BKA-Brandenburger Kleist-Ausgabe Start Übersicht Suchen Kontakt Andere interessante Websites Institut für Textkritik e. V.

[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

[ ]


S

Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 365-367

Der tolle Hund in Charlottenburg


Wer das Land kennt, weiß, daß zur heißen Jahreszeit der tolle Hund dort eine Rolle spielt. Berlin hatte damals vor den Thoren und in seinen Vororten noch ländliche Verhältnisse. In Charlottenburg war nun der tolle Hund erschienen. Die Aufregung der Einwohnerschaft steigerte sich, und der König, der in Charlottenburg wohnte, forderte vom Polizeipräsidenten Bericht ein.
Dieser Bericht ist in den Acten des Polizei-Präsidiums, auf dem Königlichen Staatsarchiv noch vorhanden. Gleichzeitig damals erhielt ihn Kleist von Gruner für die Abendblätter, wo er im 8. Blatt, vom 9. October 1810, mit anderen „Polizeilichen Tages-Mittheilungen“ abgedruckt ist. In welcher von der Urschrift abweichenden Fassung aber: das möge die Gegenüberstellung der beiden Texte zeigen. <366:>

Gruner’s Bericht an den König.
Es ist, nach der auf Euer Königl. Majestät allerhöchstes Rescript vom 9. d. M. zufolge erforderten Anzeige des Polizei-Commissarius Quittschreiber, am 3. d. M. ein fremder Hund mit einem Stricke um den Hals in Charlottenburg in den Hof des Geheime Rath Pauli gekommen und hat sich mit dessen Hunden gebissen. In der Meinung, daß er toll sei, hat man ihn nebst allen von ihm gebissenen Hunden des Pauli teils sogleich erschossen, teils erschlagen, und die Leichname eingegraben. Mit Sicherheit ist nicht mehr auszumitteln, ob dieser Hund wirklich toll gewesen. Der Anschein ist dagegen, da er vorher in mehreren Häusern sich gezeigt hat und hinausgejagt ist, ohne sich böse zu zeigen. … Ein Mensch ist übrigens von ihm nicht gebissen; die noch lebenden gebissenen Hunde sind ausgemittelt und in Sicherheit gebracht.

Berliner Abendblätter.
Am 3. d. M. hat sich in Charlottenburg ein fremder Hund mit einem Stricke um den Hals eingefunden, und ist nachdem er sich mit mehrern Hunden gebissen hatte, und aus mehrern Häusern verjagt war, auf den Hof des Herrn Geh. Commerz. Rath Pauli gerathen. Daselbst wurde er von sämmtlichen Hunden angefallen, und weil er sich mit ihnen herumbiß, so hielt man ihn für toll, erschoß ihn, und alle Pauli’sche, von ihm gebissene Hunde, und begrub sie ehrlich. Dieses Faktum hat zu dem Gerücht Anlaß gegeben, daß in Charlottenburg ein toller Hund Menschen und Vieh gebissen habe. Menschen sind gar nicht gebissen, das Vieh aber, das er biß, ist theils getödtet und begraben, theils in Observation gesetzt. Zudem da er sich gutwillig aus mehreren Häusern verjagen ließ, ist nur zu wahrscheinlich, daß der Hund gar nicht toll gewesen.

Für die Abendblätter also war die unfreiwillige Komik des Polizeiberichtes von Kleist noch etwas gesteigert worden. Aber als Behörde durfte die Polizei so saloppe Wendungen, wie die vom ehrlichen Begräbniß der Hunde, nicht auf sich sitzen lassen. Wenn das der König las und den Zusammenhang der Dinge durchschaute! Kleist hätte damit wirklich den Polizeipräsidenten compromittirt, und um das wieder gut zu machen, bekannte er am nächsten Tag folgenden „Druckfehler“: <367:>
In dem gestrigen Abendblatte ist aus einem Versehen die Rubrik: Polizeiliche Tages-Mittheilungen über dem Artikel vom tollen Hunde in Charlottenburg gedruckt, anstatt nach diesem Artikel zu folgen; der Artikel ist keine Tages-Mittheilung und seine Fassung beruht bloß auf der Redaction.
Kleist’s Dementi und sein Bekenntniß zur Verfasserschaft des Artikels geht weiter fast, als es nach dem uns vorliegenden Materiale nöthig gewesen wäre. Mit dem „Charité-Vorfall“ wird es eine ähnliche Bewandtniß gehabt haben.

[ S ]

[ ]

Copyright © 2000 by Institut für Textkritik e. V., Heidelberg
Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
[ Webdesign: RR 2000 ]