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Eduard v. Bülow (Hrsg.), Heinrich von Kleist’s Leben und Briefe. Mit einem Anhange (Berlin: Besser 1848), V-XIV, 1-81, 274f.; darin: 23-27

Aufenthalt in der Schweiz


Die wahrscheinlichste Antwort auf alle diese Fragen lautet: er würde damit jedenfalls ungefährdet über die entsetzliche Krisis hinausgekommen sein, die seinem Leben ein Ende setzte, und kein so tragisches Schicksal gehabt haben. Ja, gesetzt auch, er hätte sich als Schweizer Bauer auf die Länge der Zeit nicht zufrieden gefühlt, und städtischen Umgang mit den Menschen nicht entbehren können, so würde er doch als Familienhaupt besonnener und ruhiger gehandelt haben, durch das Gefühl seiner Pflicht vor Gewaltthätigkeiten an sich bewahrt worden sein, und den Seinen jedes geringere oder größere Opfer seiner Wünsche gebracht haben.
Es war nicht des Himmels Wille, daß es so kommen sollte. Seine Braut war anders als er es sich eingebildet hatte, und that also vollkommen Recht an sich und ihm, <24:> einen so heroischen Entschluß, als er ihr zugemuthet hatte, nicht zu fassen. Sie würde ihn unter den bestehenden Umständen nicht haben glücklich machen können. Sie entdeckte Kleists wunderlichen Lebensplan ihren Eltern, die darüber ein sehr ungünstiges Urtheil fällten, und that ihm dies, als Antwort auf seine letzten Briefe 18. und 19. so schonend als sie es im Stande war, zu wissen.
Die Folge dieses Schrittes war, daß Kleist fünf Monate ganz und gar gegen sie schwieg und ihr zuletzt nur noch einen kurzen Brief schrieb, in welchem er sich bitter über ihre Kälte beklagte und hinzufügte, daß er nun allerdings zu der Einsicht gekommen sei, sie habe ihn nie geliebt, und werde ihn nie lieben. Auf diese Art war das Verhältniß zwischen beiden abgebrochen.
Ueber Kleists Pariser Aufenthalt weiß ich nichts weiteres zu sagen, als daß er, wenn ich recht gehört habe, bei Laplace wohnte, und seine Schwester in männlicher Kleidung bei ihm war. Seltsamerweise soll in Paris kein anderer Mensch als der blinde Flötenspieler Dülon ihr weibliches Geschlecht unter der fremden Tracht erkannt und sie unversehens mit Madame angeredet haben.
Kleist hatte mit ihr in der letzten Zeit seines Pariser Aufenthaltes viele Kämpfe wegen seines neuen Lebensplanes zu bestehen, den sie durchaus gemißbilligt haben soll und mochte vielleicht schon nahe daran gewesen sein, in aller Stille von ihr nach der Schweiz zu entfliehen. Da ihnen aber inzwischen ihr deutscher Bedienter davon gegangen war und Kleist seine Schwester nicht ohne allen Schutz in der Fremde verlassen konnte, entschloß er sich, sie bis nach <25:> Frankfurt zurückzugeleiten und begab sich von dannen Anfangs 1801 nach Bern.
Noch in dem Augenblicke seiner Abreise von Paris ereignete sich mit Kleist ein sehr komischer Auftritt. Er hatte nämlich zu der Reise ein paar neue Pferde gekauft, die er, da er ohne Diener war, selbst aus dem Stalle ziehen und anschirren mußte. Er wußte nur um solche Geschäfte nicht im mindesten Bescheid und quälte sich damit so lange in vergeblichen Anstrengungen ab, bis sich ein großer Haufen Volks lachend und spottend um ihn versammelte, und sich zuletzt ein Schneider seiner Verlegenheit erbarmte, der seinen Wagen anspannte und ihn eine Strecke weit begleitete.
Den Winter 1800-1801 verlebte Kleist in Bern, und den Sommer darauf an den Ufern des Thuner Sees, wo er sich in einem kleinen Landgute mit seinem Freunde, dem Kupferstecher Lohse, der später in Italien gestorben ist, eingemiethet hatte. Zu seinem näheren Umgange in der Schweiz gehörte zunächst Heinrich Zschokke, der junge Wieland und der junge Geßner. Heinrich Zschokkes Selbstschau enthält über ihn die nachstehenden Mittheilungen:
„Unter zahlreichen lieben Bekannten, deren Umgang den Winter mir verschönte, befanden sich zwei junge Männer meines Alters, denen ich mich am liebsten hingab. Sie athmeten fast einzig für die Kunst des Schönen, für Poesie, Literatur und schriftstellerische Glorie. Der eine von ihnen, Ludwig Wieland, Sohn des Dichters, gefiel mir durch Humor und sarkastischen Witz, den ein Mienenspiel begleitete, welches auch Milzsüchtige zum Lachen getrieben hätte. <26:> Verwandter fühlte ich mich dem Andern wegen seines gemüthlichen, zuweilen schwärmerischen, träumerischen Wesens, worin sich immerdar der reinste Seelenadel offenbarte. Es war Heinrich von Kleist. Beide gewahrten in mir einen wahren Hyperboräer, der von der neuesten poetischen Schule Deutschlands kein Wort wußte. Göthe hieß ihr Abgott; nach ihm standen Schlegel und Tieck am höchsten, von denen ich bisher kaum mehr als den Namen kannte. Sie machten es mir zur Todsünde, als ich ehrlich bekannte, daß ich Göthes Kunstgewandtheit und Talentgröße mit Bewunderung anstaunen, aber Schillern mehr denn bewundern, daß ich ihn lieben müsse, weil sein Sang, naturwahr aus der Tiefe deutschen Gemüths, begeisternd ans Herz der Hörer, nicht nur ans kunstrichtende Ohr schlage. Wieland wollte sogar den Sänger des Oberon, seinen Vater, nicht mehr Dichter heißen. Das gab unter uns manchen ergötzlichen Streit. Zuweilen theilten wir uns auch freigebig von eigenen poetischen Schöpfungen mit, was natürlich zu neckischen Glossen und Witzspielen den ergiebigsten Stoff lieferte.
Als uns Kleist eines Tages sein Trauerspiel, die Familie Schroffenstein vorlas, ward im letzten Akt das allseitige Gelächter der Zuhörerschaft wie auch des Dichters so stürmisch und endlos, daß bis zu seiner letzten Mordszene zu gelangen, Unmöglichkeit wurde.
Wir vereinten uns auch, wie Virgils Hirten, zum poetischen Wettkampf. In meinem Zimmer hing ein französischer Kupferstich: la cruche cassée. In den Figuren desselben glaubten wir ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem Majolikakruge und einen groß- <27:> nasigen Richter zu erkennen. Für Wieland sollte die Aufgabe zu einer Satyre, für Kleist zu einem Lustspiele, für mich zu einer Erzählung werden.
Kleists „zerbrochener Krug“ hat den Preis davongetragen. – – –
In einem seiner Briefe von Thun, bald nach unserer Trennung geschrieben, sagte Kleist unter anderem:
Was mich betrifft, wie die Bauern schreiben, so bin ich, ernstlich gesprochen, recht vergnügt, denn ich habe die alte Lust zur Arbeit wieder bekommen. Wenn Sie mir einmal mit Geßner die Freude Ihres Besuchs schenken werden, so geben Sie wohl Acht auf ein Haus an der Straße, an dem folgender Vers steht:

Ich komme, ich weiß nicht von wo?
Ich bin, ich weiß nicht was?
Ich fahre, ich weiß nicht wohin?
Mich wundert, daß ich so fröhlich bin!


Briefe [...] 19] An Wilhelmine v. Zenge, Paris, 27. 10. 1801

Emendation
cassée.] cassée D

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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