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Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 360-362

10. Muthwille des Himmels.


Im 9. Abendblatt, vom 10. October 1810, mit der Unterzeichnung r; seit längerer Zeit bereits in Heinrich von Kleist’s Schriften zu finden. Ein in Frankfurt an der Oder verstorbener General Dieringshofen hat einen rechten Widerwillen gegen Leichenwäscherinnen. Er bittet den Feldprediger seines Regiments, Herrn P…, ihn im Falle seines Todes davor zu bewahren, denselben in die Hände zu fallen. Aber, wie er plötzlich stirbt, ruft der Kammerdiener doch den Barbier herbei, und ehe der Feldprediger es verhindern kann, ist der General schon eingeseift und zur Hälfte abrasirt: „Was sollte der Feldprediger unter so wunderlichen Umständen thun? Er schalt den Kammerdiener aus, daß er ihn nicht früher herbeigerufen hatte; schickte den Barbier, der den Herrn bei der Nase gefaßt hielt, hinweg, und ließ ihn, weil doch nichts anders übrig blieb, eingeseift und mit halbem Bart, wie er ihn vorfand, in den Sarg legen und begraben.“ Eine Frankfurter Generalsgeschichte, Kleist ein Frankfurter Offizierssohn: die wie nothwendig erscheinende Zusammengehörigkeit dieser beiden Momente deutete natürlich zuerst auf Kleist als Autor. Die Sache complicirt sich aber.
Ich fand es auffällig, daß der Name des Generals voll ausgedruckt ist, der des Feldpredigers aber hinter Punkten sich verbirgt. Ich vermuthete, daß der Feldprediger P… damals, 1810, noch am Leben gewesen sein müsse, und Kleist <361:> gegen ihn irgend eine Rücksicht habe beobachten wollen. Es kam also darauf an, sich über die Personen der Anekdote Gewißheit zu verschaffen: und zu diesen und anderen für mich wichtigen Feststellungen verhalf mir Herr Major Walter Dahlmann, der Enkel des mit Kleist einst befreundet gewesenen Historikers Friedrich Dahlmann.
Nach den Acten des Kriegsministeriums starb der Generalmajor Bernhard Alexander von Dieringshofen als Chef des 24. Infanterie-Regiments zu Frankfurt am 9. Januar 1776 im Alter von sechzig Jahren. Die Anekdote der Abendblätter ist also passirt, ehe Kleist geboren war. Der Feldprediger des Regiments hieß Carl Samuel Protzen, war bei des Generals Tode einunddreißig Jahre alt, schied 1782 aus, um in Züllichau ein Pfarramt zu übernehmen, und wurde 1788 als Oberpfarrer nach Fankfurt zurückberufen, wo er 1817 im Amte starb. P… in der Anekdote bedeutet also Protzen. Dieser Feldprediger Protzen aber war es, von dem Heinrich von Kleist getauft worden ist!
Ferner aber: 1810 existirte in der Mauerstraße 39, auf halbem Wege zwischen Arnim’s und Kleist’s Wohnung eine Waarenhandlung, deren Besitzer gleichfalls Protzen hieß: eine Handlung, die später in die Leipzigerstraße übersiedelte, einen Stadtruf sich erwarb, und älteren Berlinern noch in Erinnerung ist. Ob eine Verwandtschaft zwischen dem Berliner und dem Frankfurter Träger des Namens Protzen bestand? Merkwürdig bleibt das Zusammentreffen jedenfalls.
Alle diese Umstände scheinen für Kleist, wenigstens nicht gegen ihn, als Verfasser zu sprechen, und der echt Kleistische Anfangssatz
Der in Frankfurt an der Oder, wo er ein Infanterie-Regiment besaß, verstorbene General Dieringshofen, ein Mann von strengem und rechtschaffenem Charakter, aber dabei von manchen Eigenthümlichkeiten <362:> und Wunderlichkeiten, äußerte, als er in spätem Alter, an einer langwierigen Krankheit, auf den Tod darniederlag, seinen Widerwillen, unter die Hände der Leichenwäscherinnen zu fallen. –
mit dem vorn eingeschobenen Relativsatze und der reichen Periodisirung bekräftigt die Vermuthung. Aber das, was nun folgt, hat meinem Gefühle nach Kleist ursprünglich nicht geschrieben. In den gestreckten, unperiodisirten Sätzen, die sich ohne Verschränkung an einander reihen, empfinde ich vielmehr Arnim’s Art. Man ersetze in dem (oben hingestellten) Schlußstück der Anekdote das Semikolon durch Komma, mit welchem Zeichen Arnim fast allein zur Verzweiflung seiner Setzer zu interpungiren liebte – und man hat die reinste Arnim’sche Diction vor Augen. Der harmlose Scherz, wie der Barbier den General an der Nasenspitze zält, paßt besser auf Arnim, als auf Kleist. Genau wie in Arnim’s Fassung des Verlegenen Magistrats, wird die Schlußpointe fast zu bequem durch eine Frage eingeleitet. Die redactionell auf Kleist gehende Ueberschrift „Muthwille des Himmels“ kommt durch die innere Einrichtung der Anekdote nicht zu ihrem Rechte; man kann die Unbekanntschaft des Kammerdieners mit der letztwilligen Bestimmung seines Herrn schwerlich als Muthwillen des Himmels ansehen. Ich glaube daher, daß Arnim die Anekdote niedergeschrieben, Kleist sie aber am Anfange und vielleicht hier oder da im Innern nach seiner Art redigirt habe. Damit hielte sich vielleicht die Unterzeichnung r im Einklange.
Trifft dies zu: so wäre sowohl Kleist’s wie Brentano’s Angaben über Arnim’s anonyme Beiträge vor dem 14. October ein Genüge gethan, und es würde uns besser einleuchten, warum Brentano in einem (unten S. 437 zu behandelnden) Gedichte gerade diese Barbiergeschichte so ausgiebig benutzt und parodirt hat.

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Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
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