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Uwe Jochum
Die Frage, ob es klug und angemessen ist, Dissertationen verpflichtend per »Open Access« zu veröffentlichen, ist eine Frage, die meines Erachtens nur dann angemessen beantwortet werden kann, wenn man verstanden hat, um was es bei »Open Access« eigentlich geht. Ich will daher zunächst versuchen, Ihnen in aller Kürze die wichtigsten Quellen zu nennen, aus denen sich der Trend zu »Open Access« historisch speist; ich schaue also zunächst auf die Genese der Sache. In einem zweiten Schritt will ich sodann diese Trendquellen unter dem Aspekt ihrer argumentativen Validität in den Blick nehmen, also den Wahrheitsgehalt der zugunsten von »Open Access« vorgebrachten Argumente prüfen.
1. Eine Kurzgeschichte von »Open Access« Lassen Sie mich also mit einem kurzen historischen Rückblick auf den »Open-Access«-Trend beginnen. Dieser Trend speist sich im wesentlichen aus drei Quellen.
1.1. Zeitschriftenkrise und Geld Die erste Quelle für den Trend zu »Open Access« ist die sog. Zeitschriftenkrise, die in den Universitätsbibliotheken in den 1990er Jahren zutage trat. Die Zeitschriftenkrise ist leicht zu beschreiben und in den Grundzügen Ihnen wahrscheinlich bekannt: Vor allem in den STM-Fächern – science, technology, medicine – stiegen und steigen die Abonnementspreise für Zeitschriften überproportional, weil ein Oligopol aus fünf Verlagen – es sind dies Elsevier, Thomson Reuters, Wolters Kluwer, Springer und Wiley – über die Marktmacht verfügt, teure Zeitschriftenpreise und hohe Preissteigerungsraten gegenüber den Bibliotheken durchsetzen zu können. Die Marktmacht des Oligopols ist deshalb so groß, weil in seinen Händen ein erheblicher Anteil der reputierlichen und hochgerankten Zeitschriften aus den STM-Fächern liegt. Die Bibliotheken haben auf den vom Oligopol ausgehenden Preisdruck mit der Kündigung von Abonnements reagiert, woraufhin die Verlage natürlich mit einer Verteuerung der Abonnements geantwortet haben, um die Einnahmeausfälle auszugleichen. Daraufhin haben die Bibliotheken wiederum Abonnements gekündigt, und die Verlage wiederum die Abonnementspreise heraufgesetzt – und dabei kam ein Spiel in Gang, das bis heute gespielt wird und bei dem sich eine Kündigungs- und Verteuerungsspirale im gleichen Takt munter drehen und einen Teufelskreis erzeugen. Dieser Teufelskreis erzeugt nun aber einen strukturellen Effekt, den man verheerend nennen muß. Denn auf der einen Seite müssen die Bibliotheksetats immer stärker zugunsten der STM-Fächer umgeschichtet werden, so daß in den Sozial- und Geisteswissenschaften immer weniger Mittel für den Kauf von Monographien zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite gehen aber die STM-Fächer aus dieser Mittelumschichtung gar nicht als Gewinner hervor, denn trotz steigender Mittel sorgt der Teufelskreis dafür, daß bei steigendem Etatanteil für die STM-Fächer immer weniger STM-Zeitschriftenabonnements gehalten werden können. Mit anderen Worten: Die Zeitschriftenkrise der STM-Fächer beschädigt die Bibliotheksetats insgesamt und beschädigt damit die Zeitschriften-, Buch- und Medienversorgung aller Fachgebiete. Verschärfend kommt hinzu, daß die Etats praktisch aller Bibliotheken seit Jahren – besser: Jahrzehnten – »gedeckelt« sind und bei nominell gleichbleibenden Etats durch inflationsbedingte Kaufkraftverluste immer weniger gekauft werden kann. Aus dieser Situation schien die Digitalisierung einen einfachen Ausweg zu bieten. Man ging nämlich davon aus, daß ein Medienwechsel vom Papier zum Digitalen die Zeitschriftenkrise mit einem Schlag beenden würde, weil das Digitale viel billiger herzustellen, zu vertreiben und zu speichern sei als das Papierene. Dabei argumentierte man vor allem mit der Praxis der fünf Oligopolverlage, die von den Autoren ihrer Zeitschriftenbeiträge nicht nur ein mehr oder weniger druckfertig gelayoutetes Manuskript verlangen, sondern für die Publikation des Aufsatzes auch noch eine Publikationsgebühr in Rechnung stellen, die mehrere hundert bis mehrere tausend Euro betragen kann. Das alles, so dachte man, könne man sich sparen, wenn die Wissenschaftler ihre Aufsätze in elektronischen Zeitschriften und auf Volltextservern veröffentlichen würden, die am besten in einer Kooperation zwischen wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Universitätsbibliotheken zu betreiben seien. Man könnte damit die teuren privatkapitalistischen Verlage aus dem Geschäft drängen und das steuerfinanzierte wissenschaftliche Publikationswesen in den Händen des Staates behalten, wo es kapitalismusfrei und also billiger organisiert werden könne. »Open Access« ist in dieser Logik nur der letzte Schritt. Er besteht darin, das zukünftige digitale Publikationswesen der Wissenschaften durch eine Umkehr der Zahlungsströme zu finanzieren und durch diese Umkehr noch einmal eine Kostensenkung zu erreichen. »Umkehr der Zahlungsströme« meint, daß die Kosten einer Zeitschriftenpublikation nicht mehr auf die Abonnenten der Zeitschrift umgelegt werden sollen, sondern vom Autor zu tragen sind; im Gegenzug sollen dann die möglichen Leser weltweit frei und kostenlos an die publizierten Artikel herankommen – »weltweit frei und kostenlos«, weil das in den elektronischen Fachzeitschriften und auf den Volltextservern Publizierte ja übers Internet jederzeit zugänglich wäre. Es scheint, daß das Modell in Teilen der Naturwissenschaften deshalb auf so große Resonanz gestoßen ist, weil dort ja aufgrund einer jahrzehntelangen Praxis die Oligipolverlage Publikationsgebühren von den Autoren verlangt hatten. Anstelle der Publikationsgebühren für böse kapitalistische Verlage nun kostendeckende Gebühren für gute staatlich-kommunitäre Volltextserver zu bezahlen – das scheint ein Nullsummenspiel, vielleicht sogar ein Kostensenkungsspiel, das man gefahrlos spielen kann: Die bösen Verlage werden bestraft und die guten steuerfinanzierten Wissenschaftler und Bibliotheken werden belohnt, weil sie, wenn die Rechnung aufgeht, dem Steuerzahler billiger zur Verfügung stellen können, was der Steuerzahler von ihnen haben will: nämlich publizierte Wissenschaft.
1.2. Dissertationen und Massenpublikationen Die zweite Quelle, die den Trend zu »Open Access« gewässert hat, war das Problem der Dissertationen und ihrer Veröffentlichungspflicht. Hier konnte man lange Zeit damit leben, daß die guten und sehr guten Dissertationen von den Wissenschaftsverlagen publiziert würden, während all das, was nur aus Gründen der akademischen Titelbeschaffung geschrieben worden war, im Copy-Shop fünfzig Mal kopiert und in der Dissertationenstelle der Bibliothek abgegeben wurde, wo es über den von den Bibliotheken organisierten Dissertationentausch europa- oder gar weltweit gestreut wurde, um damit auch als publiziert gelten zu dürfen. Mit den steigenden Studenten- und daher auch steigenden Promovendenzahlen wurde das System des Dissertationentauschs natürlich immer mühsamer und lustloser, weil es ein aufwendig organisiertes System zur Distribution ebenjener Arbeiten war, deren wissenschaftliche Meriten doch eher im mikroskopischen Bereich lagen. In den 1990er Jahren kam deshalb die Idee auf, das ganze Verfahren vom Papier aufs Elektronische umzustellen und also – anstatt ein Verteilungssystem von papierenen Dissertationen zu organisieren – die Dissertationen auf elektronischen Volltextservern von Bibliotheken zu parken, von wo sie ja, wegen der Vernetzung der Server übers Internet, bequem jederzeit heruntergeladen werden könnten. Auf diese Weise wäre man mit einem Schlag all den Verwaltungsaufwand los, den das papierene Distributionssystem mit sich brachte, und die unbequemen Dissertationen wären einem akademischen Müllschlucker anvertraut, der, oh ewiges Wunder des Elektronischen, den Müll bei Bedarf auch wieder von sich gibt. Die Idee war offensichtlich so gut, daß seit den 1990er Jahren immer mehr Fakultäten bereit waren, Dissertationen auch dann als publiziert zu betrachten, wenn sie einem solchen universitätsbibliothekarischen Volltextserver einverleibt worden waren. Auch hier ist »Open Access« nur der letzte Schritt der Entwicklung. Der Schritt besteht darin, es nicht mehr dem Willen des Doktoranden zu überlassen, ob er seine Dissertation bei Suhrkamp veröffentlichen oder auf einen universitären Volltextserver aufspielen will, sondern Dissertationen als Element einer Wissenschaft zu betrachten, die als ein steuerfinanziertes Unternehmen für die Steuerzahler dazusein habe, weshalb die Steuerzahler mit gutem Recht fordern können, übers Internet einen unmittelbaren und freien Zugang zu den Wissenschaftspublikationen und also auch zu den Dissertationen zu haben. Man nennt so etwas jetzt eine »Wissensallmende« und meint damit, daß Wissen jetzt ein gemeinsames Gut all derer sein soll, die an diesem Wissen partizipieren wollen und es durch ihre Steuerfinanzierung ermöglichen. Will man das, muß man freilich die Eigentumsrechte an diesem Wissen einschränken oder ganz aufheben, d.h. diejenigen, die ein bestimmtes Wissen hervorgebracht und in bestimmter Form veröffentlicht haben, müssen zugunsten des die Wissensallmende tragenden Kollektivs enteignet werden.
1.3. Dekonstruktivismus und Autorschaft Daß man eine solche Enteignung für zweckmäßig hält, liegt an der dritten Quelle, aus der sich der »Open-Access«-Trend speist, es liegt am Dekonstruktivismus. Im Rahmen dieser Theorie ist ein Text keine von einem Autor zu verantwortende geistige Schöpfung, sondern ein Gewebe von intertextuellen Zitaten, die sich nicht mehr zu einer autorgewollten Einheit formieren. Was es an Einheit im Gewebe der Texte allenfalls noch gibt, ist das, was der Leser bei seiner Lektüre als Textsinn aktualisiert. Es war ein großer Augenblick für diese Theorie, als in den 1980er Jahren zunächst die ersten Modellierungen von »Hypertexten« und kurz danach das Internet aufkam, denn beides war genau das, was man sich in der Theorie so schön vorgestellt hatte: ein unendliches Gewebe von Texten, multimedial angereichert, ein Gewebe, in dem man sich dank der Links frei bewegen konnte. Und auch hier ist »Open Access« bloß der letzte Entwicklungsschritt, bei dem man die Idee vom autorfreien Textgewebe auf die Wissenschaft übertragen hat. Assistiert haben dabei die großen Wissenschaftsorganisationen mit ihrer aus den Naturwissenschaften importierten Vorstellung, alle Wissenschaft sei Teamarbeit oder das, was man jetzt immer so schön entlarvend »kollaboratives Arbeiten« nennt. Die Anhänger von »Open Access« haben das natürlich sofort aufgenommen und versuchen seit einiger Zeit, die als Kollaborationsprojekt verstandene Wissenschaft technisch zu optimieren. Das geschieht dadurch, daß man die Volltextserver mit den elektronischen Dokumenten in größere elektronische Forschungsplattformen einbaut, die netzbasierte kollaborative Arbeitsprozesse ermöglichen sollen. Das intendierte Ende dieses Prozesses ist die volldigitale und vollintegrierte Forschungsmaschine, die uns alle miteinander verbindet und unsere Hervorbringungen, die – das wissen wir nun ja – gar nicht unsere Hervorbringungen sind, als kollektiv-kollaboratorische Denk- und Forschungsprozesse »hostet«, wie man das dann wohl nennen muß. Damit bin ich mit meinem historischen Abriß zu den Quellen von »Open Access« auch schon am Ende. Ich muß Ihnen nur noch sagen, wann und wo die drei Quellen zusammenfließen und den »Open-Access«-Strom zu bilden beginnen. Das Wann liegt im Winter 2001 auf 2002, das Wo liegt in Budapest. In Budapest verabschiedete man nach einer »Open-Access«-Konferenz am 14. Februar 2002 eine Erklärung, in der es wörtlich heißt: »Frei zugänglich im Internet sollte all jene Literatur sein, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ohne Erwartung, hierfür bezahlt zu werden, veröffentlichen.« Für den deutschsprachigen Raum, aber auch darüber hinaus, wurde dann die »Berliner Erklärung« vom Oktober 2003 maßgebend, in der die sog. »Allianz der Wissenschaftsorganisationen« sich für eine umfassende und frei zugängliche Repräsentation des Wissens im Internet ausspricht und die steuerfinanzierten Forscher und Stipendiaten »darin bestärken« will, ihre Forschungsergebnisse per »Open Access« zu veröffentlichen. Seither wird in Deutschland allüberall »Open Access« von den Allianzorganisationen, allen voran natürlich der DFG, finanziell mit Millionenbeträgen gefördert und verbal und mit anderen Methoden propagiert.
2. Der systemische Kontext von »Open Access« Fragen wir nach diesem historischen Rückblick nun danach, was an der Sache dran ist und betrachten wir dazu noch einmal die drei geschilderten »Open-Access«-Quellen.
2.1. Zeitschriftenkrise und Geld Da wäre als erstes also wieder die Zeitschriftenkrise, die auf der einen Seite natürlich eine echte Finanzierungskrise ist, auf der anderen Seite aber nur das Symptom der Krise des Wissenschaftssystems insgesamt. Diese Krise besteht darin, daß sich das System der Wissenschaften immer weiter verästelt und immer mehr immer speziellere Stimmen versuchen, sich Gehör zu verschaffen. Das bewirkt erstens eine Publikationsschwemme und zweitens eine manifeste Rezeptionskrise: Niemand liest mehr, was geschrieben wird, schon gar nicht die Arbeiten der Doktoranden, wie der Fall Guttenberg und alle anderen Plagiatsfälle ja sehr deutlich gezeigt haben. Fragen wir uns zunächst, ob die Umstellung des Publikationswesens vom Papier aufs Digitale tatsächlich Kosten sparen würde und also ein Beitrag zur Krisenlösung wäre. Die Antwort lautet schlicht und ergreifend: Nein. Die Umstellung auf digitales Publizieren ist nicht im geringsten billiger als das Publizieren von Papier, und das liegt daran, daß beim digitalen Publizieren die Grundkosten des Veröffentlichens sich gar nicht reduzieren, sondern höchstens auf andere Kostenträger verschoben werden. Mehr noch: Die Umstellung aufs Digitale macht das Veröffentlichen nicht nur nicht billiger, sondern die von »Open Access« betriebene Umkehr der Zahlungsströme macht das Publizieren für jene Einrichtungen, die über publikationsfreudige Wissenschaftler verfügen, sogar teurer. Denn, um es noch einmal zu sagen: Es sollen jetzt die Publikationskosten nicht mehr auf die Abnehmer verteilt werden, sondern es wird an der Quelle zur Kasse gebeten; und wenn die Quelle munter sprudelt, wird das eine sehr teure Quelle. Das gibt man inzwischen auch von Seiten der »Open-Access«-Vertreter zu. So heißt es auf der Internetseite der »Informationsplattform open-access.net«, daß forschungsintensive und publikationsstarke Einrichtungen »bei der Umkehrung der Finanzlast von Nutzerinnen und Nutzern hin zu Autorinnen und Autoren relativ mehr zahlen müssen als Hochschulen und Forschungseinrichtungen, an denen weniger publiziert wird.« Hier haben Sie übrigens auch den Grund, warum »Open Access« sich weltweit Geltung verschaffen will: Man hofft, durch eine weltweite Umstellung auf »Open Access« ebenjenen gerade genannten unschönen Effekt, daß die forschungsintensiven Einrichtungen und Staaten die Kosten der Forschungspublikationen tragen, beseitigen zu können, indem, so die Hoffnung, derjenige, der viel gibt, auch viel erhält. Die Katholiken unter Ihnen wissen, daß das erstens eine Hoffnung ist und zweitens sich erst dann erfüllen wird, wenn dieser Äon zu Ende geht. Halten wir also fest: Die Umstellung des Publizierens aufs Digitale löst die Finanzprobleme der öffentlichen Hand keineswegs – und sie löst erst recht nicht die Krise des Wissenschaftssystems. Ganz im Gegenteil prolongiert sie diese Krise, weil die relative Leichtigkeit des elektronischen Publizierens die Publikationsschwemme verstärkt und nicht vermindert.
2.2. Dissertationen und Massenpublikationen Schauen wir nun noch einmal auf die Dissertationen, und zwar unter dem Aspekt, daß sie Teil der Publikationsschwemme sind. Die Publikationsschwemme wurde bislang durch zwei einfache Filtermechanismen bewältigt. Auf der einen Seite sorgten die Verlage dafür, daß nicht alles gedruckt wurde, und auf der anderen Seite sorgten die Bibliotheken dafür, daß nicht alles Gedruckte in den Bibliotheken Aufnahme fand. Man konnte und kann daher bei einigem Idealismus davon ausgehen, daß das, was es an Gedrucktem in die Bibliotheken schafft, auch in irgendeiner Form wissenschaftlich relevant ist. Schauen wir nun, wie das unter Anwendung des »Open-Access«-Paradigmas laufen soll. Da haben wir zunächst die Unterstellung, es genüge, einen in Word mit 12 Punkt Times New Roman, eineinhalbzeiligem Zeilenabstand und Blocksatz mit einer Zeilenbreite von 15 Zentimetern geschriebenen Text als PDF auf den Volltextserver der Universität hochzuladen. Das kann man natürlich tun. Nur: Ein im eminenten Sinne lesbarer Text ist das nicht. Es ist nichts weiter als das, was früher die Schreibmaschinenversionen der Dissertationen waren, unangenehme Buchstabenwüsten, die man nur im Notfall zur Kenntnis nahm. Um aus so einem Text einen augenfreundlichen lesbaren Text zu machen, braucht es einige Sachkenntnis, die an vielen Verlagen immer noch vorhanden ist, in den Universitäten in der Regel aber nicht einmal mehr an den literaturwissenschaftlichen Instituten. Zu dieser Sachkenntnis würde, nur beispielshalber, gehören, daß Times New Roman eine Zeitungsschrift mit sehr enger Laufweite ist, die für Buch- und Zeitschriftentexte ungeeignet ist, daß eine Typengröße von 12 Punkt für Bücher zu groß ist, daß ein Zeilenabstand von eineinhalb Zeilen bei einer 12-Punkt-Brotschrift ein typographisches Verbrechen darstellt und eine Zeilenweite von 15 cm zu einer Art Selbstmord des Textes führt. Die Transformation vom Unlesbaren zum Lesbaren ist also keineswegs so trivial, daß man sie als typographisch Ungeschulter mit links erledigen könnte. Das Nichttriviale dieser Transformation liegt zu guter Letzt darin, daß es um die Integrität des Textes geht, der seine Argumentation ja nicht einem optischen und haptischen Leer-Raum übergibt, sondern Menschen erreichen möchte. Und dazu ist es nötig, daß die Integrität der Argumentation sich mit der Integrität des Textes verbindet und im Hinblick auf die Leser das Optimum zu erreichen versucht: das verständliche Argument in einem für Menschen lesbaren Text. Die Integrität der Argumente und der Texte ist aber nicht alleine eine binnentextuelle Angelegenheit, sondern betrifft natürlich auch den Kontext, in dem ein Text vorkommt. Und hier zeigt sich nun, daß Verlage und Bibliotheken eben keine veralteten Publikations- und Speichermaschinen sind, die man durchs Internet als neuer Publikations- und Speichermaschine so einfach ersetzen kann. Vielmehr sind Verlage und Bibliotheken Qualitäts-, Aufmerksamkeits- und Themenfilter. Wer, nur beispielshalber, als Historiker im Beck-Verlag in München ein Buch veröffentlicht, der wird wenig Affinität zu Foucault zeigen, darf seine akademische Karriere aber gleichwohl für gesichert halten; wer das Buch dieses Historikers in der Bibliothek sucht, wird es dort zurecht in der Abteilung fürs Historische finden und durch den Kontext der benachbarten Regale oder Katalogeinträge die Relevanz des Buches eruieren können. Und nun stellen wir uns vor, daß, wie bei »Open Access« vorgesehen, die wissenschaftlichen Veröffentlichungen auf die Volltextserver der Universitäten aufgespielt werden. Dort fällt der gesamte Qualitäts-, Aufmerksamkeits- und Themenfilter in sich zusammen und zerstört in diesem Zusammenbruch die Integrität der wissenschaftlichen Arbeiten. Ich will Ihnen das nur an einem – erfundenen, aber plausiblen – Beispiel vor Augen führen: Auf ein und demselben Server einer Universität findet sich die Times-New-Roman-Dissertation zur Sklavenarbeit von Chinesen bei Apple (geschrieben von einem Politologen) und die von einem Betriebswirt geschriebene Times-New-Roman-Dissertation zur genialen Marketingstrategie von Apple, mit Dankwort zum von Apple gewährten Druckkostenzuschuß. Im bisherigen Wissenschaftsleben wäre die eine Dissertation vielleicht bei Suhrkamp, die andre bei Peter Lang erschienen. Nun aber sind sie unterschiedslos auf demselben universitären Volltextserver zu finden, und diese Unterschiedslosigkeit bewirkt, daß die Aussageabsicht der Texte durch das Publikationsumfeld konterkariert wird: Aus solchen Konstellationen geht kein Text unbeschädigt hervor. Und das heißt zuletzt: Aus solchen Konstellationen geht kein Autor unbeschädigt hervor. Und damit bin ich bei meinem dritten Punkt, der dekonstruktivistischen Zerstörung verantwortlicher Autorschaft.
2.3. Dekonstruktivismus und Autorschaft Es ist einer der vielen Irrtümer im Zusammenhang mit der Debatte um »Open Access«, daß die Frage der Autorschaft erst im 19. Jahrhundert virulent geworden sei. Das Problem der Autorschaft begleitet das Schreiben vielmehr, seitdem es Schrift in unserem Sinne überhaupt gibt – seit etwa 3000 v. Chr. Seither werden Texte namentlich gekennzeichnet, um das, was sie sagen, zu validieren. Am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts kommt zu dieser langen Synthese von Verfassername und Text lediglich die juristische Absicherung der Autorschaft hinzu, indem die Verfügungsgewalt über Texte als »geistiges Eigentum« abgesichert wird. Die treibenden Figuren, denen wir das maßgeblich verdanken, waren Kant, Fichte, Schelling und Hegel. Sie haben das Argument entwickelt, auf das es bis heute ankommt. Das Argument lautet: Wer ein Buch kauft, kauft die Text und Buch gewordene Gedankenform eines Autors in der Hoffnung, bei der Lektüre diese Denkform sich anzueignen, was zwingend so vor sich geht, daß dabei die fremde Denkform in die eigene Denkform und in eigenes Sprechen und Schreiben übersetzt wird. Wenn wir nun aber das Denken eines Autors nicht anders als in einer materiellen Form, nämlich als Text in einem Buch, rezipieren können, dann heißt das nichts anderes, als daß die Textgestalt und die Buchgestalt des Gedachten unverzichtbares Element der Aussageabsicht ist. Anders gesagt: Sie können einen Autor gar nicht anders ehren und wertschätzen als darin, daß sie seinen Text ehren und wertschätzen, und zwar genau so, wie er vom Autor über die vom Autor gewollten Distributionswege hinweg zu Ihnen gefunden hat. Wenn Sie das ignorieren, ignorieren sie die fundamentale ethische Beziehung zwischen einem Autor und seinem Text, die darin besteht, daß der Text nur ist, was er ist, weil er genau so, wie er ist, auf einen verantwortlichen Autor zurückgeführt werden kann, und weil andererseits wir alles, was wir vom Autor zu wissen meinen, nur wissen, weil er sich uns in seinen Texten, die so sind, wie sie sind, als dieser und kein anderer Autor zeigt. Von hier aus zeigt sich nun sofort, daß das Ansinnen, für Dissertationen eine strikte Veröffentlichungspflicht auf Volltextservern etwa von Bibliotheken vorzusehen, völlig verfehlt ist. Eine solche Pflicht würde unterminieren, worauf es bei Wissenschaft ankommt – nämlich auf die freie Entscheidung des Forschers für seine Forschungsgebiete und -methoden, zu der notwendigerweise auch die freie Entscheidung über den Zeitpunkt und über die Art und Weise, das Herausgefundene mitzuteilen, gehört. Daß man dies nun ausgerechnet für Dissertationen, die doch das Gesellenstück der Wissenschaftler darstellen sollen, in Frage zu stellen beginnt, ist ein schlechtes Zeichen für die Wissenschaft insgesamt: Offenbar soll schon der Geselle lernen, daß er als staatlich alimentierter Wissenschaftler seine Wissenschaftsfreiheit und seine Autorschaft nur noch nach Maßgabe des Staates und d.h. nach Maßgabe des Kollektivs der Steuerzahler ausüben darf. Das aber heißt, er soll lernen, auf sein geistiges Eigentum zugunsten des Kollektivs zu verzichten. Ich bezweifle allerdings sehr, daß das ein Modell ist, das geeignet ist, so etwas wie maßgebliche Wissenschaft hervorzubringen. Es gleicht in jedem seiner Elemente viel zu sehr dem, was es im Ostblock seligen Angedenkens einst als kollektiv-kollaboratorische Planwissenschaft gab. Stellen wir daher die ganze Sache des wissenschaftlichen Veröffentlichens von den kollektiven Füßen auf den individuellen Kopf. Mit einem Schlag ist dann alles ganz einfach: Das wissenschaftliche Publikationswesen muß in jedem seiner Momente dem Wissenschaftsautor die Freiheit einräumen, so zu veröffentlichen, wie er es will. Und genau das negiert »Open Access« durchweg, indem es einen Systemwechsel des Publikationswesens durchsetzen will, der nicht einfach einen Wechsel vom Papier zum Elektronischen bedeutet, sondern einen Wechsel von individuell verantworteter Autorschaft zu kollektiver Bevormundung. Legitimiert wird dieser Wechsel durch die im Namen des Kollektivs sprechenden Vormünder, die uns immerzu einzureden versuchen, sie kennten unsere wahren Absichten besser als wir selbst und hätten das richtige Zukunftskonzept. In Deutschland nennt sich dieser Vormund »Allianz der Wissenschaftsorganisationen«, in der Schweiz nennt er sich »Nationalfonds«. Was diese Vormünder, wenn man sie gewähren läßt, von unserer Freiheit übrig lassen, ist genau das, was Kant einmal sehr treffend formuliert hat: Es ist »die Freiheit eines Bratenwenders«. (21.11.2012)
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