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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 213-215

16. Die sieben kleinen Kinder.


Kaum ein paar Tage später, im 34. Abendblatte vom 8. November, druckte Kleist ein neues Theater-Monitum Arnim’s an Iffland’s Adresse ab, das wieder ava gezeichnet ist. Arnim geht von einer Erscheinung des damaligen Berliner Straßenlebens aus. „Was mag,“ fragt er, „aus einer Bande kleiner Sänger geworden sein, die im vorigen Jahre sich sehr häufig in vielen Straßen Berlins mit wenigen Liedern hören ließen, die aber so wunderbar auf einzelne Töne eingesungen waren, daß sie am ersten einen Begriff von der Russischen Hörnermusik geben konnten?“ Die Russische Hörnermusik und der Russische Soldatengesang, den der Hof in Königsberg kennen gelernt hatte, war damals so beliebt bei uns, wie heute die würdigen Weisen des altniederländischen Nationagesanges. „Sie wurden,“ schreibt Arnim weiter, „nach dem einen ihrer bekanntesten Lieder, meist die sieben kleinen Kinder genannt. Das Lied erzählte von Kindern, denen zu spät Brod gereicht worden, nachdem sie lange geschrieen und endlich aus Hunger gestorben waren.“ Der Inhalt des Liedes war also der der „Verspätung“ im Wunderhorn (2, 10): <214:>
Mutter, ach Mutter! es hungert mich,
Gieb mir Brod, sonst sterb ich –
wie es im grausamen Leben Manchem, auch Kleist, ergangen ist! Und wehmüthig fragt Arnim: „Ist es diesen armen Schelmen, die wir immer mit besonderem Vergnügen gehört, etwa auch so ergangen?“
Von dieser Erscheinung des Berliner Volkslebens macht nun Arnim vorwurfsvolle Anwendung auf die Berliner Theaterverhältnisse, im Sinne einer national-berlinischen Ausgestaltung der Bühnenstücke. Er fragt unwillig, warum diese kleinen Berliner sieben Kinder nicht in irgend ein lustiges Stück, z. B. Rochus Pumpernickel, eingeführt worden seien, wo sie gewiß die allgemeinste Wirkung hervorgebracht hätten? In dem damals vielgegebenen komischen Singspiele vom Rochus Pumpernickel treten nämlich, als singender Chor, acht Knaben auf, deren Vaterschaft Rochus Pumpernickel in höchster Verlegenheit ableugnet, die aber doch fest an ihm hängen bleiben zu wollen erklären. „Leider aber,“ beklagt Arnim, „begnügen sich unsre Theater-Dichter die Späße fremder Städte, besonders Wien, zu wiederholen; was aber bei uns lustig und erfreulich, dafür haben sie keine Fassung. So finden sich manche auf unsrer Bühne, die den Wiener oder Schwäbischen Dialekt recht gut nachsprechen, aber keiner, der z. B. gut pommrisch-plattdeutsch redete, was in der Rolle des Rochus Pumpernickel sicher recht eigenthümliche Wirkung bei uns thäte.“ Der Wiener oder der schwäbische Dialekt! – spielten doch Kotzbue’s Pachter Feldkümmel und die beiden Klingsberge in den Wiener Volksschichten, Vetter Kuckuck aber, aus Nürnberg (oben S. 191), hatte das Theaterpublicum mit seiner schwäbelnden Mundart zu belustigen. Auf diese faden Stücke hatte es Arnim abgesehen. Iffland besaß nicht das Selbstgefühl eines spreegetauften Berliners; um so bemerkenswerther escheint es aber, daß <215:> Arnim im Einverständniß mit Kleist die Berücksichtigung und Pflege des Berlinerthums wie des preußischen Provinzialismus auf der Nationalbühne verlangte. Man versteht nun leichter, weshalb Kleist für Drama und Novelle märkische Stoffe aufsuchte; weshalb Arnim in seiner Schaubühne denselben Weg ging und sogar den Stralauer Fischzug als Lustspiel behandelte. Hier liegen die Anfänge der Berlinisch-märkischen Roman- und Schauspieldichtung, die, im besten Sinne conservativ und patriotisch, von Wilibald Alexis, Theodor Fontane, Ernst von Wildenbruch weiter gepflegt und entfaltet worden ist.

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Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
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