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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 363-365

11. Charité-Vorfall.


Im 12. Abendblatt, vom 13. October 1810, anonym; in Kleist’s Schriften bereits aufgenommen.
Die Anekdote, wenn man sie so nennen will, ist die humoristische Behandlung und Darstellung eines Berliner Localvorfalles, der damals von sich reden machte. Der Polizei-Präsident erstatte sogar dem Könige einen amtlichen Rapport darüber, der in den Acten heute noch vorhanden ist\*\, und den man im 7. Abendblatte abgedruckt findet:

Polizei-Ereigniß.
Vom 7. October.
Ein Arbeitsmann, dessen Name noch nicht angezeigt ist, wurde gestern in der Königsstraße vom Kutscher des Professor Grapengießer übergefahren. Jedoch soll die Verwundung nicht lebensgefährlich sein.

Der Rapport hat ersichtlich eine beruhigende Tendenz, und diese lag insofern sehr im Interesse Gruner’s, als er nur ein paar Tage früher, am 4. October 1810 (4. Abendblatt des gleichen Datums), dem Könige hatte melden müssen, daß in der Brüderstraße vom Kutscher des Geheimen Commerzienrath Pauli ein fünfjähriges Kind überfahren und durch einen Schlag des Pferdes am Kopfe beschädigt worden war. Der König verstand in solchen Dingen, zumal wenn sie sich wiederholten, keinen Spaß, und wenig erfreuliche Rescripte regneten dann auf Gruner als den verantwortlichen Leiter der Sicherheitspolizei nieder. Für Grapengießer war der Vorfall auch nicht angenehm, und es konnte ihm nur erwünscht sein, wenn durch Abdruck der Gruner’schen Notiz in den Abend- <364:> blättern einer üblen Stimmung im Berliner Publicum entgegengewirkt wurde.
Nun erinnern wir uns, daß der Professor Grapengießer, nach den Mitgliederlisten der christlich-deutschen Tischgesellschaft, zum Gesellschaftskreise Heinrich’s von Kleist gehörte. Kleist’s Beziehungen zu Berliner Medizinalpersonen in hervorragender Stellung, wie die zu Hufeland und Flitner (unten S. 564), reichten auch zu Herren der Königl. Charité, deren damaliger Chef der Geh. Obermedizinalrath und Professor Kohlrausch war.
In die Charité war nun der Ueberfahrene eingeliefert worden und die „lächerlichen Mißverständnisse“ bei der Untersuchung des Mannes, Namens Beyer, die „der Geheimrath Hr. K. (also: Kohlrausch) in der Charité mit ihm vornahm“, bildeten den Inhalt des „Charité-Vorfall“ überschriebenen Aufsatzes. Sie bestanden darin, daß als der Geheimrath Kohlrausch zuvörderst die beiden Beine, dann das linke Auge, zuletzt die linke Rippenhälfte des Kranken in totaler Unordnung fand, derselbe die wunderliche Auskunft gab, ihm seien – jedesmal vom Doctorwagen – die Beine vor 5, das Auge vor 14, die Rippen vor 7 Jahren zu Schanden gefahren worden: bis sich endlich zeigte, daß ihm durch die letzte Ueberfahrt der linke Ohrknorpel ins Gehörorgan hineingefahren war. „Uebrigens (schließt der Aufsatz im Sinne des Polizei-Rapportes) bessert er sich, und falls er sich vor den Doctoren, wenn er auf der Straße geht, in Acht nimmt, kann er noch lange leben.“ Man empfinde dabei die leichte, nicht verletzende Ironie, mit der Kleist sich ein wenig über die „Doctoren“ lustig macht.
Die Herkunft des Aufsatzes wird auch angedeutet: „Der Berichterstatter hat den Mann selbst über diesen Vorfall vernommen, und selbst die Todtkranken, die in dem Saale auf den Betten herumlagen, mußten, über die spaßhafte und <365:> indolente Weise, wie er dies vorbrachte, lachen.“ Allem Anschein nach liegt also dem „Charité-Vorfall“ das Ergebniß weiterer amtlicher, d. i. polizeilicher Untersuchung zu Grunde, die der erste Polizei-Rapport durch die Nuance „noch nicht“ in Aussicht stellte. Das Wort „Berichterstatter“ ist demnach nicht im heutigen journalistischen Sinne, noch gar als Selbstbezeichnung Kleist’s, zu verstehen. Der Berichterstatter war vielmehr dem vom Präsidenten Gruner mit der Vernehmung betraut gewesene Beamte, der seinen Bericht schriftlich oder mündlich zu erstatten hatte. Durch die selbständige Bearbeitung des Berichtes aber, der nur von Gruner mitgetheilt werden konnte, ist der „Charité-Vorfall“ Kleist’s litterarisches Eigenthum geworden, das seinen kleinen Schriften zugehört.
Eine parallele Erscheinung in den Abendblättern ist die Geschichte
12. Der tolle Hund in Charlottenburg.

\*\ Die Acten befinden sich auf dem Geheimen Staatsarchiv. – Den allzeit freundschaftlichen Bemühungen des Herrn Geh. Archiv-Raths Dr. Bailleu verdanke ich, daß meine Nachforschungen in dem Actenmaterial dieser Zeit erfolgreich gewesen sind.

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Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
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