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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 343-345

2. Anekdote aus dem letzten Kriege.


Steht in den Berliner Abendblättern Nr. 18, vom 20. October 1810. Aufgenommen in Kleist’s Schriften. Kleist ist aber wieder nur der Bearbeiter. Die Vorlage findet sich auch in dem vorher erwähnten Sammelwerke, und zwar demselben Bande, wie die Franzosen-Billigkeit, entstammend.

Sammlung von Anekdoten 1810. 7, 246.
Sonderbarer Einfall im Augenblicke des Todes.
Ein Tambour des preußischen Infanterie-Regiments von Puttkammer zu Brandenburg gerieth nach der Schlacht von Jena in französische Gefangenschaft. Er fand aber doch Gelegenheit, wieder zu entwischen und sich in den Besitz eines Gewehrs und scharfer Patronen zu setzen. So bewaffnet, suchte er sich nun, mitten in dem Getümmel des Krieges, nach seiner Heimath durchzuschleichen und, wo er Widerstand fand, sich den Weg mit Gewalt zu bahnen. Dies glückte ihm auch einige Tage über und er streckte manchen Feind zu Boden. Endlich aber wurde er aber doch von einem Commando baierscher Truppen zum Gefangnen gemacht und da es ausgemittelt wurde, daß er aus der ersten Gefangenschaft entwischt sey und nachher manchen getödtet, so wurde er durch ein Kriegsgericht verurtheilt, füsilirt zu werden.
Nachdem man ihm diese Sentenz publicirt hatte, wurde er zum Richtplatz geführt. Unerschrocken schritt er einher, und als er zu dem, das Executionscommando anführenden baierschen Offizier kam, stand er still und bat: ihm noch vor seinem Tode eine Gnade zu gewähren. Der Offizier bewilligte ihm seine Bitte. „Nun so bitt’ ich,“ versetzte der zum Tode Verurtheilte: „mich im Hintern schießen zu lassen, damit der Balg ganz bleibe.“

Kleist’s Berliner Abendblatt Nr. 18.
Anekdote aus dem letzten Kriege.
Den ungeheuersten Witz, der vielleicht, so lange die Erde steht, über Menschenlippen gekommen ist, hat, im Lauf des letztverflossenen Krieges, ein Tambour gemacht; ein Tambour meines Wissens von dem damaligen Regiment von Puttkammer; ein Mensch, zu dem, wie man gleich hören wird, weder die griechische noch römische Geschichte ein Gegenstück liefert. Dieser hatte, nach Zersprengung der preußischen Armee bei Jena, ein Gewehr aufgetrieben, mit welchem er auf seine eigne Hand den Krieg fortsetzte; dergestalt, daß da er, auf der Landstraße, Alles, <344:> was ihm an Franzosen in den Schuß kam, niederstreckte und ausplünderte, er von einem Haufen französischer Gensdarmen, die ihn aufspürten, ergriffen, nach der Stadt geschleppt, und, wie es ihm zukam, verurtheilt ward, erschossen zu werden. Als er den Platz, wo die Execution vor sich gehen sollte, betreten hatte, und wohl sah, daß Alles, was er zu seiner Rechtfertigung vorbrachte, vergebens war, bat er sich von dem Obristen, der das Detaschement commandirte, eine Gnade aus; und da der Oberst, inzwischen die Officiere, die ihn umringten, in gespannter Erwartung zusammentraten, ihn fragte: was er wolle? zog er sich die Hosen ab, und sprach: sie mögten ihn in den … schießen, damit das F… kein L… bekäme. – Wobei man noch die Shakespearsche Eigenschaft bemerken muß, daß der Tambour mit seinem Witz, aus seiner Sphäre als Trommelschläger nicht herausging.x.

Auch diese Anekdote muß in Berlin willkommen gewesen sein. Denn genau zur selben Zeit mit den Abendblättern, brachte sie „Der Beobachter an der Spree“, in seiner Nummer vom 22. October 1810, S. 681\*\. Aber während sein Herausgeber Wadzeck sie buchstäblich der Anekdotensammlung nachdruckte – anstatt „Truppen“ findet sich nur allein die Variante „Soldaten“ – und blos für den geneigten Leser die Ueberschrift „Wahre Anekdote aus dem letzten Feldzuge“ zusetzte, sehen wir mit Entzücken das kleine Meisterstück an, das Kleist geliefert hat! Ihm kommt es darauf an, die Bravour des Tambours in kolossaler Wirkung erscheinen zu lassen; die Richtigkeit im Kleinen ist ihm Nebensache, die er seinem Zwecke zuliebe wegwirft. Er drängt das breitere Nebeneinander der Geschehnisse enger zusammen. Das Entspringen und Wieder-gefangen-werden des Tambours läßt er fort, unbekümmert darum, daß es doch allein die Füsilade motivirt. Er kann auch die Rheinbunds-Baiern als die Feinde, <345:> gegen die er Haß erwecken will, nicht brauchen. Er kennt nur einen Feind für alle Deutsche. Unbedenklich setzt er die Franzosen statt der Baiern ein. Das ist dieselbe Regung, die uns noch heute schwer macht auszusprechen, daß Theodor Körner 1813 nicht von Franzosenhand den Säbelhieb und die tödtliche Kugel empfangen hat. Auch darin folgt Kleist seiner Seelenkenntniß, daß er den Tambour für sein Leben erst das Mögliche versuchen läßt. Kleist wußte, wie sein Prinz von Homburg, daß der Mensch nicht ohne großen Schmerz die Fäden seines Daseins von der Erde löst. Aber ist’s entschieden, dann faßt der Soldat unerschrocken seinen Tod ins Auge. Der deutsche Humor beim Sterben war damals und ist heut noch nicht erloschen unter uns. Und wie derb-grotesk nun Kleist die Scene aus eignen Stücken malt, ohne daß ihn die Vorlage dazu genöthigt hätte! Da empfindet man als richtig, was Arnim seinem Freunde Grimm über Kleist’s Charakter schrieb, daß in ihm Unschuldig-Kindliches und Gutmüthiges mit unglaublich Starrem, ja bisweilen Cynischem vereinigt sei. Da sieht man, wie Kleist ein märkischer Junker war und stets geblieben ist.
Also: Der Eingang und der shakespearisirende Schluß sind Kleist’s Eigenthum. Die große Mitte hat einen ursprünglich fremden Kern. Die Herausgeber werden vielleicht künftig diese Anekdote noch in Kleist’s Schriften unter die Parerga aufzunehmen haben.

\*\ Der formale Unterschied zwischen dem Datum 18. October und 20. October ist in Wirklichkeit nicht vorhanden. Der Beobachter an der Spree erschien wöchentlich in einer Nummer und war für gewöhnlich schon ein paar Tage vorher fertig.

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Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
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