersburg der Wechsel-Cours 7 à 6¾ Schilling Banko\*\.
Dieser unglaublich niedrige Stand des Wechselcours erinnert an die gleiche Lage der Dinge in Oestreich. Auf gleiche Weise wie dort, hat die Petersburger Kaufmannschaft aus ihrer Mitte eine Committee zu Untersuchung der Ursachen niedergesetzt. Der Finanzminister hat diese Maasregel in Vorschlag gebracht, und Sr. Majestät der Kaiser haben sie bestätigt. (Hamb. Corr.)

Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburg. unpartheyischen Correspondenten No. 199. 14. Dec. 1810.
Schreiben aus St. Petersburg v. 28. Nov.
Der ungewöhnlich niedrige Stand des Wechselcourses hat die hiesige Kaufmannschaft bestimmt, aus ihren Mitteln eine Committee niederzusetzen, welche sich mit Untersuchungen über die Ursachen des niedrigen Wechsel-Courses und den Mitteln, demselben abzuhelfen, beschäfftigen soll. Die Committee besteht aus neun Mitgliedern, nämlich den Herrn Rall, F. W. Amburger, P. Sewerin, Pichler, Bleßig, Carstens, Stieglitz, Molwo und Schoel. Der Finanzminister hat diese Maaßregel in Vorschlag gebracht und Se. Majestät der Kayser haben sie bestätigt.

In Wien erhalten die Truppen wegen des niedrigen Standes der Bankzettel vierfache Löhnung (ibid.)

Schreiben aus Wien, v. 5. Dezemb.
Wegen des niedern Standes des Papiergeldes erhalten jetzt die Truppen eine vierfache Löhnung. <401:> Liste der Börsen-Halle, 14. Dec. 1810.
(gleichlautend im Hamb. Corresp.)

<401:> Sr. Päbstl. Heiligkeit haben am 12ten Nov. die Tochter des Generals Cäsar Berthier ehelich eingesegnet.\*\ (L. d. B.)

Vom Mayn, vom 10. December.
Se. Päbstl. Heiligkeit haben am 12ten Nov. die Tochter des Generals Cäsar Berthier in Savona ehelich eingesegnet.

Das Begräbniß des Reichsmarschall Fersen ist in Stokholm am 4. Dec. mit größtem Gepränge unter dem Donner von 80 Kanonenschüßen vollzogen worden.
(Hamb. Corr.).

Hamb. Correspondent: Schreiben aus Stockholm, vom 4. December.
Heute Mittag hat das solenne Begräbniß des verstorbenen Reichsmarschalls &c., Grafen Axel von Fersen, mit aller einem Seraphinen-Ritter gehörigen Pracht, in der hiesigen Ritterholms-Kirche Statt gehabt. Die Proceßion, die außerordentlich zahlreich war, gieng vor dem Königl. Schlosse vorbey. Die ganze Garnison paradirte. Ihre Excellenzen, die Reichsherren, die Staats- und Justizräthe, mehrere Generals, worunter die Freyherren Sandels und von Döbeln sowol als Gen. Silfversparre, wohnten diesem Act bey. Während der Beerdigung wurden 80 Kanonenschüsse in zwey Reprisen abgefeuert.

In dem Mayländer officiellen Blatt werden aus Nizza die fürchterlichen Fortschritte der Pest (nicht des gelben Fiebers) an der Südküste von Spanien beschrieben (ibid.)

Ebenda: Mayland, 28. Nov.
Das hiesige officielle Blatt liefert folgende Berichte aus Nizza: … Die officiellen Anzeigen des Sanitätsraths zu Marseille setzen es außer Zweifel, daß zu Carthagena und Malaga die Pest herrscht. Diese Landplage macht fürchterliche Fortschritte … [folgen weitere Angaben.]

<402:> Auf dem bevorstehenden Landtage in Sachsen werden Veränderungen von der größten Wichtigkeit proponirt werden. Es wird eine Territorialeintheilung nach Präfecturen statt haben, und der Code Napoleon mit einigen Modificationen wird eingeführt werden.
(H. neue Zeitung.)\*\

<402:> Hamburg. Neue Zeitung, 199 Stück. 14. Dec. 1810: Vom Mayn, 7. Dec.
Man bereitet in Sachsen höchst wichtige Arbeiten vor, die dem nun bald zu eröffnenden Landtag vorgelegt werden sollen. Man erwartet große Veränderungen in der Organisation des Königsreichs, Veränderungen, die dem Geist der Zeit und den in Frankreich und mehreren Staaten des Rheinbunds gültigen Einrichtungen angemessen sind. Dem Vernehmen nach wird eine neue Territorial-Eintheilung des Königreichs Statt haben, man wird Departements-Präfecten aufstellen und eine neue Gerichtsordnung einführen; der Code Napoleon mit einigen Modificationen soll angenommen werden. Auch eine neue Criminal-Gesetzgebung wird erwartet.

Man wird diesen wenigen Proben entnehmen, welchen Quellwerth für Kleist die Liste der Börsen-Halle hatte. Späterhin setzte er ganze Nummern aus ihren Nachrichten zusammen. Das 9. Abendblatt, beispielsweise, vom 11. Januar 1811, ist auf allen vier Seiten eine wörtliche Wiedergabe der englischen Nachrichten aus der Liste der Börsen-Halle vom 8. Januar. Hier ist dieses Blatt von Kleist citirt worden. Dagegen fehlt das Citat, gewiß nicht aus irgend welcher Absicht, im 3. Abendblatt vom 4. Januar 1811, das zwei ausführliche Berichte aus dem „heutigen Moniteur“ enthält: beide aber sind wörtlich – mit kleinen Abweichungen, die auf Verschreibung oder undeutliche Schriftzüge Kleist’s zurückgehen – der Liste der Börsen-Halle vom 1. Januar 1811 entnommen. Das allerletzte Abendblatt, das vom 30. März 1811, ist seinem <403:> ganzen Umfange nach, bis auf den Schlußsatz Kleist’s (oben S. 164) der Liste der Börsen-Halle vom 26. März 1811 nachgedruckt. Zuletzt gab Kleist die Nachrichten häufig so, wie sie ihm in den öffentlichen Blättern vorkamen, ohne eigene Arbeit noch daran zu setzen.
Der Nürnberger Korrespondent von und für Deutschland wurde von Kleist nicht minder ausgiebig benutzt. Allein da er als Quelle mehr während des zweiten Quartals der Abendblätter hervortritt, wo Kleist von der Bearbeitung der Nachrichten bereits abließ, so fand die Uebernahme der Artikel fast immer im genauen Wortlaute Statt, so daß Beispiele dafür zu bringen überflüssig wäre. Der Krieg in Spanien, die französischen Maßnahmen zur Durchführung der Continentalsperre und die englischen Gegenmaßregeln waren die Vorgänge, auf welche die damaligen Zeitungen, und gleich ihnen die Berliner Abendblätter ihre Aufmerksamkeit richteten. Nach welcher Seite die Sympathien Kleist’s und seiner Freunde neigten, wissen wir.

\*\ Der Coursstand in jedem Hamburger Blatt besonders gegeben und dorther von Kleist genommen und dem Artikel vorgesetzt.
\*\ Ich bemerke, daß Kleist, entgegen seinen Quellen, Sr. Heiligkeit und Sr. Majestät zweimal im Nominativ gebraucht: Sr. Majestät aber pflegen so preußische Offiziere noch jetzt zu sagen.
\*\ Absichtlich ist von Kleist die Bezeichnung Sachsens als eines Königreiches hier vermieden.

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Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
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