Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe
(Berlin, Stuttgart: Spemann 1901), 197-201
11. Ueber die Darstellbarkeit
auf der Bühne.
Ein neuer, allgemein gehaltener Angriff auf Ifflands
Theaterleitung trat schon wieder im 18. Abendblatt, vom
20. October 1810, hervor. Der Artikel handelt über
die Darstellbarkeit auf der Bühne. Unterzeichnet ist
er W...t, unter welcher Chiffre der Name Wolfarts
auftaucht. Wolfart, obwohl Arzt von Beruf, war zur Erörterung
solcher Fragen wohl geeignet. Er stammte aus Hanau und hatte
noch zu Heidelberger Romantikern, namentlich zur Günderode,
<198:> litterarische Beziehungen unterhalten. 1809 erschien
von ihm, in Sinne der Genoveva, das Schauspiel Guntha,
ein altteutsch Mährlein, mit Steinabdrücken von Federzeichnungen
Bernhard Hundeshagens. Die Tendenz des lose componirten
Stückes spricht aus den die betrübte Frau Guntha tröstenden
Worten des Minnesängers (S. 76):
Wer sich bewährt,
Der wird verklärt
Sich
aus dem Leid erheben
und die christliche Treue der Frau Guntha, die der Heimkehr
ihres Gemahls aus dem heiligen Lande harrt, siegt über die
Tücke eines verkappten Ritters. Haß gegen Napoleon athmet
Wolfarts Drama Die Katakomben, Berlin 1810.
Der politische Wüstling Nero erliegt dem Leben und Tod überwindenden
Glauben der Christengemeinde, der die Katakomben Schutz gewähren.
Nero ist Napoleon; wie eine Prophezeiung lesen sich die Verse
(S. 13)
Nah
ist der Tag, der unserm Volk, der Welt
Die
Freiheit wieder, Schutz den Christen giebt.
Die Katakomben wurden zwar in Wien, wo Toni Adamberger die
Rolle der Julia spielte, nicht aber in Berlin aufgeführt\*\.
Mit dem Schauspiel Herman (Leipzig, zu Michaelis
1810) war Wolfart sogar der dramatische Concurrent Heinrichs
von Kleist geworden. Aber während Kleist die deutschen Fürsten
und Völker seiner Tage schildert, in ihrer Mitte hoheitsvoll
ein Herrscherpaar, das im Frieden seiner Häuslichkeit so menschlich-unbefangen
mit einander scherzt, im öffentlichen Leben aber der politischen
Intrigue diplomatische List, dem feindlichen Ein- <199:>
fall in das Vaterland Kampf und Sieg entgegen zu werfen weiß:
verfertigt Wolfart ein dramatisches Bild des geschichtlichen
Kampfes Arnims gegen Varus, mit phantastischen Chören
von Barden, Druiden, Runen, Nornen, Wodan und Walküren, und
mit dem frei erdachten Zuge, daß Thusnelda freiwillig für
den Sieg sich in die Gefangenschaft der Römer opfert. An Wolfart
gemessen, sieht man bewunderungsvoll, was Kleist, der mit
eines echten Poeten Kraft seine Gegenwart erfaßt, in seiner
Herrmannsschlacht geleistet hat. Nach Allem aber war Wolfart
wohl berufen, ein Urtheil über die Berliner Bühne auszusprechen.
Wolfart betrachtet die Frage, inwieweit der Schauplatz
und die Art einer Handlung auf der Bühne darstellbar sei.
Er giebt hervorstechende Beispiele ekelhafter oder ungeziemender
Darstellungen, die auf dem Berliner Theater vorgekommen waren.
In dem Spießschen Schauspiel General Schlensheim,
das seit 1782 sich im Repertoire behauptete, hatte man den
Versuch mit einer förmlichen militärischen Execution, dem
beliebten Füsilieren, auf der Bühne gemacht. In Kotzebues
Schauspiel Die Sonnenjungfrau, seit 1790 an der
Tagesordnung, durfte die Heldin ihrem Geliebten auf offener
Bühne immer von neuem gestehen, daß sie sich im Zustande guter
Hoffnung befinde. Auch die äußeren Anordnungen auf dem Theater,
wie sie in den Decorationen und der Bewegung der Darsteller
zwischen ihnen zum Ausdruck kamen, rief Mißfallen und Tadel
hervor, weil das Wirkliche gar zu ängstlich auf der Bühne
nachgeahmt werden sollte, und eben deshalb ein höheres, ideales
Erforderniß nicht erfüllt wurde. Bei der Aufführung der Jungfrau
von Orleans hatte sich das Mißverhältniß zwischen der von
Iffland beabsichtigten und thatsächlich erzielten Wirkung
gezeigt: "Wer vermißt nicht in der Jungfrau von Orleans,
wenn das Schlachtgetümmel wirklich <200:> dargestellt
werden soll, und dann 4 oder 5 Paare von Soldaten sich
auf der Bühne regelmäßig schlagen, bis einer dem andern den
Garaus macht, wer, fragen wir, vermißt nicht dabei eine größere
Masse, ein wirkliches Heer? Und gesetzt man könnte auf einer
Bühne auch einige hundert Mann im gegenseitigen Kämpfen zeigen,
wir würden gerade dadurch fast gezwungen, den natürlichen
Maßstab mitzubringen, wir würden eine ordentliche Heerzahl
haben wollen!
Auf die Frage, wie nun aber zu verfahren sei, giebt
Wolfart die positive Antwort: Es ist sehr einfach, was
die wahre Kunst erheischt. Ehrlich geht sie zu Werke, sie
spricht zum Zuschauer rund heraus: bringe dir zu dem, was
du hören und sehen wirst, hübsch deine Fantasie mit, welche
dir Gott gegeben hat, und wende sie an, und denke ja nicht
etwa, du würdest es so gemächlich haben, daß man dir nichts
zu denken ließe. Die wahre Kunst thue nur bei allem
so, als wäre es ein wahres Spiel. Von dem auftretenden
Gefolge eines Königs dürften z. B. nicht alle, sondern
nur wenige Personen wirklich auf der Bühne erscheinen, sich
als Masse zwischen Säulen und Pforten verlieren, so daß dem
Zuschauer ein ungeheurer Spielraum übrig bliebe, sich hinter
der Bühne eine imponirende Menge zu denken, deren Anfang nur
die wenigen wirklich Erschienenen bildeten. Die Anwendung
desselben Mittels fordert Wolfart bei Darstellung von Schlachten.
Er führt als Beispiel aus: In Shakespeares Julius
Cäsar soll Brutus und Cassius von der einen, Augustus und
Antonius von der andern Seite, mit ihren beiderseitigen Heeren,
auf die Bühne kommen. Das ist unausführbar! es ist lächerlich!
schreit der Blödsinn. Und es ist wohl ausführbar, und es ist
nicht lächerlich. Man lasse nur hinter den Heerführern, sowie
sie von beiden Seiten auftreten, einige Krieger folgen, welche
so stehen bleiben, als drängen sie in Masse hinter den <201:>
Koulissen heraus, indem Spieße über ihren Häuptern hervorragen
und die ihren nachdringenden Krieger bezeichnen
so wird dies ein ergreifender Anblick sein, man wird wirklich
sich beide Heere dahinter denken, deren Anfang man sieht.
Offenbar war auch die Inscenirung des seit 1804 auf dem Spielplan
der Berliner Bühne stehenden Julius Cäsar, nach Wolfarts
Meinung, mißlungen. Und wenn am Schlusse die Tendenz des ganzen
Artikels noch einmal dahin zusammengefaßt wird, es sei dazu
bestimmt, das Theater auch darin aus dem prosaischen
Netz zu befreien und es in sein poetisches Element zurückzuführen,
so müssen wir doch wohl glauben, daß von Iffland auch auf
diesem Gebiete schwere Mißgriffe gethan worden waren.
\*\ Ein anspielendes
Citat der Katakomben bei Brentano (2, 451) in einem zu
Wien 1813, aber vor Theodor Körners Tode (S. 450),
entstandenen Gedichte.
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