Eduard
v. Bülow (Hrsg.), Heinrich von Kleists Leben und Briefe.
Mit einem Anhange (Berlin: Besser 1848), V-XIV, 1-81, 274f.; darin: 17-23
Reise nach Paris
Es ist natürlich, daß die meisten Autodidakten dasjenige,
was sie auf ihre eigenthümliche, zufällige und heftige Weise erlernen, viel zu hoch
anschlagen, es ist ebenso begreiflich, daß sie in anderen Stunden, wenn ihnen Wissen und
Lernen nicht diese ruhige Genügsamkeit gibt, die unsere Seele gelinde erweitert und
unvermerkt bereichert, dann alles Wissen, Denken und Lernen, alle Kenntnisse und
Gelehrsamkeit tief verachten, und einen geträumten und unmöglichen Naturzustand höher
stellen, als alle Kultur, ja, <18:> ihn für den wahrsten und glücklichsten
halten. In dieser unglücklichen Stimmung befand sich damals unser Freund, und er wurde
nicht ruhiger, sondern nur noch aufgeregter, als er die Kantsche Philosophie kennen
lernte, der er sich einige Zeit mit dem größten Eifer ergab. Ob sie ihm angeeignet, ob
er reif für sie war, und vorbereitet genug, das sind Fragen, die sich nur schwer
beantworten lassen. Seit Kant sahen wir Schüler der sich ablösenden Systeme, die eben
als Schüler immer auf das Wort des letzten Meisters schwören, und in der Regel auf lange
für Wissenschaft und Kunst, sowie für die mannigfaltigen Erscheinungen des Lebens Sinn
und Verständniß verlieren. Selten daß Einer, was doch die wahre Aufgabe dieses Studiums
ist, seinen Geist wahrhaft erwacht fühlt, und selbst denken lernt. Es ist so bequem:
Daß ihr nur Einen hört
und auf des Meisters Worte schwört:
Im Ganzen haltet euch an Worte,
u. s. w.
Hat der Schüler sich das Leben, Geschichte, Wissenschaft und
Alles um ihn her recht verdeckt, geht er mit seiner Binde, die ihn nur wenig Raum sehen
läßt, recht gerade aus, so kann er um so sicherer Alles beurtheilen, verwerfen und
verlachen, was seinem sogenannten Systeme nicht anpaßt. Alle Menschen sollen denken
lernen, aber nicht alle sind zu Philosophen berufen.
Auch Kleist wurde auf diesem Wege stolzer und anmaßender, ohne
in seinem Innern sicherer zu werden. Jetzt schien es ihm Pflicht, sich ganz frei zu
machen, und nur der höchsten Wissenschaft zu leben. Es dünkte ihn nun
er- <19:> niedrigend, ein Staatsbürger zu sein, der durch jedes Amt, in seinem
heiligsten Beruf, sich auszubilden, nur gehindert werden könne. Auch sei es dem edlen
Menschen ungeziemend, so schwärmte er, für den Staat irgend zu wirken, wozu er nicht
selbst seine Einwilligung gegeben habe, und sich zum blinden Werkzeuge gebrauchen zu
lassen. So löste eine Verwirrung die andere ab.
Seine Unruhe und die leidenschaftliche Beängstigung wurden so
groß, daß sein heftigster Wunsch war, nur um jeden Preis seine jetzige Lage zu
verändern, erfolge auch, was da wolle.
Nach dem Briefe 7. brach
etwa im März 1801 die innere Unruhe, welche so lange in Kleist gegoren hatte, zu der
Ueberzeugung aus: daß in der Wissenschaft keine Wahrheit zu finden sei, und warf seine
Verzweiflung darüber dieselbe also ganz von sich.
Es veranlaßte ihn diese Krisis seines Innern
einen Aufsatz: die Geschichte meiner Seele zu schreiben, welcher, wie so viele
andere seiner Schriften verloren gegangen zu sein scheint; nach dem Urtheile seiner
Freunde aber sehr bedeutend gewesen sein soll.
Das Leben in Berlin ekelte Kleist immer mehr an und machte seinen
Zustand auf eine Zeitlang so trostlos, daß er am Ende nur noch in dem Gedanken einer
Reise nach Paris Rettung ersah. Den Brief an seine Braut, worin er sie um ihre
Einwilligung dazu ersuchte, schloß er mit der Erklärung, er kehre zurück, sobald er
wisse, was er thun solle, und wisse zuversichtlich, es müsse aus diesem innern Kampfe
etwas Gutes hervorgehen. <20:>
Tieck hält für möglich, daß die Regierung Kleist zu dieser Reise
unterstützte, von der er sich selbst vorspiegelte, in Paris Naturwissenschaft und
insbesondere Chemie studiren zu wollen, um die erworbenen Kenntnisse später für den
Staat zu nutzen; meint aber, daß dies auf keinen Fall bedeutend gewesen sein könne, da
Kleist dabei bekanntlich fast sein ganzes kleines Vermögen zusetzte.
Es ergibt sich aus dem Briefe 9,
daß ihm das Unternehmen schon gereute, noch ehe es begann, und an wie schwachen Fäden
seine Ausführung überhaupt hing.
Kleists Hauptbedenken dagegen war, daß er nicht allein reisen konnte,
weil er seiner Schwester schon lange vorher das Versprechen gegeben hatte, sie auf einer
etwaigen Reise in das Ausland mit sich zu nehmen. So nahe sich beide Geschwister auch in
jeder Hinsicht standen, empfand er doch, daß ihre Gesellschaft ihm bei dem gegenwärtigen
Zustande seiner Seele ein Hemmniß war, und es ängstigte ihn nicht weniger die Stimme
seines Gewissens, das ihm sagte, er werde in Paris keineswegs so studiren, wie er den
Leuten, zu Beschönigung seiner abenteuerlichen Reise, vorgespiegelt hatte.
Er trat dieselbe in Begleitung seiner Schwester im April 1801 an, und
fuhr, nach der ausführlichen Schilderung seiner Briefe 11.
bis 15., mit eigenem Geschirr über Dresden, Leipzig, Göttingen, Halberstadt, Mainz
und Cöln.
In Leipzig lernte er Platner, in Göttingen Blumenbach, in Halberstadt
Gleim kennen.
Als er bei Koblenz mit dem Postschiffe zur Nachtzeit über den Rhein
fuhr, brachte ihn ein plötzlicher Sturm <21:> in große Lebensgefahr, und
schrieb er darauf, die Scene schildernd, den merkwürdigen Brief 15. aus Paris.
Während der ersten Wochen seines dasigen Aufenthaltes scheint Kleist
in der finstersten Stimmung gelebt zu haben.
Er war zwar einigen ausgezeichneten französischen Gelehrten bekannt
geworden; zog sich jedoch, wie es schien, bald wieder von allem wissenschaftlichen Umgange
zurück und betrachtete den Zweck seines seitherigen Lebens als eine Art von Wahnsinn. Ja,
er mußte sich dabei selbst mit verachten, indem er fühlte, er sei nicht für die
Wissenschaft geboren, die er in solcher Stimmung nothwendigerweise verkannte, und doch
noch nicht den lichten Punkt in seiner Seele auffand, der ihn bald nachher in eine andere
ihm gemäße Lebensgegend leiten sollte.
Nach seinem Briefe 16.
scheint er im Monat August desselben Jahres wieder einige Ruhe in sich gefunden zu haben,
und gibt sich, in aller noch übrigen Verworrenheit kaum sichtbar, der erste Keim des
Entschlusses zu erkennen, der ihn denn doch, man denke davon wie man wolle, mittelbar zum
Dichter machte. Der nächstfolgende Brief 17.
bestätigt seinen erwachten Ueberdruß am Städteleben, und verkündet geradezu seine
Sehnsucht nach der Natur und Poesie.
Jener wunderbare Brief 18,
vom 10. October, spricht es endlich aus, daß er sich nichts weniger als die
Wissenschaft, sondern nur ein unfruchtbares Vielwissen und Viellernen zu verachten
unterfing, und seine zuvor unbestimmte Sehnsucht gibt sich als das unabweisliche
Bedürfniß zu er- <22:> kennen, etwas Gutes zu thun, oder, mit einem anderen
Worte, geistig zu produciren. Das Wie vermag dem Dichter erst in der Folge sein Talent zu
sagen. Jetzt kommt es nur darauf an, unter der Hand der Ruhe und Einsamkeit seine Natur
von dem Kinde des Geistes zu entbinden.
Um sich in sein Allerinnerstes vertiefen zu können, muß er die Welt
und Gemeinschaft der Menschen fliehen, und da er doch nicht zugleich seine Braut verlassen
kann, vereinigen sich die beiden Bedürfnisse in ihm zu dem Entschlusse, ein Bauer oder
Landmann zu werden. Er spricht dasselbe der Geliebten aus, indem er sie auffordert, solch
bescheidenes Loos mit ihm zu theilen, und, an der Hand der Liebe, zu den einfachsten
Verhältnissen der Natur zurückzukehren. Ein glänzenderes Geschick, erklärte er ihr,
gestatteten ihm seine beschränkten Vermögensumstände so wenig wie seine
Lebensgrundsätze, ihr anzubieten; als Landmann in der Schweiz, wo er ein Haus und einen
Acker kaufen und bestellen wolle, sei er aber wohl im Stande, sich und sie, mit dem was
sie besäßen, zu erhalten.
Er redet ihr nicht zu, seine Wünsche zu erfüllen, stellt ihr das
Leben, welches sie zusammen führen würden, von keiner lockenden poetischen Seite dar;
sondern sagt ihr vielmehr, mit kurzen, dürren Worten, was sie alles, sobald sie ihm
folge, aufzuopfern habe, und überläßt es ihr allein, sich auszumalen, mit welchem
Glück sie seine Liebe dafür entschädigen könne.
Man ist in unserer conventionellen Welt unter sich übereingekommen,
einen Lebensplan wie diesen Kleistschen mit dem Spottnamen eines abenteuerlichen,
überspannten, <23:> jugendlich unreifen zu belegen. Nichts destoweniger
führen unzählige gebildete Ansiedler in überseeischen Weltgegenden ein Landleben, wie
es Kleist im Sinne hatte, zu ihrem Glücke und ihrer Zufriedenheit. Es vermissen unter
ähnlichen Umständen eben so wenig viele Europäer das städtische Wesen, als sie etwa,
wie man zu sagen pflegt, verbauern, oder in geistigen Schlaf verfallen. Dem sei, wie ihm
wolle. Es fragt sich hier nicht, ob Kleist ein solches Naturleben auf die Dauer ertragen
und fortzuführen gewünscht; es handelt sich nur darum, was geschehen wäre, wenn er es
begonnen hätte. Wenn seine Geliebte ihm die Hand dazu gereicht, wenn er also innere Ruhe
und eine äußere Heimath gefunden, wenn sich sein Talent ebenso, wie es wirklich geschah,
auch in seinem Glücke ausgeprägt hätte?
Briefe 7] An Wilhelmine v. Zenge, Berlin,
22. 3. 1801
Briefe 9] An Wilhelmine v. Zenge, Berlin,
9. 4. 1801
Briefe 11. bis 15.] An Wilhelmine v. Zenge,
Dresden, 4. 5. 1801; an dies., Leipzig, 21. 5. 1801; an dies.,
Göttingen, 3. 6. 1801; an Karoline v. Schlieben, Paris,
18. 7. 1801; an Wilhelmine v. Zenge, Paris, 21. 7. 1801
Briefe 16] An Wilhelmine v. Zenge, Paris,
15. 8. 1801
Brief 17] An Luise v. Zenge, Paris,
16. 8. 1801
Brief 18] An Wilhelmine v. Zenge, Paris,
10. 10. 1801
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