Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe
(Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 356-360
9. Anekdote aus dem letzten
preußischen Kriege.
Im 6. Abendblatte steht,
ohne Unterzeichnung, diese bekannteste aller Kriegsanekdoten
von dem preußischen Reiter in der Schlacht bei Jena, dessen
Muth kein Fürchten kennt, der, während schon die Schüsse von
allen Seiten in das Dorf prasseln, ruhig erst beim Gastwirth
seine drei Schnäpse trinkt, sich eine Pfeife Toback anmacht,
drei ansprengende Chasseurs vom Pferde haut und mit ihren
aufgegriffenen Gäulen davon- <357:> jagt. Die Tendenz
liegt in dem Satze: daß, wenn alle Soldaten, die an
diesem Tage (von Jena) mitgefochten, so tapfer gewesen wären,
wie dieser, die Franzosen hätten geschlagen werden müssen,
wären sie auch noch dreimal stärker gewesen, als sie in der
That waren. Die Anekdote sollte also wirken im Sinne
der preußischen Kriegsparthei. Der Ausarbeitung, der Dialogführung,
der Sprache nach ist sie gewiß von Kleist.
Wie prächtig geschlossen die Darstellung der Anekdote
uns entgegentritt: auf Eine Incongruenz muß ich aufmerksam
machen, die den Ort des Bravourstückes anlangt. Die Scene
wird nämlich in ein Dorf bei Jena verlegt, auf die Dorfstraße,
vor den dörflichen Gasthof. Trotzdem halten die drei Chasseurs,
bevor sie in das Dorf einreiten, draußen vor
dem Thor. Da kein Dorf ein Thor hat, so muß hier bei
Kleist eine Vermischung dörflicher und städtischer Localschilderung
constatirt werden. Die Erklärung dafür liegt bei den Vorlagen,
die Kleist benutzte. In der großen Anekdotensammlung, der
zehnbändigen, begegnen uns eine Reihe von Kriegsanekdoten
ähnlichen Inhalts. Am nächsten der der Abendblätter steht
die folgende (Bd. 1, 4, 13):
Ein preußischer Husar vom Regimente von Würtenberg
kehrt auf der Retirade in ein Wirthshaus vor B
auf dem
Harze ein. Er hat sein Pferd in ein andres entfernteres Haus
untergebracht, und überläßt sich hier und sorglos um die nahe
Gefahr, dem Vergnügen, seinen Durst einmal wieder in langen
Zügen stillen zu können. Nicht lange darauf sieht man feindliche
Reuter sich dem Orte nähern, und erinnert den Trinker das
Weite zu suchen.
Schon sprengen Feinde ins Städtchen es
sind fünf Franzosen vom 8. Husaren-Regiment. Jetzt erst
bequemt sich der Preuße nach seinem Pferde zu gehen
er sitzt auf, schon im Gesicht seiner Feinde; reutet ihnen
entgegen, hauet den ersten nieder, schießt einen zweiten vom
Pferde, und nun erst verläßt er den Ort verfolgt von den drei
übrigen Reutern. Nicht funfzig Schritt vor dem Thore hält
er und <358:> erwarter ruhig seine Gegner. Sie kommen.
Ein langer hitziger Kampf beginnt. Des Preußen Muth, Glück,
seine eigne und seines Pferdes Gewandtheit lassen ihn auch
diesen glücklich bestehen, und leblos liegen die drei Feinde
vor seinen Füßen. Ganz langsam ritt der Brave nun weiter.
Immer in diesen Reiterstückchen ist der Schauplatz ein Städtchen
und das Herein- und Hinaussprengen zum Thore spielt seine
Rolle. Ich meine, daß Kleist aus einer solchen Vorlage unbemerkt
das bei ihm nicht mehr passende Thor beibehalten
hat. Aber warum verlegte Kleist dies Reiterstückchen in ein
Dorf? Die Antwort kann nur lauten: weil daneben eine
zweite Quelle, und zwar eine mündliche, es so von ihm
verlangte.
Als Erzähler und letzter Gewährsmann der Kleistischen
Anekdote wird nämlich der Gastwirth eines Dorfes bei Jena
eingeführt. Wem dieser sie erzählt habe, deutet der
Eingang der Anekdote an: In einem bei Jena liegenden
Dorf, erzählte mir, auf einer Reise nach Frankfurt,
der Gastwirth, daß &c. Die factische Angabe der
Reise nach Frankfurt ist so unschuldiger Art, daß man eine
litterarische Irreführung oder eine andere ähnliche Nebenabsicht
darin nicht erblicken wird. Nehmen wir aber, was zunächst
liegt, an, Kleist spräche von sich selber, so gelangten wir
unstreitig in den Besitz eines biographischen Momentes für
ihn, das unterzubringen wäre. Nur von Köpke ist früher, soweit
ich sehe, die Schwierigkeit begriffen worden. Er half sich
noch mit der Annahme, Kleist sei vielleicht auf seinem Transport
nach Joux 1807 durch Jena gekommen, während wir jetzt wissen
können, daß der Transport damals von Berlin über die in französischen
Händen gehaltenen Festungen Spandau und Magdeburg über Cassel,
Marburg &c. nach Frankreich ging; erst im August 1807
traf Kleist aus Frankreich wieder in Berlin ein. Aber auch
die folgenden Jahre 1807 bis <359:> 1810 gewähren uns
nirgends die Möglichkeit, den Besuch in Jena unterzubringen.
Eine Ueberschau zeige dies. Im Herbst 1807 Kleist von Berlin
über Cottbus nach Dresden; Aufenthalt in Dresden bis Frühjahr
1809; alsdann in Böhmen und Prag bis November 1809; 23. November
1809 in Frankfurt a. O. und Rückreise nach Oestreich;
auf uns unbekannter Route, wahrscheinlich die Donaulinie aufwärts,
durch Süddeutschland; 12. Januar 1810 auf der Durchreise
in Frankfurt a. M. und in beschleunigtem Tempo über Gotha
(28. 1. 1810) nach Berlin, wo Kleist etwa den letzten
Januar eintrifft. Er kann also auch in diesen Jahren nicht
auf einer Reise nach Frankfurt Jena berührt haben:
so daß für uns die Nothwendigkeit des Anerkenntnisses entsteht,
daß ein Anderer das preußische Bravourstück im Jenaer
Dorfe erzählen hörte und es Kleist, mündlich oder schriftlich,
für die Benutzung in den Abendblättern mittheilte.
So sind in Kleists Anekdote zwei verschiedene
Quellen zusammengeflossen. Das Eigenthümliche aber, das Kleist
der von ihm neu geschaffenen Anekdote, und nicht blos dieser
allein, verliehen hat, ist die Auffassung der Dinge vom Offiziers-Standpunkte
aus. Die ungeheure Masse der gewöhnlichen Kriegsanekdoten
von damals kennt diese Art der Darstellung überhaupt noch
nicht, was ganz natürlich erscheint, da sie fast ausschließlich
in den niederen Ständen des Volkes, mit denen sich allein
der Soldat, nicht der vornehme Offizier, auf dem Fuße der
Gleichheit berührte, ihre Formung empfangen haben. Die gewöhnliche
Kriegsanekdote in Prosa ist dem Volks-Kriegsliede in gebundener
Rede zu vergleichen. Kleist dagegen stilisirte die Anekdote
bewußt und kunstgemäß. Er behandelt sie, wie nach der Affaire
im Kreise der Kameraden ein Rittmeister die flotten Streiche
seiner Kerle rühmt. Denn Kerl, ein
Wort das Kleist eigentlich erst in diese Gattung <360:>
Kleinlitteratur einbürgerte, ist in der preußischen Militärsprache
die derb-gemüthlich subordinirende Benennung des gemeinen
Soldaten, die nichts Verletzliches an sich trägt. Gerade in
den Kriegsanekdoten steckt für uns litterarisch der preußische
Garde-Leutnant, der Heinrich von Kleist auch als Civilist
geblieben ist.
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