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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Reinhold Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe (Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 208-211

14. Cendrillon.


Französische „Nichtigkeiten“ bevorzugte Iffland auch auf musikalischem Gebiete, zum Verdrusse derjenigen Kreise, die gehaltvolle Aufführungen auf der Bühne genießen wollten. Ein solches Pariser Zugstück war die Oper Cendrillon, Text von Etienne, Musik von Nic. Isouard. Zu Grunde liegt Perrault’s nicht am besten erzähltes Märchen Cendrillon, das mit unserm Märchen vom Aschenputtel identisch ist. Die Brüder Grimm haben in ihrer ersten Märchenausgabe (1812, S. XVI) die Zusammengehörigkeit erkannt und ausgesprochen.
Da brachten die Abendblätter in ihrer 26. Nummer ein y unterzeichnetes „Schreiben aus Berlin“, datirt „den 28. October“. Sie meldeten, daß sich Mad. Bethmann die Oper Cendrillon zum Benefiz gewählt habe und Herklots, der Berliner Theaterdichter, bereits zu diesem Zwecke sie übersetze. Es war offenbar aus der Schule geplaudert worden, sowohl <209:> über die Art der Uebertragung wie die der Rollenbesetzung. An beides knüpfte der Verfasser des Schreibens seine Ausstellungen. Die Oper solle nämlich deutsch, wie man sage, der zum Grunde liegenden, französischen Musik wegen, welche ein dreisilbiges Wort erfordere, Ascherlich, Ascherling oder Ascherlein u. s. w., nicht Aschenbrödel, genannt werden. Dagegen wird vorgeschlagen, lieber der Musik zu Gefallen nach österreichischer Mundart das „del“ in „d’l“ zusammenzuziehen und Aschenbröd’l oder Aschenbröl zu sagen. Ferner: Ascherlich oder Aschenbröd’l werde Madmois. Maas geben, Mad. Bethmann, wie es heiße, die Rolle einer der eifersüchtigen Schwestern übernehmen. Der Satz, der jetzt folgt, ist der entscheidende: „Mlle Maas ist ohne Zweifel durch mehr, als die bloße Jugend, zu dieser Rolle berufen; von Mad. Bethmann aber sollte es uns leid thun, wenn sie glauben sollte, daß sie, ihres Alters wegen, davon (von der Titelrolle) ausgeschlossen wäre.“ In den Kreisen der Abendblätter wünschte man also, daß die Frau Bethmann nicht durch die jüngere Kraft der Mlle Maas (seit 1805 engagirt) verdrängt werde; die Worte „durch mehr als die bloße Jugend“ scheinen sogar eine üble Anspielung auf andere als künstlerische Rücksichten zu enthalten. Das Talent der Frau Bethmann wird nun charakterisirt, nicht als vollkommen, aber doch immer so, daß durch Verstand und ungemein zarte Empfindung das Mangelhafte und Fehlende mit Leichtigkeit ergänzt werden. Es trifft diese Charakterisirung im Ganzen mit derjenigen zusammen, die der Künstlerin im Phöbus zu Theil geworden war.
Man hat, seit Köpke, dies Schreiben in Kleist’s Werke eingesetzt. Ich zweifle aber nicht, daß es ihm von außen zugekommen ist. Der Stil schwankt, auf eine sonderbare Art, zwischen unkleistischer und kleistischer Manier. Wo Kleist’s Manier fühlbar hervortritt, nehme ich redactionelle Nacharbeit <210:> an. Die Berechtigung zu einer solchen Annahme wird noch an einer Fülle von Beispielen klar werden.
Daß man auf Seiten der Abendblätter die Aufführung der Oper Cendrillon am liebsten verhindern wollte, zeigt in Nr. 52 eine Miscelle aus Cassel, die dem Weimarer Journal, des Luxus und der Moden entnommen sei, und die die kühle Aufnahme der französischen Oper in Cassel ostentativ betont. Wie Kleist in die Miscelle jedoch die für Berliner Zustände nöthige Schärfe hineingebracht hat, ergiebt sich überraschend aus ihrer Vergleichung mit der Originalstelle:

Kleist im 52. Abendblatt.
Aus Kassel.
Die Aufführung der Oper Cendrillon lockte viele Neugierige herbei. Das Stück war in Paris 42 Mal hintereinander gegeben worden; und so glaubte man in Kassel an eine ähnliche Wirkung. Aber das deutsche Publikum scheint zu einer solchen Beständigkeit nicht geschickt; weder die Musik ist von ausgezeichnetem Gehalt, noch auch wird das Auge durch Dekorationen bestochen. Fast sollte man glauben, daß die Oper Cendrillon ihr ganzes Glück der Demoiselle Alexandrine St. Aubin verdankt, welche als Cendrillon alle Stimmen für sich gewann, und dem mittelmäßigen Stück einen rauschenden Beifall erwarb.
(Journ. d. L. u. d. Mod.)

Der Wortlaut der Originalstelle des Journals des Luxus &c., Novemberheft, ist dagegen der folgende\*\:

Miscellen aus Kassel im Oktober 1810.
Die Aufführung der Oper Cendrillon lockte viel Neugierige herbei. Das Aufsehen, das sie in Paris gemacht, und die öfteren Wiederholungen ließen vermuthen, daß Musik und Dekorationen das bekannte Süjet, das jedem eine Reminiszens aus der Kinder- und Mährchenzeit ist, doch so ausschmücken würden, um es begreiflich zu machen, wie die lebhaften Pariser ein und dasselbe Stück 42 Mal nach einander hatten aufführen sehen können. Aber mit jeder Scene fühlten wir phlegmatischen Teutschen uns dieser Beständigkeit unfähiger, denn weder war die Musik von ausgezeichnetem Gehalt, noch auch wurde das Auge <211:> bestochen. Mehrere Personen, die in Paris die günstige Aufnahme der Cendrillon mit Augen gesehen, erklärten es dahin, daß dort ein Schauspielerin*) die Hauptrolle so anziehend und reizend gespielt hätte, daß dadurch das ganze Stück Interesse und Leben bekommen hatte; dies war denn freilich hier bei uns nicht der Fall.

*) Allerdings ist dieses der Fall. Die Oper Cendrillon oder Aschenbrödel dankt den großen Beifall, den sie in Paris erhielt, lediglich der reizenden Dlle Alexandrine St. Aubin, welche als Cendrillon alle Stimmen für sich gewann und damit der mittelmäßigen Oper einen rauschenden Beifall erwarb.
D. Redact.

Kleist’s Miscelle, sieht man, ist doch etwas anderes geworden, als das Original, das er benutzte. Sie urtheilt und verurtheilt schärfer. Und zwar unter Belassung des Citates, als käme die Nachricht so aus Kassel.
Diese Gegenbestrebungen hatten wirklich ihren Erfolg. Die französische Oper kam während der Winterspielzeit überhaupt nicht auf die Berliner Bühne, Frau Bethmann wählte sie auch nicht zu ihrer Benefizvorstellung. Als, schon nachdem der Einfluß der Abendblätter längst gebrochen war, die Oper am 14. Juni 1811 zum ersten Male in Berlin aufgeführt wurde, lagen die Rollen in ganz anderen Händen, als man ursprünglich geplant hatte. Das erste Textbuch „Arien und Gesänge aus der Feen-Oper: Röschen; genannt Aescherling in drei Acten. Aus dem Französischen durch C. Herklots. Musik von Nicolo Isouard. Berlin, 1811“ bewahrt nach einer ganz vorzüglichen Einrichtung – die leider bei den modernen Textbüchern aufgegeben worden ist! – das Rollenverzeichniß. Danach sang Mll. Henriette Fleck die Titelrolle, von den beiden Schwestern die jüngere Mad. Müller, die ältere Mll. Schmalz.
Man erkennt an den Folgen dieses Widerspruchs die Macht, die die Parthei der Berliner Abendblätter in Theaterfragen auszuüben vermochte.

\*\ Ich verdanke sie Herrn von Bojanowski in Weimar.

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Letzte Aktualisierung 06-Feb-2003
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