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                   Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe 
                    (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 324-338 
                     
                    6. 
                    Die Reform der preußischen Volksschule.  
                     
                     Geschah die Gründung der Universität 
                    in der Absicht, der höchsten Jugenderziehung eine neue, nationale 
                    Grundlage zu geben, so mußte nothwendig auch das mittlere 
                    Schulwesen und die Volksschule Preußens in die Reform hineingezogen 
                    werden. Am glattesten ging die Reform im mittleren Schulwesen 
                    von Statten. Denn die Gymnasien in der Hauptstadt und in den 
                    wenigen bedeutenderen Provinzialstädten fühlten sich als die 
                    alten Gelehrtenschulen, denen es auf das Wissenschaftliche, 
                    und nicht auf das Schulmännische ankam. Die Reform derselben 
                    hielt sich, gewährleistet durch Humboldt, Wolf, Schleiermacher 
                    und andere, im Einklang mit den Bedürfnissen und dem Zustande 
                    der Universitäten. Ueber die Frage jedoch, wie die Volksschule 
                    neu zu organisiren sei, erhob sich der Streit der Meinungen: 
                    in den auch Heinrich von Kleists Berliner Abendblätter 
                    eingriffen. Sie brachten einen umfangreichen Aufsatz, Allerneuester 
                    Erziehungsplan betitelt, den ich, weil er seit Köpke 
                    in Kleists Schriften aufgenommen ist, in der Hand der 
                    Leser voraussetzen darf. 
                     Die pädagogische Welt stand unter dem Banne Pestalozzis 
                    und seiner Erziehungsanschauungen, wie sie am reinsten und 
                    faßlichsten in Lienhard und Gertrud dargelegt worden waren. 
                    Pestalozzis System beruhte mit auf Rousseauschen 
                    <325:> Gedanken. Ihm war die Gleichheit und Bildungsfähigkeit 
                    der Kinderseelen ein Glaubenssatz, von dem aus er vorwärts 
                    ging. Wenn nur das Kind nach einem sittlich vorher erwogenen, 
                    kunstpädagogisch aufgestellten Plane erzogen werde, so müsse 
                    aus ihm mit folgerichtiger Nothwendigkeit ein Kunstwerk der 
                    Erziehung werden. Alle Kinder, nach der gleichen Idee erzogen, 
                    würden eine neue Generation sittlicher Menschen hervorbringen, 
                    die keinen Unterschied, keine Schranke zwischen den Völkern 
                    und innerhalb ihres Volkes kennten. In Pestalozzis Bestrebungen 
                    lag ein kosmopolitisches und ein demokratisirendes Moment. 
                    Danach war, innerhalb der damaligen Machtverhältnisse, Zuneigung 
                    oder Abneigung gegenüber dem Pestalozzischen System 
                    bedingt. 
                     In Königsberg fand es bei Kants und Kraus 
                    Anhängern leichten Eingang. Die dort herrschende scharfe Verstandesbildung 
                    und der politische Liberalismus fühlte das Verwandte in Pestalozzis 
                    System heraus. Der greise Scheffner hielt die neue Unterrichtsmethode 
                    für die dem gemeinsten Kinderverstande angemessenste, die 
                    dem Geiste alles aus seinem eigenen Vorrathe hervorzubringen 
                    helfe; König und Königin selbst gewann er für das neue System. 
                    So konnte Nicolovius schon 1807 damit beginnen, in Königsberg 
                    die Elementarschule auf Pestalozzischer Grundlage aufzubauen 
                    und zur Ausbildung der Lehrer ein Normalinstitut anzulegen, 
                    in dessen Leitung er den bis dahin württembergischen Oberschulrath 
                    Zeller berief, der als pädagogische Autorität im Sinne Pestalozzis 
                    galt. Ebenso wie Nicolovius dachte Schön. Ja selbst Wilhelm 
                    von Humboldt war für die Einführung der Pestalozzischen 
                    Methode, wenn sie auf die rechte Weise geschehe: mit diesem 
                    wenn jedoch trennte sich Humboldt von den unbedingten 
                    Anhängern Pestalozzis. 
                     In Berlin neigte sich Fichte den Gedanken Pestalozzis 
                    <326:> zu. Beide Männer verlegten, ein Jeder auf seine 
                    Art, die entscheidende Thätigkeit des Menschen in das eigne 
                    geistige Innere. In seiner neunten Rede an die deutsche Nation 
                    pries Fichte Pestalozzis System als dasjenige, von dem 
                    die nationale Erneuerung zu hoffen sei. Am wichtigsten ist 
                    Fichtes zehnte Rede jedoch. Denn hier kam er in Consequenz 
                    seiner Lehre, daß das Kind von Natur ohne alle Ausnahme recht 
                    und gut sein wolle, daß es aber in Berührung mit den Erwachsenen, 
                    die in der Regel durchaus verkehrt seien, nothwendig verderben 
                    müsse, zu der Forderung, daß die Kinder in gänzliche Absonderung 
                    von den Erwachsenen mit ihren Lehrern und Vorstehern allein 
                    zusammenleben sollten. Fichtes Reden hatten gewiß einen 
                    großen, aber nicht einen so überwältigenden Einfluß, wie es 
                    gewöhnlich dargestellt zu werden pflegt. Es lehnte sich vielmehr 
                    eine starke Strömung gegen sie auf. Allein Fichte ergriff 
                    und begeisterte die Jugend, und aus dieser habe ich hier Einen 
                    zu nennen: Karl von Raumer. 
                     Dieser Raumer, Friedrichs jüngerer Bruder, auf 
                    dem Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin erzogen, war der 
                    Schul- und Universitätsfreund Achims von Arnim, zu dem 
                    er, auch nach dem Zerwürfniß mit seinem Bruder, immer treu 
                    gehalten hat. In noch unentschiedenen Jugendjahren trieb er 
                    naturwissenschaftliche und historische Studien unverknüpft 
                    neben einander, bis er durch Steffens zündende Beredtsamkeit 
                    und vertrautes Zusammenleben mit Schubert die Gewißheit einer 
                    höheren Vereinbarkeit beider Richtungen sich erwarb. Er war 
                    eine lehrhafte Natur, die nicht bloß für die Wissenschaft 
                    arbeitete, sondern auch Andere unterrichten und zur Wissenschaft 
                    erziehen wollte. Fichtes Reden schienen ihm den Weg 
                    zu weisen, den er einschlagen müsse, um sich zur Quelle pädagogischer 
                    Erkenntniß durchzuarbeiten. Es erwachte in ihm der Entschluß, 
                    zu Pestalozzi <327:> zu gehen. Er kam Ende October in 
                    Yverdun an. Im Herbst 1810 war er wieder in Berlin. 
                     Raumer hat sich über die Eindrücke, die er in Yverdun 
                    empfing, und die Umwandlung, die sie in ihm hervorriefen, 
                    in seinen Lebenserinnerungen ausgesprochen. Er kam, in seinen 
                    Erwartungen gänzlich getäuscht, nach Berlin zurück und nahm 
                    nun hier gerade den Verkehr mit denjenigen wieder auf, mit 
                    welchen sein Bruder Friedrich um der politischen Tendenzen 
                    der Abendblätter willen auf gespanntem Fuße stand. Bei seinem 
                    späteren Schwager Pistor saß er Abends oft mit Arnim und Brentano 
                    zusammen, kam zu Schleiermacher, Savigny und Reimer. Karl 
                    von Raumers praktische Erfahrungen bestärkten den vorhandenen 
                    Widerwillen gegen die Rousseau-Pestalozzi-Fichteschen 
                    Neuerungen. In seinem Wintergarten 1809 (S. 113) hatte 
                    sich Arnim dahin ausgesprochen: Wisset, daß die Kinder 
                    noch dreifach schlechter als wir gerathen, wenn wir uns zum 
                    Besseren aufgeben, denn nur das lebendige Beispiel erzieht, 
                    das gleichzeitig vom Alter zur Jugend, von der Jugend zum 
                    Alter übergeht, keine Pestalozzische Schule für sich allein! 
                    Und jetzt schrieb Arnim an Wilhelm Grimm am 2. Nov. 
                    1810 (ungedruckt): Raumer hat mir viel Merkwürdiges 
                    erzählt. Das Elendwerden der dortigen Jugend, die ihr Vaterland 
                    endlich vergessend auch an einander nicht mehr theilnehmen, 
                    sondern in Angeberei, Freudelosigkeit, Stumpfsinn und eitler 
                    mechanischer Fertigkeit untergehen, ist mir höchst traurig 
                    gewesen zu hören. Du mußt dabei beachten, daß er mit einem 
                    ernsten Enthusiasmus für die Sache hingegangen, daß er sich 
                    allen Bedingungen wie ein andrer Schüler unterworfen, mit 
                    den Kindern in demselben Zimmer geschlafen hat, wo den Tag 
                    über ein fast ununterbrochenes Arbeiten sie festhält; daß 
                    er beinahe drei Monate von Pestalozzi geglaubt hat, daß ihn 
                    nur der Mangel <328:> an Handlangern hinderte, die Fehler 
                    zu bessern, bis er sich überzeugte, daß er, der weder unterrichtete 
                    noch speiste noch schlief mit den Kindern, sondern blos ein 
                    paarmal betete, seine besseren Ansichten in dem praktischen 
                    Gedränge aufgegeben, jetzt mehr für seinen auswärtigen Einfluß 
                    und Ruf arbeite als für das innere Beste des Instituts. Als 
                    er dies in sich festgestellt und den Sommer kommen sah, wo 
                    die Kinder statt zu lernen, fast täglich jedem Narren von 
                    Reisenden vorexercirt werden, da zog er ab mit dem Kleinen 
                    (Fritz Reichardt, dem Bruder seiner Braut) und endigte das 
                    zeitspielige Experiment, wovor der Himmel alle Kinder behüten 
                    mag, die er lieb hat. Da ist Herrnhut doch eine viel trefflichere 
                    Schulanstalt. 
                     Was Karl von Raumer in Yverdun erlebt hatte, empfing 
                    doch auch von dem Königsberger Normalinstitut her Bekräftigung. 
                    Es waren gerade damals, 1810, Reichardts Vertraute 
                    Briefe, geschrieben auf einer Reise nach Wien, herausgekommen; 
                    sie bringen anhangsweise Auszüge aus Briefen aus Königsberg 
                    in Preußen, die Zeller, sein Institut und seine Lehrmethode 
                    betreffen. Der ungenannte Autor dieser Königsberger Briefe 
                    ist Reichardts Schwestersohn Dorow, den wir als Arnims 
                    Mittelsmann für die Weiterpflege Königsberger Beziehungen 
                    kennen. Dorow thut so, als spräche er eignes Urtheil aus: 
                    er giebt aber nur die Anschauungen der Gegenparthei wieder, 
                    und darin liegt für uns heute allein das Wichtige. Dorow bringt 
                    Mancherlei gegen Zeller vor: daß die Zöglinge in seinem Institut 
                    die Kindlichkeit verlören; daß die Religion zum bloßen Erziehungsmittel 
                    herabgedrückt sei; daß Einer den Aufpasser des Andern spielen 
                    müsse; daß Zeller im allgemeinen sich öfter mit Fichte begegne, 
                    als mit Pestalozzi selbst, dessen Methode ihm nicht mehr genüge. 
                     Auch über Dorows Briefe liegt Arnims Meinung 
                    vor. <329:> Sie tadeln (schrieb er ihm) manches 
                    mit Recht, doch glaube ich, daß der Tadel eigentlich mehr 
                    die wohlhabenden Eltern trifft, die ihre Kinder aus dem gewohnten 
                    Kreise ihres Lebens herausreißen, zu dem sie doch gar bald 
                    wieder zurückkehren müssen. Man sieht genau, worauf 
                    Arnim hinauswollte. Er verwarf die Einführung des das Bildungsniveau 
                    herabdrückenden Gleichheitsprincips in die Schule. Er verlangte 
                    eine nach Person und Stand der Eltern individuelle Erziehung 
                    der Jugend. Das war auch Karl von Raumers durch sehr 
                    ernste Erfahrung errungene Ansicht. Man kann sich denken, 
                    daß es Männern wie Arnim, Kleist und ihren Gesinnungsgenossen, 
                    wo ihnen jetzt die Abendblätter zur Verfügung standen, sehr 
                    erwünscht gewesen wäre, wenn Raumer sich zu einer vergleichenden 
                    Darstellung der neuen Pestalozzischen Richtung und der 
                    altpreußischen Schule, entschlossen hätte. Es schlüge 
                    (meint Arnim zu Grimms) so herrlich die Philosophen 
                    Fichte und andere mehr zusammen. Doch Karl von Raumer 
                    gab aus Rücksichten, die seine Freunde nicht gelten lassen 
                    mochten, den Plan schließlich auf. Es existirte aber damals 
                    in Deutschland nur ein unabhängiger Mann von Ruf, der unbeirrt 
                    durch den Modeton sich gegen Pestalozzi, oder wenigstens nicht 
                    für ihn, ausgesprochen hatte: und das war Jean Paul 1807 in 
                    seiner Erziehungslehre, die er nach derjenigen römischen Göttin, 
                    welche das vor dem Vater niedergelegte Kind zu Leben und Erziehung 
                    von der Erde aufhebt, die Levana nannte. Er wagte es, in Deutschland, 
                    in welches Rousseaus geflügelte Samenkörner so massenhaft 
                    verweht und eingeackert worden waren, von der Rousseauschen 
                    Erziehung als einer rein negativen zu sprechen. Die Erziehung 
                    durch das Wort sei nichts ohne die lebendige That im Geiste 
                    der Zeit, der man angehöre. Damit aber hob Jean Paul 
                    die kosmopolitische, nationslose Richtung, all- <330:> 
                    gemeine Menschen zu bilden, die auch Raumer so zuwider war, 
                    auf und ersetzte sie durch die Forderung einer culturell und 
                    national bestimmten Erziehung der Jugend. Das war nach dem 
                    Sinne der Berliner Patrioten, und wie sie überhaupt Jean Paul 
                    wegen des deutsch-vaterländischen Gehaltes seiner Schriften 
                    schätzten, so nahmen sie ihn auch in der Erziehungsfrage zum 
                    Bundesgenossen in ihren Kämpfen an. 
                     Aus den dargelegten Verhältnissen, allgemeiner und 
                    besonderer Natur, ging nun in den Berliner Abendblättern der 
                    pädagogische Oppositionsartikel Allerneuester Erziehungsplan 
                    hervor, der am 29. October 1810 im 25. Blatt einsetzte, 
                    durch das 26. und 27. Blatt fortging und nach längerer 
                    Unterbrechung im 35. und 36. Blatte zum Abschluß gelangte. 
                    Das Ganze besteht aus vier in sich verschiedenartigen Theilen: 
                    den einleitenden Bemerkungen, dem eigentlichen Oppositionsartikel, 
                    anekdotenhaften Beispielen zu dessen Erläuterung, und der 
                    positiv fordernden Nachschrift. Die Theile müssen jeder für 
                    sich betrachtet werden. 
                     Die einleitenden Bemerkungen spielen wieder Versteck, 
                    gleichsam um den Leser zur Lectüre anzureizen. Zu welchen 
                    abentheuerlichen Unternehmungen (heißt es da), sei es nun 
                    das Bedürfniß, sich auf eine oder die andere Weise zu ernähren, 
                    oder auch die bloße Sucht, neu zu sein, die Menschen verführe, 
                    und wie lustig demzufolge oft die Insinuationen seien, die 
                    an die Redaction der Abendblätter einliefen: davon möge folgender 
                    Aufsatz, der der Redaction kürzlich zugekommen sei, eine Probe 
                    sein. 
                     Der eigentliche Aufsatz hebt nun sehr harmlos an. 
                    Nach der Lehre der Experimental-Physik von den Eigenschaften 
                    elektrischer Körper wird dargelegt, daß unelektrische oder 
                    neutrale Körper, die man mit ihnen in Berührung bringe, gleichfalls 
                    elektrisch werden, und zwar die entgegengesetzte <331:> 
                    Elektricität annehmen. Es folgen in naturphilosophischer 
                    Betrachtungsart die Nutzanwendungen. Dieses höchst merkwürdige 
                    Gesetz (heißt es weiter) findet sich, auf eine, unseres Wissens, 
                    noch wenig beachtete Weise, auch in der moralischen 
                    Welt; dergestalt, daß ein Mensch, dessen Zustand indifferent 
                    ist, nicht nur augenblicklich aufhört, es zu sein, sobald 
                    er mit einem Anderen, dessen Eigenschaften, gleichviel auf 
                    welche Weise, bestimmt sind, in Berührung tritt: sein Wesen 
                    sogar wird, um mich so auszudrücken, gänzlich in den entgegengesetzten 
                    Pol hinübergespielt; er nimmt die Bedingung + an, wenn 
                    jener von der Bedingung , und die Bedingung , 
                    wenn jener von der Bedingung + ist. Auf der einseitigen 
                    und ausschließlichen Betonung dieser physischen und moralischen 
                    Gegensätzigkeit baut sich nun der allerneueste Erziehungsplan 
                    auf, in ebenso einseitiger und ausschließlicher Verneinung 
                    des Nachahmungstriebes, der als pädagogisches Princip nicht 
                    mehr in Frage komme. In Erwägung nun 
                     1) daß alle Sittenschulen bisher nur auf den Nachahmungstrieb 
                    gegründet waren, und statt das gute Princip auf eigenthümliche 
                    Weise im Herzen zu entwickeln, nur durch Aufstellung sogenannter 
                    guter Beispiele zu wirken suchten; 
                     2) daß diese Schulen wie die Erfahrung lehrt, nichts 
                    eben für den Fortschritt der Menschheit Bedeutendes und Erkleckliches 
                    hervorgebracht haben; 
                     3) das Gute aber, das sie bewirkt haben, allein von 
                    dem Umstand herzurühren scheint, daß sie schlecht waren, und 
                    hin und wieder, gegen die Verabredung, einige schlechte Beispiele 
                    mit unterliefen  
                    wird vorgeschlagen, eine sogenannte Lasterschule, oder 
                    vielmehr eine gegensätzige Schule, eine Schule der 
                    Tugend durch Laster, zu errichten. Die Aufzählung der 
                    einzelnen Laster, die von besonders anzustellenden Lehrern 
                    zu lehren <332:> seien, giebt die willkommene Gelegenheit, 
                    die üblen Erscheinungen des damaligen öffentlichen Lebens 
                    zu geißeln: Religionsspötterei sowohl als Bigotterie, Trotz 
                    sowohl als Wegwerfung und Kriecherei, Geiz und Furchtsamkeit 
                    sowohl als Tollkühnheit und Verschwendung: lauter Züge, für 
                    die bestimmte, sie tragende Personen in der Kenntniß der zu 
                    den Abendblättern stehenden Freunde vorhanden waren. Auch 
                    gegen das Philiströs-Gewöhnliche der Zeitgesinnung holt die 
                    Fehde der Abendblätter aus, mit dem bitteren Spotte, daß für 
                    Eigennutz, Plattheit, Geringschätzung alles Großen und 
                    Erhabenen eigentlich keine Lehrer nöthig wären, da man 
                    sie in Gesellschaften und auf der Straße lernen könnte. Die 
                    Abendblätter wollten also dadurch, daß sie ein handgreiflich 
                    verkehrtes Princip mit anscheinendem Ernste behandelten, die 
                    modernen Erziehungsanschauungen ad absurdum führen. 
                     Mit diesen Absichten haben die in die dargelegten 
                    Gedankengänge eingeschobenen anekdotenhaften und satirischen 
                    Beispiele eigentlich nichts zu thun. Sie erbringen vorgeblich 
                    aus dem praktischen Leben Erläuterungen der aufgestellten 
                    Behauptungen. In Wirklichkeit aber sollten sie nur die Lockspeise 
                    sein für ein weiteres Publicum, um es für die Theilnahme an 
                    den strittigen Erziehungsfragen einzufangen. Dies wird noch 
                    deutlicher, wenn man die redactionelle Geschicklichkeit beobachtet, 
                    mit der Kleist den für sein Blatt sehr langen Artikel zu zerlegen 
                    wußte. Die erste Fortsetzung (im 26. Blatt) giebt nur 
                    zwei Widerspruchsspäße: erstens, daß ein Mensch, von Jemand 
                    so dick wie eine Tonne genannt, aus reinem Widerspruch vom 
                    Andern für so dünn, als ein Stecken, erklärt wird; und zweitens, 
                    wie eine Frau, um ihrem Liebhaber ein Rendezvous zu ermöglichen, 
                    ihren Mann gerade mit der Bitte, er möchte den Abend nicht 
                    ausgehen, aus dem Hause treibt. Die nächste Fortsetzung (im 
                    27. Blatt) bietet <333:> wieder zwei Beispiele 
                    nur: erstens das von einem portugiesischen Schiffskapitän, 
                    der in dem Augenblick, wo sein Befehl, das Schiff in die Luft 
                    zu sprengen, ausgeführt werden soll, vor Schrecken bleich 
                    den Feuerwerker aus der Pulverkammer reißt; und zweitens, 
                    im Ich-Ton erzählt, das Histörchen, wie eines lockeren und 
                    losen Mannes Schwester aus Widerspruch gegen ihn über die 
                    Maßen knauserig geworden sei. Wieder eine Perikope für sich 
                    ist die nächste Fortsetzung (im 35. Blatte), die erweisen 
                    will, daß das Tüchtige aus sich das Minderwerthige, wie das 
                    Schlechte aus sich das Tüchtige hervorbringen könne. In letzterer 
                    Beziehung werden die Gefangenen eines Zuchthauses oder einer 
                    Festung angeführt, aus deren Mitte Einzelne in erstaunenswürdiger 
                    Wendung der Dinge auf Recht und Sitte halten  genau 
                    wie das in einem Stücke Julius von Voß geschildert ist; 
                    ferner die Entwickelung der Verbrecherkolonie Botany-Bay, 
                    die nordamerikanischen Freistaaten, und der Ursprung, 
                    die Geschichte, die Entwickelung und Größe von Rom  
                    das letzte gewiß im Hinblick auf Niebuhrs eben begonnene 
                    Universitäts-Vorlesungen über die römische Geschichte. Das 
                    Gegenstück dazu sei die Erfahrung, daß große Männer in der 
                    Regel Kinder hätten, die in jeder Rücksicht untergeordnet 
                    und geringartig seien; und dann die verächtliche Satire auf 
                    das Berliner Litteratenthum, die ich wörtlich hersetze: Man 
                    bringe nur einmal Alles, was, in einer Stadt (versteh: Berlin), 
                    an Philosophen, Schöngeistern, Dichtern und Künstlern, vorhanden 
                    ist, in einen Saal zusammen: so werden einige, aus ihrer Mitte, 
                    auf der Stelle dumm werden; wobei wir uns, mit völliger Sicherheit, 
                    auf die Erfahrung eines jeden berufen, der einem solchen Thee 
                    oder Punsch einmal beigewohnt hat. Wie auch Adam Müller, 
                    an anderer Stelle der Abendblätter, gewisse Berliner Theegesellschaften 
                    bespöttelt hat. <334:> 
                     Am Schlusse des Aufsatzes steht nun die Nachschrift, 
                    wie sie mehreren Artikeln Kleists eigenthümlich ist. 
                    Diese Nachschriften haben den Zweck, die wahre 
                    Ansicht der Abendblätter positiv anzudeuten oder darzulegen. 
                    Die positive Erziehungs-Anschauung der Abendblätter deckt 
                    sich nun sachlich, ja fast formell auch, mit der von Jean 
                    Pauls in der Levana. Es wird gewarnt vor übertriebenen 
                    Begriffen von der Macht der Erziehung: Die Welt, die 
                    ganze Masse von Objecten, die auf die Sinne wirken, hüllt 
                    und regiert, an tausend und wieder tausend Fäden, das junge, 
                    die Erde begrüßende Kind. Von diesen Fäden, ihm um die Seele 
                    gelegt, ist allerdings die Erziehung Einer, und sogar der 
                    wichtigste und stärkste; verglichen aber mit der ganzen Totalität, 
                    mit der ganzen Zusammenfassung der übrigen, verhält er sich 
                    wie ein Zwirnsfaden zu einem Ankertau; eher drüber als drunter. 
                    Die Sittlichkeit habe ein tieferes Fundament, als das sogenannte 
                    gute Beispiel: Das Kind ist kein Wachs, das sich, in 
                    eines Menschen Händen, zu einer beliebigen Gestalt kneten 
                    läßt: es lebt, es ist frei; es trägt ein unabhängiges und 
                    eigenthümliches Vermögen der Entwickelung, und das Muster 
                    aller innerlichen Gestaltung, in sich. Nicht einmal 
                    die Mutter, selbst wenn sie es sich vornähme, würde ihr Kind 
                    von Grund aus verderben können. Wenn demnach (schließt 
                    das Ganze) die uralte Erziehung, die uns die Väter, in ihrer 
                    Einfalt, überliefert haben, an den Nagel gehängt werden soll: 
                    so ist kein Grund, warum unser (Laster-) Institut nicht, mit 
                    allen andern, die die pädagogische Erfindung, in unsern Tagen, 
                    auf die Bahn gebracht hat, in die Schranken treten soll. In 
                    unsrer Schule wird, wie in diesen, gegen Einen, der darin 
                    zu Grunde geht, sich ein andrer finden, in dem sich Tugend 
                    und Sittlichkeit auf gar robuste und tüchtige Art entwickelt; 
                    es wird Alles in der Welt bleiben, wie es ist; und was die 
                    Erfahrung von <335:> Pestalozzi und Zeller und allen 
                    andern Virtuosen der neuesten Erziehungskunst, und ihren Anstalten 
                    sagt, das wird sie auch von uns und der unsrigen sagen: Hilft 
                    es nichts, so schadet es nichts. Auf diese schließenden 
                    Sätze kommt es an. Sie sind der Schlüssel zum Verständniß 
                    des ganzen Artikels. Die Einfalt der uralten 
                    Erziehung der Väter ist der modernen pädagogischen 
                    Erfindung, dem modernen Virtuosenthum Pestalozzis 
                    und Zellers in nicht mißzuverstehenden Ausdrücken auf 
                    das schärfste entgegengesetzt. Es ist Opposition gegen die 
                    damalige Schulreform, es ist Staatsopposition. Und um anzudeuten, 
                    daß man sich eins wisse mit Jean Paul, um ihn gewissermaßen 
                    als Autorität zu citiren, lautet die Unterschrift des Artikels: 
                    C. A. Levanus. 
                     Ueber Kleists Autorschaft kann nach der Schreibart 
                    meines Erachtens kein gerechter Zweifel sein. Es fügt sich 
                    auch das Schriftstück leicht und glatt in seine geistige Entwickelung. 
                    In jüngeren Jahren hat Kleist über die allmählige Verfertigung 
                    der Gedanken beim Reden sich geäußert: es muß vor 1806 
                    gewesen sein, als er noch über den Acten als Beamter schwitzte. 
                    Er zergliedert den anschwellenden Fortschritt der Entgegnung, 
                    mit welcher Mirabeau den den letzten Befehl des Königs überbringenden 
                    Ceremonienmeister abgefertigt habe. Wenn man an den Ceremonienmeister 
                    denke, so könne man sich diesen bei dem Auftritt nicht anders, 
                    als in einem völligen Geistesbankerott vorstellen: 
                     nach einem ähnlichen Gesetz, nach welchem in 
                    einem Körper, der vor dem elektrischen Zustand Null ist, wenn 
                    er in eines elektrisirten Körpers Atmosphäre kommt, plötzlich 
                    die entgegengesetzte Elektricität erweckt wird &c. 
                    Mit diesen selben Gedanken, nur weiter ausgesponnen jedoch, 
                    beginnt der Allerneueste Erziehungsplan: <336:> 
                     Die Experimental-Physik 
 lehrt, daß, 
                    wenn man in die Nähe elektrischer Körper, oder, um kunstgerecht 
                    zu reden, in ihre Atmosphäre, einen elektrischen Körper bringt, 
                    dieser plötzlich gleichfalls elektrisch wird, und zwar die 
                    entgegengesetzte Elektricität annimmt &c. 
                     In Mirabeaus Auftreten sei, sagt Kleist dort, 
                    eine merkwürdige Uebereinstimmung zwischen den Erscheinungen 
                    der physischen und moralischen Welt. Den gleichen Uebergang 
                    macht Kleist im Allerneuesten Erziehungsplan: Dieses 
                    höchst merkwürdige (physische) Gesetz finde sich, auf eine, 
                    seines Wissens, noch wenig beachtete Weise, auch in der moralischen 
                    Welt. Man erkennt also, wie sich in Kleist diese Gedanken 
                    lange Jahre fortgewälzt hatten, ehe er sie in den Abendblättern 
                    zum ersten Male öffentlich aussprach; denn man muß beachten, 
                    daß jener Versuch über die Verfertigung der Gedanken beim 
                    Reden nur handschriftlich auf uns gekommen und aus der Handschrift 
                    von uns gedruckt worden ist. Die Anschauungen über Erziehung, 
                    die Kleist und seine Freunde hegten, waren also mit ihrer 
                    innersten Entwickelung und Weltanschauung verwachsen, so daß 
                    sie nicht bloß starr und ungelehrig am Alten festhielten, 
                    als sie gegen die neue Pädagogik sich auflehnten. 
                     Der Phöbus hätte wohl Gelegenheit geboten, auf das 
                    Erziehungswesen einzugehen. Aber ein eigener Artikel darüber 
                    begegnet nicht. Blitzartig nur läßt Kleist ein grell satirisches 
                    Licht auf die modernen Pädagogen fallen: 
                     
                      Die unverhoffte Wirkung. 
                    Wenn du die Kinder ermahnst, so meinst du, dein Amt sei erfüllet. 
                    Weißt du, was sie dadurch lernen?  Ermahnen, mein 
                    Freund. 
                     
                      Der Pädagog. 
                    Einen andern stellt er für sich, den Aufbau der Zeiten 
                    Weiter zu fördern, er selbst führet den Sand nicht herbei. <337:> 
                     
                      Pestalozzi und Fichte. 
                    Setzet, ihr trafts mit euerer Kunst, und erzögt uns 
                    die Jugend 
                    Nun zu Männern, wie ihr: lieben Freunde, was wärs? 
                     
                    Was war es also, das Kleist an der modernen Erziehungsart 
                    vermißte? Es war die That! die nationale, die das Vaterland 
                    befreiende That! die der modernen Erziehungsmethode nicht 
                    innewohne, und die sie auch nicht der Jugend geben könne. 
                    Dies war Kleist kampfeslustig genug selbst einem Pestalozzi 
                    und einem Fichte ins Gesicht zu sagen. Dies war auch die Triebfeder 
                    des von ihm in den Berliner Abendblättern aufgenommenden Kampfes 
                    um die Reform der preußischen Volksschule. 
                     Wie mußte Kleists Aufsatz in Berlin die Empfindlichkeit 
                    der Einen, und das Spottgelächter der Anderen reizen! Denn 
                    daß er Aufsehen machte, dafür lieferte der Preußische Vaterlandsfreund, 
                    in seinem 2. Blatte vom Jahre 1811, den sichtlichen Beweis: 
                    ein Kleist nachgeahmter Artikel, mit der Ueberschrift Der 
                    Erziehungsrath Ziehmann an den Rector Schnabel, sucht 
                    das Pestalozzische System dadurch zu bespötteln, daß 
                    er, an Statt desselben, eine Erziehung durch die Nase empfiehlt. 
                    Die Berliner Section für den Cultus war gewiß nicht erbaut 
                    von Kleists Allerneuestem Erziehungsplan, ebensowenig 
                    Fichte. Himly gar, der 1803 in einer eigenen Schrift, 1809 
                    in seinen Pädagogischen Mittheilungen nicht nur historisch, 
                    sondern auch anthropologisch aus seiner Auffassung gewisser 
                    mittlerer Momente die Grundzüge des Pestalozzischen 
                    Elementarunterrichts empfohlen hatte, mußte verdrießlich 
                    mitansehen, wie Kleist mit seinem geliebten System umsprang. 
                    Das wird ihn bei Censurstrichen, die er machen oder nicht 
                    machen konnte, nicht milde gegen Kleist und die Abendblätter 
                    gestimmt haben. <338:> 
                     
                      Schlußbemerkung. 
                     
                    So vervollständigt sich für uns, durch die über Universität 
                    und Erziehungswesen gebrachten Artikel, das Bild des großen 
                    geistigen Gebietes, auf dem Kleist und seine Freunde ihre 
                    Ueberzeugung dem neu reformirenden Willen der leitenden Kreise 
                    entgegenstellten. Es gab für die Freunde aber noch andere 
                    Mittel, auf die Meinung des Volkes einzuwirken: das waren 
                    die allgemein-litterarischen Aufsätze, die den Leser 
                    zwar unterhalten, aber doch auch im bestimmten Sinne unmerklich 
                    lenken sollten. 
                     
                    Emendation 
                    6.] 5. D 
                     
                    
                  |