Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe
(Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 236-239
24. Marionettentheater.
Kleist versuchte nun indirect zu sagen, was direct zu sagen
verboten war. Auf diese Methode hatte sich die damalige patriotische
Litteratur, um Napoleons willen, gründlich eingeübt,
und einem Schriftsteller, wie Kleist, war keine Form zu schwer.
Er befand sich denen gegenüber, die die Uebermacht hatten,
gewissermaßen in der Nothwehr. Wie es in dem xp
gezeichneten Distichon der Abendblätter vom 31. October
1810
Nothwehr.
Wahrheit
gegen den Feind? Vergieb mir! Ich lege zuweilen
Seine Bind um
den Hals, um in sein Lager zu gehn.
ausgedrückt war, so verfuhr er jetzt in einem Artikel über
das Marionettentheater, den er in ein solches Dunkel
der Darstellung hüllte, daß er ihn glücklich an der Censur
vorbei in die Abendblätter vom 12. bis 15. December einschmuggelte.
Seit längerer Zeit gehört dies Stück schon den gewöhnlichen
Sammlungen der Kleistischen Schriften an; es ist nöthig, daß
die Tendenz desselben klar gelegt werde.
Es steckt nämlich darin Kritik und ernsthafte Satire
auf das Berliner Ballet unter Ifflands Direction.
Der Form nach eine Unterredung zwischen dem unterzeichneten
H. v. K(leist) und dem ersten Tänzer an der Oper
zu M
, und in das Jahr 1801 verlegt, meint der Aufsatz
doch Zustände des Jahres 1810 in Berlin. Ob Kleist an Mannheim
oder Mainz, wo er wirklich 1801 weilte, bei der Umkleidung
seines Artikels dachte, ob der Tänzer, Herr C., wirklich
als eine Kleist früher bekannt gewordene Person zu verstehen
sei, bleibe dahingestellt. Es sind derartige Fragen auch nur
untergeordneter Natur dem gegenüber, was eigentlich den Inhalt
ausmacht. <237:>
Es wird der Tanz der Marionetten erörtert,
wie er nach dem Mechanismus dieser Figuren möglich wäre. Eine
Marionette von Ebenmaaß, Beweglichkeit, Leichtigkeit
habe Vortheile vor lebendigen Tänzern voraus. Erstens den
negativen Vortheil, daß sie sich niemals zierten. Ziererei
erscheine alsdann, wenn sich die Seele in irgend einem anderen
Punkte befinde, als in dem Schwerpunkte der Bewegung. Kleist
führt zur Erläuterung dessen, was er für falsch erklärt, zwei
Fälle an: Sehen Sie nur die P
an, wenn sie die
Daphne spielt, und sich, verfolgt vom Apoll, nach ihm umsieht;
die Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes; sie beugt
sich, als ob sie brechen wollte, wie eine Najade aus der Schule
Bernins und: Sehen Sie den jungen
F
an, wenn er, als Paris, unter den drei Göttinnen steht,
und der Venus den Apfel überreicht: die Seele sitzt ihm gar
(es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen. Beides
wird als Mißgriff bezeichnet.
Nun giebt es zwei, Kleists Anspielungen entsprechende,
Ballets vom Berliner Balletmeister Lauchery, nämlich Apoll
und Daphne und Das Urtheil des Paris. Beide
wurden in Berlin gegeben, das letztere von 1794 an, Apoll
und Daphne aber zum ersten Male am 9. October 1810! Also,
der Beweis ist da, Kleist hatte Vorgänge seiner Tage,
nicht angeblich des Jahres 1801, im Auge, die er tadeln wollte:
gerade wie Arnim das rückständige Ballet am Schlusse der Iphigenie
von Gluck getadelt hatte. Demnach verbergen sich unter der
P
und dem jungen F
wirkliche Mitglieder des Berliner
Balletpersonals, ohne daß die gewählten Buchstaben uns ein
Anrecht gäben zu glauben, daß die zu suchenden Namen auch
mit denselben anzulauten hätten: im Gegentheil, alle Wahrscheinlichkeit
spricht in Rücksicht auf die Censur dafür, daß P. und F. den
Anfangsbuchstaben der Namen <238:> nicht
entsprechen. Nur in dem Falle, daß die Text- und Arienbücher
auftauchten, die damals, zum Glück für heutige Studien, die
Besetzung der Rollen zu enthalten pflegen, ließen sich die
Namen der Tänzer, ohne daß viel darauf ankäme, vielleicht
ermitteln.
Solche Mißgriffe tanzender Personen erklärt
Kleist für unvermeidlich, seitdem wir von dem Baume
der Erkenntniß gegessen hätten. Die Unschuld des Paradieses
sei für den Menschen verloren. Es gäbe kein Zurück. Wir müßten
die Reise um die Welt machen, ob wir vielleicht von
hinten wieder in das Paradies hinein gelangen könnten, d. h.
nur durch immer weiter, höher und göttlich hinaufstrebende
Erkenntniß könnten wir zur verlorenen Unschuld und Bescheidenheit
heimkehren: ein Gedanke, den Kleist und seine Freunde oft
in den Abendblättern variiren. Die Puppe, die Marionette,
habe es besser als der Mensch: Allerdings kann der Geist
nicht irren, da, wo keiner vorhanden ist, ein Sentiment,
das schon einen Monat früher in den Abendblättern, 13. November
1810, als der
Glückwunsch.
Ich
gratulire Stax, denn du wirst ewig leben;
Wer
keinen Geist besitzt, hat keinen aufzugeben.
in anderer Nüancirung begegnet, und den wir daher, obwohl
er anonym ist, Heinrich von Kleist zurschreiben dürfen.
Als einen weiteren Vortheil der Marionetten bezeichnet
Kleist, daß sie antigrav seien; d. h. die mechanische
Kraft, die sie regiert, hebe sie mehr in die Höhe, als daß
sie niedergedrückt würden. Der menschliche Tänzer habe ungemein
schwer unter der Trägheit der Materie zu leiden, die ihn zu
sehr an den Boden fessele. Wieder hat sich Kleist damit die
Unterlage für eine neue Personenkritik verschafft: Was
würde unsere gut G
darum geben, wenn sie sechzig Pfund
<239:> leichter wäre, oder ein Gewicht von dieser Größe
ihr bei ihren entrechats und pirouetten
zu Hülfe käme? Welche Tänzerin der Berliner Truppe gemeint
sei, darauf kommt es weniger an. Der Tadel Kleists,
wohin er zielt, ist erkennbar.
Hiemit ist eigentlich der Marionetten-Artikel zu seinem
Ende geführt. Wenn trotzdem die Fortsetzung noch durch zwei
weitere Abendblätter läuft, so ist allein die durch die Censur
auf politischem und dramatischem Gebiete verursachte Stoffnoth
schuld daran, daß Kleist die schon ausgestreuten Motive weiter
fortspinnt. Ich kann mich kurz fassen. Im Grunde genommen,
reiht Kleist noch zwei Anekdoten an. Die erste,
wie ein Jüngling, mit unschuldig-natürlicher Bescheidenheit
und Schönheit geschmückt, in bewußter Nachahmung der Grazie
des den Splitter aus seinem Fuße ziehenden Jünglings (in Paris
damals) jede Spur seiner früheren Lieblichkeit verliert. Und
die zweite, wie ein alle seine Gegner glänzend überwindender
Fechter dem natürlichen Vertheidigungssinne eines aufrecht
stehenden Bären unterliegt. Beide Anekdoten belegen
in Kleists Sinne den Satz, daß sich die unbewußte Natur
und die sich bewußte Hingabe an das Höchste, der mechanische
Gliedermann und der Gott, der zusammenfallende Anfangs- imd
Endpunkt der Kreislinie seien, die die menschliche Entwickelung
zu durchlaufen habe: daß also das letzte Capitel von der Geschichte
der Welt sei, wieder von dem Baum der Erkenntniß zu essen,
um in den Stand der auf dem Zwischenwege verlorenen Unschuld
zurückzufallen.
So war Kleist durch die, von äußeren Rücksichten ihm
aufgenöthigte, paradoxe und fast mystische Vortragsweise der
Censur entgangen. Seine Freunde wußten oder ahnten, was er
meine. Nicht gelang das Gleiche den Uebrigen. Namentlich Arnims
von persönlichen Invectiven zwar freie, aber humoristisch
offenherzige Kritik der Theaterschäden vermochte nicht die
Censur zu passiren. <240:>
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