Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe
(Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 394-398
Situation der Presse
III. Berichterstattung und Nachrichtendienst.
Zu den Pflichten einer unabhängigen Journalistik, die Kleist
selber dahin formulierte, daß sie die treuherzige und unverfängliche
Kunst sei, das Volk von dem zu unterrichten was wirklich in
der Welt vorfalle, gehörte die Berichterstattung über die
die europäischen Staaten damals in Athem haltenden politischen
und militärischen Ereignisse. Diese Pflicht war äußerst dringlich,
aber für Kleist und seine Freunde fast unausführbar. Dringlich:
da die beiden französischen Blätter, der <395:> officielle
Moniteur, und das officiöse Journal de lEmpire
systematisch Europa irre führten, indem sie nur was dem Napoleonischen
Interesse diente, aufnahmen und verbreiteten. Der Moniteur
fälschte die öffentliche Meinung durch Verschweigen dessen,
was unbequem und ungünstig war; das Journal de lEmpire
fälschte ebenso durch Hinzufügung von Nachrichten, die erfunden
und erlogen waren. In Berlin segelte die eine politische
Zeitung, die Vossische, neben der die Spenersche Zeitung nicht
aufkam, im Fahrwasser französischer Interessen. Die preußische
Regierung, welche die Sachlage durchschaute, vermochte bei
dem noch herrschenden französischen Einflusse nichts Entscheidendes
dagegen zu thun, ja sie mußte fortfahren, die Vossische Zeitung
als das officielle Blatt zu benutzen. Die Berliner Patrioten
empfanden das Bedürfniß, eine unabhängige, Vaterlands-eingedenke
Berichterstattung der Weltbegebenheiten ins Werk zu richten.
Eine Berichterstattung über auswärtige Angelegenheiten
erforderte aber Geld. Das fehlte. Denn der preußische Adel
war durch die Erschütterungen des Staates bettelarm
geworden, und die Hardenbergische Agrarpolitik würde ihn,
das war seine Ueberzeugung, noch bettelarmer machen. Er hatte
kein Geld für ein umfassendes Zeitungsunternehmen übrig. Ja,
was die Hauptsache war, er hatte in seiner großen Mehrheit
noch kein Verständniß und deshalb keine Neigung für journalistische
Erfordernisse großen Stils. Eigentlich ist diese Stimmung
heute noch, nach hundert Jahren, nicht überwunden. Ein groß
angelegtes Blatt conservativer Richtung, das der Gebildete,
ohne in allgemeinen Dingen zurückzubleiben, lesen könnte,
giebt es heutigen Tages in Preußen und im Reiche noch nicht.
Wie wären Kleist und seine Freunde mit ihren minimalen Mitteln
damals schon im Stande gewesen, die Aufgabe zu lösen? <396:>
Das Wenige, das sie aufbringen konnten, war die Censur
jeden Augenblick im Stande zu vernichten. Die Staatskanzlei
mußte auch, was auswärtige Nachrichten anlangte, sehr sorgsam
den möglichen Argwohn des französischen Regimes im Auge behalten.
Wenn man, wie meine Arbeit es verlangte, in großem Umfange
die maßgebenden preußischen und nichtpreußischen Zeitungen
damaliger Zeit durchnimmt, so bewundert man die Kunst, mit
der die Staatskanzlei, oder der Staatskanzler, durch lancirte
Artikel irgend welchen möglichen Verstimmungen der französischen
Instanzen zuvorzukommen wußte. Hardenberg brauchte Ruhe für
das, was in Preußen sich vorbereitete. Er hätte nicht dulden
dürfen, daß in einem Berliner Preßorgan diese Ruhe gestört
würde. Kleist und seine Freunde waren aber politisch einsichtsvoll
genug, um die Gefahren einer rücksichtslosen Berichterstattung
nicht zu verkennen. Als die Abendblätter am 3. November
1810 durch die portugiesische Notiz Anlaß zu französischem
Einspruch gaben (oben S. 70), that Kleist sofort Alles,
um die Sache wieder gut zu machen. Es war nicht der Wunsch
der Berliner Patrioten, der Staatsregierung auf dem Gebiete
der auswärtigen Politik formell Schwierigkeiten zu bereiten.
Anfänglich gab Kleist in seinen Abendblättern überhaupt
keine politischen Nachrichten. Polizei-Rapporte und Tagesmittheilungen
Vermischtes, wie wir heute sagen diente am Schlusse
eines Abendblattes, wenn die Hauptsachen abgethan waren, noch
dem niederen Lesebedürfniß. Es schien fast, als wollte sich
das Abendblatt allein mit Berliner und mit preußischen Verhältnissen
beschäftigen. Erst allmählig und vorsichtig wagen sich politische
Nachrichten über nichtpreußische Geschehnisse hervor. Die
Ueberschrift Bülletin der öffentlichen Blätter
erscheint über dem nun ständig werdenden Artikel zuerst im
45. Abendblatt, vom 21. November 1810. <397:>
In dem Maße, als die Censur den Abdruck originaler Partheiartikel
in den Abendblättern verhindert, nimmt das Bülletin wachsend
an Umfang zu. Es rückt, seit Beginn des zweiten Quartals der
Abendblätter, als Hauptartikel an die Spitze jedes Blattes,
dergestalt, daß nur noch wenig Raum für einen allgemein (aber
nicht politisch) unterhaltenden Aufsatz zur Verfügung bleibt.
Eine ganze Reihe von Nummern sogar ist allein aus Nachrichten
öffentlicher Blätter zusammengesetzt.
Die in den Abendblättern citirten oder nicht citirten
Zeitungen und Journale, die Kleist benutzte, sind
im Wesentlichen die folgenden: Der Moniteur, das
Journal de lEmpire, der Westphälische Moniteur; die
(Schweizer) Miscellen für die neueste Weltkunde, Schweizer
Nachrichten, Wiener Zeitung, Oesterreichischer Beobachter,
Frankfurter Staats Ristretto, Rheinischer Correspondent, der
(Nürnberger) Korrespondent von und für Deutschland, Alt. Merkur,
Hamburger Zeitung, Hamburger neue Zeitung, Hamburger Correspondent,
Hamburger Gemeinnützige Unterhaltungs-Blätter, Das Vaterländische
Museum, Liste der Börsen-Halle, Magdeburgische Zeitung, Hallisches
Wochenblatt, Königsbergische Zeitung, Der Freimüthige, Das
Morgenblatt, Die Zeitung für die elegante Welt, Allgemeine
Modenzeitung, Journal der Damen, Das Journal die Zeiten (von
Voß), Journal des Luxus und der Moden, Journal für Kunst und
Kunstsachen, Künsteleien und Moden, Archiv für Litteratur,
Kunst und Politik, Archiv für Geographie, Allgemeine Litteratur-Zeitung;
Alfred, Statesman, Morning Chronicle, Times, Traveller, The
Courier, Dubliner Evening-Post. Und andere. Kleist hat freilich
nicht alle Blätter in Händen gehabt, so wahrscheinlich nicht
die englischen Zeitungen. Die ihnen entnommenen Nachrichten
wurden ihm wohl durch andere Zeitungen vermittelt. Seine Hauptquelle
waren die Hamburger Journale und Zeitungen, darunter insbesondere
<398:> die Hamburger Liste der Börsen-Halle. Hamburg
zog, vermöge seiner Lage und Bedeutung, alle die nördlichen
Staaten berührenden Nachrichten früher, als jeder andere Ort,
an sich. Selbst Moniteur und Journal de lEmpire kamen,
wie es scheint, über Holland schneller nach Hamburg und von
da nach Berlin, als auf der inländischen Militärstraße über
den Rhein, Cassel, Magdeburg nach Berlin: so daß meist in
den Berliner Abendblättern die Nachrichten der französischen
Blätter nach dem schon übersetzten Texte der Hamburger Zeitungen
erschienen, ohne daß jedoch daneben die Originalbenutzung
der Pariser Organe ausgeschlossen gewesen wäre. Für Nachrichten
aus dem südlichen, rheinbündischen Deutschland wurde der Nürnberger
Korrespondent die eigentliche Quelle Kleists.
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