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                   Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe 
                    (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 339-341 
                     
                    Einordnung 
                    der Anekdote in Kleists Zeit  
                      
                    I. Anekdote. 
                     
                    Zu Kleists Zeit hatte das Wort Anekdote meist einen 
                    andern Sinn als den heute uns geläufigen. Es bedeutete eine 
                    wirklich geschehene, höchst merkwürdige und für die umgebenden 
                    Verhältnisse charakteristische Geschichte, in geschlossener 
                    Form als eine kleine Wichtigkeit für sich erzählt. Der heutige 
                    Sinn, daß es sich mehr um eine erfundene, wenn auch gut erfundene 
                    Sache handele, beginnt erst schüchtern sich einzustellen. 
                     Die Anekdote war bei den Romantikern sehr beliebt. 
                    Eine Zeit und Zeitrichtung, die Herodots Darstellung 
                    aus <340:> innerer Verwandtschaft der des Thucydides 
                    vorzog, fand wieder in der Anekdote mehr allgemeine Wahrheit, 
                    als in dem der kritischen Behandlung bequemeren sog. exacten 
                    Material. Die Zeit vor den Freiheitskriegen schwelgte geradezu 
                    in Anekdoten. Jede Zeitung, jedes Journal setzte sie den Lesern 
                    als stets willkommene Speise vor. Es gab Anekdoten-Almanache 
                    und durch Bände sich fortziehende Anekdoten-Sammlungen, z. B. 
                    in Berlin die von Karl Müchler, die begierig aufgenommen wurde. 
                    Die unaufhörlichen Feldzüge brachten eine unerschöpfliche 
                    Masse von Soldaten- und Kriegsanekdoten hervor, die gleichfalls 
                    zu vielbändigen Werken vereinigt wurden, wie die Sammlung 
                    von Anekdoten und Charakterzügen aus den beiden merkwürdigen 
                    Kriegen in Süd- und Nord-Deutschland in den Jahren 1805, 6 
                    und 7 in zehn Bänden. Und wieviel Anekdoten gingen mündlich 
                    um, die nie aufgezeichnet worden sind. Kurz, wir sehen uns 
                    hier vor eine ausgedehnte Litteratur und eine unergründliche 
                    ungeschriebene Litteraturquelle gestellt. 
                     Es ist bekannt, daß Arnim und Brentano ein ganz einziges 
                    Vergnügen an Anekdoten oder anekdotenmäßig erzählten Geschichten 
                    hatten. Die Anekdote bedarf eines gesellig und persönlich 
                    angeregten Menschenkreises zu ihrem Aufkommen. Arnim und Brentano 
                    waren solche Geselligkeitsmenschen. Weniger Kleist, der aus 
                    der Lustigkeit, welcher er wohl fähig war, doch leicht wieder 
                    in seinen schweren Ernst zurückfiel. In Kleists Briefen, 
                    Schriften und Erlebnissen vor der letzten Berliner Zeit hat 
                    die Anekdote als solche kaum eine Bedeutung für seine Art. 
                    Erst in seinen Berliner Abendblättern tritt sie in einer gewissen 
                    Masse hervor. Wir werden dies als eine Folge seines Berliner 
                    Verkehrs mit Arnim, Brentano und den Freunden von der Kriegsparthei 
                    erkennen dürfen. 
                     Die Anekdoten hatten, als kurze Stücke meistens, für 
                    die Redaction den Vortheil, sich leicht als Füllsel eines 
                    Blattes <341:> oder auch als Lückenbüßer für plötzlich 
                    ausgebliebenes oder von der Censur gestrichenes Material verwenden 
                    zu lassen. In der Reihenfolge, in welcher sie Kleist zum Abdruck 
                    brachte, liegt kein beabsichtigter innerer Fortschritt vor, 
                    und so kümmere ich mich in der folgenden Betrachtung nicht 
                    darum, sondern mache die Reihe so, wie ich sie für meine Zwecke 
                    brauche. 
                     
                    
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