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                   Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe 
                    (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 351-355 
                     
                    6. Der verlegene Magistrat. 
                     
                      
                    Eine unerschöpfliche Anekdotenquelle mußte für Kleists 
                    Abendblätter die Unmasse von Geschichten sein, die von Mund 
                    zu Mund damals umliefen. Aber diese allerreichste Quelle ist 
                    litterarisch heute beinah unfaßbar für uns. Für eine größere 
                    Anzahl der Anekdoten, die so entstanden sind, wird danach 
                    eine irgendwie beschaffene litterarische Herkunftsbestimmung, 
                    wie sie vorhin gegeben werden konnte, ganz unmöglich bleiben. 
                    Nur einem günstigen Zufall dürften wir erwünschte Ausnahmen 
                    zu danken haben. 
                     Dies ist, wie ich zeigen will, bei der Anekdote vom 
                    verlegenen Magistrat der Fall. Sie steht im 4. Abendblatt, 
                    vom 4. October 1810 mit dem Zeichen rz, 
                    und ist nach der vom General Hulin (oben S. 341) die 
                    erste größere Anekdote, der wir in Kleists Zeitung begegnen. 
                    Ich sage mein Resultat voraus: die ursprüngliche Niederschrift 
                    wird von Arnim sein, die Ueberarbeitung ist von Kleist. <352:> 
                     Nämlich Kleists Brief an Arnim vom 14. October 
                    1810, den Zwist wegen Friedrichs Seelandschaft betreffend, 
                    eröffnet zugleich Ausblicke auf Arnims Mitarbeiterschaft, 
                    denen wir folgen müssen. Ich erinnere mich genau (schreibt 
                    Kleist an Arnim), daß ich Sie, während meiner Unpäßlichkeit, 
                    wegen einer undeutlichen Stelle willen, die Einer Ihrer Aufsätze 
                    enthielt, zu mir rufen ließ 
 Wie ich mit dem verfahre, 
                    worunter Ihr Eure Namen setzt, das wißt Ihr; was soll ich 
                    aber mit Euren anderen Aufsätzen machen, die es Euch leicht 
                    wird, lustig und angenehm hinzuwerfen, ohne daß Ihr immer 
                    die nothwendige Bedingung, daß es kurz sei, in Erwägung zieht? 
                    Es ergiebt sich daraus, daß in den früheren Abendblättern, 
                    vor dem 14. October, Arnimsche Beiträge, theils 
                    mit dem Namen gezeichnet, theils anonyme die Kleist überarbeitete, 
                    vorhanden sein müssen. Der erste Fall erledigt sich selbst, 
                    da das Räthsel auf ein Bild der Ausstellung (oben S. 260), 
                    und zwar dies allein, mit L. A. v. A. unterschrieben 
                    ist. Die zweite Andeutung aber reizt um so mehr zu dem Versuche 
                    einer Klarstellung, als sich bei Arnim unmittelbar nichts, 
                    das weiter hülfe, findet. Brentano freilich bezeugt in seinem 
                    Octoberbriefe an Grimms in Cassel für Arnim mit: wenn 
                    uns was begegnet, geben wir es ihm (Kleist); und wenn 
                    Brentano, noch verdrießlich von dem letzten Aerger her, hinzusetzt, 
                    es stehe viel Langeweile und Müllersches vornehmes 
                    Wesen, und manche gute Anekdote drin, so wird Arnimsches 
                    Eigenthum natürlich am ehesten unter dem von Brentano Nicht-Getadelten, 
                    also den Anekdoten, zu suchen sein. Arnim war ja allen seinen 
                    Freunden als der echte Anekdotenjäger bekannt. 
                     Die erste selbständige Anekdote von denen vor 
                    dem 14. October 1810 ist nun, wie gesagt, die vom verlegenen 
                    Magistrat. Niemand wird in Abrede stellen, daß sie uns <353:> 
                    Kleistisch beim Lesen anmuthet. Man hat sie deshalb, seit 
                    Köpke, den Werken Heinrichs von Kleist einverleibt. 
                    Aber dieselbe Anekdote erzählt nun auch Arnim, gut drei Jahre 
                    später, in seinem Preußischen Correspondenten vom 31. Januar 
                    1814. Ich lasse die beiden Fassungen folgen. 
                     
                     Abendblätter 1810: 
                    Der verlegene Magistrat. 
                     Eine Anekdote. 
                    Ein H
r Stadtsoldat hatte vor nicht gar langer Zeit, 
                    ohne Erlaubniß seines Offiziers, die Stadtwache verlassen. 
                    Nach einem uralten Gesetz steht auf ein Verbrechen dieser 
                    Art, das sonst, der Streifereien des Adels wegen, von großer 
                    Wichtigkeit war, eigentlich der Tod. Gleichwohl, ohne das 
                    Gesetz, mit bestimmten Worten aufzuheben, ist davon seit vielen 
                    hundert Jahren kein Gebrauch mehr gemacht worden: dergestalt, 
                    daß statt auf die Todesstrafe zu erkennen, derjenige, der 
                    sich dessen schuldig macht, nach einem feststehenden Gebrauch, 
                    zu einer bloßen Geldstrafe, die er an der Stadtcasse zu erlegen 
                    hat, verurtheilt wird. Der besagte Kerl aber, der keine Lust 
                    haben mochte, das Geld zu entrichten, erklärte, zur großen 
                    Bestürzung des Magistrats: daß er, weil es ihm einmal zukomme, 
                    dem Gesetz gemäß, sterben wolle. Der Magistrat, der ein Mißverständniß 
                    vermuthete, schickte einen Deputirten an den Kerl ab, und 
                    ließ ihm bedeuten, um wieviel vortheilhafter es für ihn wäre, 
                    einige Gulden Geld zu erlegen, als arquebusirt zu werden. 
                    Doch der Kerl blieb dabei, daß er seines Lebens müde sei, 
                    und daß er sterben wolle: dergestalt, daß dem Magistrat, der 
                    kein Blut vergießen wollte, nichts übrig blieb, als dem Schelm 
                    die Geldstrafe zu erlassen, und noch froh war, als er erklärte, 
                    daß er, bei so bewandten Umständen am Leben bleiben wolle.  rz. 
                     
                     Preußischer Correspondent 1814. 
                    Hamburg hatte in ältester Zeit strenge kriegerische Verhältnisse 
                    und Vorsicht gegen die Nachbarn zu beobachten, da wurde das 
                    ernste Gesetz gegeben, daß jeder Bürger an dem Leben gestraft 
                    werden solle, der seinen Wachposten verließe. Statt der Lebensstrafe 
                    war dann in später Zeit die Strafe von 12 Schillingen 
                    eingeführt, doch traf es sich vor einigen Jahren, daß ein 
                    sehr geiziger Pantoffelmacher auf Wache war und nothwendige 
                    Arbeit zum Feste zu Hause hatte stehen lassen, <354:> 
                    und immer etwas weiter von seinem Posten abging, bis er endlich 
                    zu Hause war und beim Arbeiten die Zeit der Ablösung nur um 
                    einen Augenblick versäumte. Als er nun außer Athem der Ablösung 
                    nachgelaufen kam, verurtheilte ihn der Officier in die Strafe 
                    der 12 Schillinge, er aber des alten Rechts kundig, erklärte, 
                    daß er keinen Schilling gebe, er wolle nach dem Kriegsrecht 
                    hingerichtet sein. Umsonst machte ihm der Officier Vorstellungen, 
                    er bestand auf seinen Sinn, es wurde der Beichtvater geschickt, 
                    alles vergebens, was sollten die Kameraden thun, sie baten 
                    ihn um Gottes willen, ausser den 12 zu Bezahlung der Strafe 
                    24 Schilling von ihnen als Geschenk anzunehmen, damit 
                    sie ihn nur nicht zu erschießen brauchten. 
                     
                    Arnims Fassung im Preußischen Correspondenten ist von 
                    der der Abendblätter litterarisch unabhängig. Arnim hat den 
                    Namen Hamburg voll gesetzt, den Kleist nach seiner uns schon 
                    bekannten Redactionsgewohnheit mit Punkten andeutet. Das wäre 
                    bei litterarischer Abhängigkeit nicht möglich gewesen. 
                    Der Geist der Arnimschen Fassung ist viel anekdotenhaft-unschuldiger, 
                    absichtsloser, als in der von Kleist gedruckten Form. Arnims 
                    Darstellung kann daher gar nicht aus der der Abendblätter 
                    geflossen sein, wohl aber ist der umgekehrte Hergang denkbar. 
                    Ich stelle mir die Sache folgendermaßen vor. Arnim lieferte 
                    auch schon 1810, gewiß in sehr ähnlicher, nicht gleicher Niederschrift, 
                    Kleist die Anekdote für die Abendblätter: für Anekdoten, Scherze, 
                    Sagen und dergleichen leichte Umgangswaare pflegt die einmal 
                    getroffene Ausdrucksform im ganzen fest zu bleiben. Kleist 
                    bearbeitete den von Arnim ihm aufgeschriebenen Spaß. Er brachte 
                    in die sorglose Behandlung Arnims einen gewissenhaft 
                    genauen, etwas steifen Zug. Das Spießbürgerlich-Gemüthliche, 
                    mit dem Beigeschmack der guten alten Zeit, drehte er modernisirend 
                    in das Militärisch-Curiose um. Er erfand erst als höhere Instanz 
                    über dem Offizier den Magistrat, der doch in Hamburg niemals 
                    meines Wissens existirt hat. 
                     So würde die Doppelchiffre rz eine 
                    entsprechende Be- <355:> deutung erhalten. z 
                    würde auf Kleists, r aber auf Arnims 
                    Namen gehen. Obwohl, was betont sei, ich auf dieses Moment 
                    kein Gewicht zu legen vermag. 
                     
                    
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