Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe
(Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 345-347
3. Anekdote
(über Napoleon).
Steht in den Berliner Abendblättern Nr. 39, vom 14. November
1810, unterschrieben Misc. d. n. Weltk.
womit gemeint sind Zschokkes in Aarau erschienene Miscellen
für die neueste Weltkunde; die citirte Stelle findet sich
dort in Nr. 87 vom 31. October 1810. <346:>
Man würde irren, hielte man die Sache mit diesem Stellennachweis
für abgethan. Kleist hat die Dinge wieder nach seiner Art
frei behandelt. Die Miscellen bringen einen aus Deutschland
eingelieferten Bericht über den damals soeben herausgekommenen
zweiten Theil der Reise mit der Armee im Jahr 1809
(Rudolstadt, 1810). Von den Anekdoten desselben werden einige
ausgehoben, die ein Franzose, in dessen Gesellschaft
der Verfasser reisete, mittheilte. Z. B. Napoleons
ehemalige Neigung zur jetzigen Princessin von Pontecorvo;
seine Leutseligkeit gegen untere Stände; seine Anhänglichkeit
und Nachgiebigkeit denen gegenüber, die ihm nahe standen.
Kleist wußte, daß das anonyme Reisewerk, in dem sein Phöbus
öfters citirt war, seinen Freund Rühle von Lilienstern zum
Verfasser hatte, und er war deshalb um so eher geneigt, zur
Empfehlung des Buches durch seine Abendblätter beizutragen.
Aber er that es wieder mit derjenigen umgestaltenden Freiheit,
die er sich fremden Texten gegenüber gestattete. Es heißt
in den genannten Miscellen:
Auch habe man Beispiele, daß der Kaiser von heftiger
Rührung übermeistert werde. So habe er bei der Schlacht von
Aspern den verwundeten Marschall Lannes mit großer
Bewegung lange in seinen Armen gehalten; und aus eben jener
Schlacht erzähle man, der Kaiser habe im Kartätschenfeuer
auf dem Schlachtfelde den Angriff seiner Kavallerie auf die
österreichischen Linien beobachtet; ringsum hätten eine Menge
Blessirter schweigend im Staube gelegen, um dem Kaiser nicht
mit ihrem Wehklagen zur Last zu fallen. Als aber bald darauf
ein Kürrassierregiment, feindlicher Uebermacht ausweichend,
über die Schweigenden wegsprengte, hätte sich ein lautes Geschrei
erhoben, mit dem untermischten Ausruf: Vive lEmpereur!
Vive Napoléon! Darauf habe der Kaiser die Hand vors Gesicht
gehalten und die Thränen seien ihm über die Wangen herab gestürzt.
Dagegen bieten die Berliner Abendblätter:
Anekdote.
In einem Werke, betitelt: Reise mit der Armee im Jahre
1809. Rudolstadt, Hofbuchhdl. 1810. erzählt ein Franzose folgende
Anekdote <347:> vom Kaiser Napoleon, die von seiner
Fähigkeit, lebhafte Regungen des Mitleids zu empfinden, ein
merkwürdiges Beispiel gibt. Es ist bekannt, daß derselbe,
in der Schlacht bei Aspern, den verwundeten Marschall Lasnes
lange mit großer Bewegung in den Armen hielt. Am Abend eben
dieser Schlacht beobachtete er, mitten im Kartätschenfeuer,
den Angriff seiner Cavallerie; eine Menge Blessirter lagen
um ihn herum schweigend, wie der Augenzeuge dieses
Vorfalls sagt, um dem Kaiser, mit ihren Klagen, nicht zur
Last zu fallen. Drauf setzt ein ganzes französisches Kuirassierregiment,
der feindlichen Uebermacht ausweichend, über die Unglücklichen
hinweg; es erhebt sich ein lautes Geschrei des Jammers, mit
dem untermischten Ausruf (gleichsam um es zu übertäuben):
Vive lEmpereur! Vive lEmpereur! Der Kaiser
wendet sich; indem er die Hand vors Gesicht hält, stürzen
ihm die Thränen aus den Augen, und nur mit Mühe behält er
seine Fassung.(Misc. d. n. Weltk.)
Kleists Umarbeitungsmittel greifen, wie man sieht, diesmal
nicht sehr tief ein. Er hat durchgehends wieder Rühles
in abhängiger Rede gegebenen Bericht in die directe Rede des
Erzählers zurückgesetzt. Sachlich ist zu bemerken, daß er
aus Nationalgefühl geradeso die österreichischen Linien hier
herausredigirt hat, wie die baierschen Truppen aus der vorigen
Anekdote. Dadurch ist freilich unserer Anekdote ein anderer
Ton und eine andere Haltung verliehen worden.
So hat Kleist einen Text seines Freundes Rühle von
Lilienstern in den Bereich seiner Schriftstellerei hineingezogen.
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