Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe
(Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 369-371
14. Anekdote (vom goldgefüllten
Schwein).
Steht im 59. Berliner Abendblatte, vom 7. December
1810. Sie lautet:
Ein
Herr von D
in Moskau, ein sehr reicher Gutsbesitzer
zeichnete sich durch eine Menge Bisarrerien aus.
Eine seiner Töchter verheirathete sich wider seinen
Willen. Sie erhielt also auch nicht die geringste Ausstattung,
und er verbot ihr und ihrem Gemahl, ihm jemals vor Augen zu
kommen.
Als die junge Frau von einem Sohn entbunden worden
war, wagte sie es, in Begleitung ihres Gatten zu ihrem erzürnten
Vater zu fahren, in der Hoffnung, daß nun sein Zorn abgekühlt
sei, und der Anblick eines Enkels sein Herz zur Versöhnung
erweichen würde.
Das junge Ehepaar überraschte ihn und die Tochter
legte ihm den Erstgebohrnen in den Arm. Er schien verlegen,
doch bald faßte er sich, nahm seine Tochter und seinen Schwiegersohn
höflich auf, bewirthete beide aufs Beste, sprach aber kein
Wort über ihre Verbindung, noch über eine Ausstattung.
Als die jungen Leute wieder wegfuhren, fanden sie
ein frisch geschlachtetes Schwein in ihrem Wagen. <370:>
Der Mann, der sich höchst beleidigt hielt, wollte
es herauswerfen lassen, seine Gattin beruhigte ihn indessen,
und brachte es endlich dahin, diese Laune des Schwiegervaters
zu dulden und kein Aufsehn zu machen.
Als sie zu Hause gekommen waren, sollten die Bedienten
das Schwein forttragen, keiner aber vermogte es aufzuheben.
Man untersuchte es näher und fand es mit einigen tausend Goldstücken
angefüllt. Diese Geschichte ist sinnreicher, als
mancher glaubt.
Kleist hat als seine Quelle darunter gesetzt: Gem. Unterh.
Blätter. In den Hamburger Gemeinnützigen Unterhaltungs-Blättern
Nr. 39, vom 29. September 1810, findet sich denn
auch die Anekdote, ebenfalls anonym. Nur zwei unerhebliche
Varianten hat Kleists Abschrift jetzt herbeigeführt.
Wiedergefunden habe ich die Anekdote wörtlich in Karl Müchlers
Berliner Anekdoten-Almanach für das Jahr 1811; Müchler zählte
zu den Mitarbeitern der Gem. Unterhaltungs-Blätter; aber auch,
unbekannt bis jetzt, Kleist, wie ich an anderer Stelle darzulegen
gedenke.
Auf die Quelle der Anekdote bin ich im Nürnberger
Korrespondenten von und für Deutschland, Nr. 56, vom
25. Februar 1809, gestoßen:
Die
sonderbare Ausstattung.
Da die Tochter eines sehr reichen, dabei sehr wunderlichen
Mannes sich gegen den Willen des Vaters verheirathet hatte,
wollte er sie gar nicht mehr sehen und gab ihr auch kein Heirathsgut.
Indeß kamen seine Kinder doch, ihm ihren Erstgebornen in den
Arm zu legen und dadurch seinen Zorn zu mildern und wieder
bei ihm in Gunst zu kommen. Er nahm sie höflich auf, hütete
sich aber wohl, den Punkt der Ausstattung zu berühren. Als
sie wieder wegfuhren, fanden die jungen Leute ein frisch geschlachtetes
Schwein in ihrem Wagen. Der Mann, der sich beleidigt glaubt,
will es heraus werfen lassen, die Frau aber beruhigt ihn und
bringt ihn dahin, diese Laune seines Schwiegervaters zu erdulden.
Wie sie nach Hause kommen, sollen die Bedienten das Schwein
forttragen. Keiner aber kann es aufheben. Man untersucht es
und findet es voll Goldstücke. <371:>
Jeder
Leser bemerkt, daß aus der Nürnberger Erzählung die Fassung
der Gemeinnützigen Unterhaltungs-Blätter und der Berliner
Abendblätter hervorgegangen sein müsse. Wir wissen nun zwar,
daß Kleist in seinem, zuerst von Köpke S. 70 veröffentlichten,
Brief eines politischen Pescherü auch auf einen Artikel des
Nürnberger Korrespondenten vom Jahre 1809 reagirt hat; die
Möglichkeit wäre also nicht ausgeschlossen, daß es
sich bei der Anekdote vom goldgefüllten Schweine ähnlich verhielte.
Trotzdem wage ich keine endgültige Entscheidung. Für Kleist
wie für Müchler, als die möglichen Verfasser, stehen meines
Erachtens die Chancen gleich: nichts in der Anekdote spricht
gegen Kleist. Aber sie könnte auch weder von Kleist noch von
Müchler verfaßt sein. Ich halte für nöthig, daß auch solche
Ergebnisse ausgesprochen werden, damit wir uns nicht über
die Mängel unserer Ueberlieferung und die Grenzen unseres
Wissens hinwegtäuschen.
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