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Roland Reuß Es ist ein seltsames Phänomen, wenn kulturelle Errungenschaften, die in einem langen Kampf institutionalisiert worden sind, kampflos preisgegeben werden sollen – bloß weil angeblich die Kräfteverhältnisse so sind, daß man ein wenig Mut zusammennehmen muß, gegen die Einkassierung aufzustehen. Wären die Interessenvertreter im Bereich der Sozialversicherungssysteme genauso lethargisch wie die Autoren und Verlage im Zusammenhang der aktuellen Urheberrechtsfragen, es gäbe schon lange keine Krankenversicherung mehr. Für das Urheberrecht und das aus ihm abgeleitete Verwertungsrecht an künstlerischen und wissenschaftlichen Werken ist in Deutschland seit Mitte des 18. Jahrhunderts gestritten worden, und die Künstler (und in ihrem Windschatten: die Wissenschaftler) haben schließlich mit nach wie vor gültigen und plausiblen Gründen eine Rechtsform durchsetzen können, die die Bedingungen dafür schafft, von den Erträgen kreativer Produktion leben zu können. Nun ist durch das Internet und seine scheinbar grenzenlose ›Verfügbarmachung‹ von Informationen (und die in ihr zu konstatierende bedingungslose Gier, sich solche Informationen zu verschaffen) eine Situation eingetreten, die, will man nicht jeden Gedanken an die Produktion von neuem Kulturgut ad acta legen, eine politische Regelung auf höchster Ebene an sich zwingend notwendig macht. Wenn prominente Bibliotheksleiter so tun, als sei die Kooperation mit (nicht die Kritik an) Google alternativlos, so ist das bestenfalls gedankenlos, schlimmstenfalls bekennende Prostitution; wenn Verlagsvertreter ins selbe Horn tuten und so tun, als handle es sich hier um eine technische Entwicklung, die man ohnedies nicht aufhalten könne, und nicht um eine in jeder Hinsicht politische Frage, so sind sie schlicht zu faul, für ihre Interessen zu kämpfen und gerade dadurch entziehen sie diesen Interessen die Legitimation. Es ist nicht einzusehen, daß amerikanische Regierungsbeamte bei politischen Gesprächen die Interessen amerikanischer Konzerne (und der Patente, die sie verwalten) machtvoll vertreten (siehe nur Microsofts lobbying), die deutsche Regierung auf Google und speziell GoogleBooks aber mit einem Blick schielt, wie der es war, den einst das berühmte Kaninchen auf die berühmte Schlange geworfen hat. Es ist ihre Aufgabe, die Interessen der in diesem Land kreativ Arbeitenden zu schützen und dafür zu sorgen, daß – im Falle der dauernden Urheberrechtsverletzungen durch GoogleBooks – die bewußte oder bewußt in Kauf genommene Aushöhlung anderer Rechtssysteme als das amerikanische es ist, aufhört. Ginge es um Zölle auf Bier oder Weißkraut, schon längst wäre tacheles geredet, das Schützenswerte wäre geschützt gewesen. Nicht so im Fall von Literatur. Man kann den Eindruck gewinnen, daß der Sektor der literarischen Produktion von Regierungsvertretern (und zwar EU-weit) so gering geschätzt wird, daß sie es nicht der Mühe wert finden, eine scharf umrissene Position in dieser Angelegenheit auszubilden und dann auch in Verhandlungen durchzusetzen. Diese Haltlosigkeit ist nicht hinnehmbar. Ob in Deutschland unter vernünftigen Bedingungen geschrieben werden kann, wer den Mehrwert dieses Schreibens abschöpft und wo diese Abschöpfung stattfindet, sind mindestens so vitale Fragen des Staatswesens wie die nach der Sicherstellung der nächsten Erdgaslieferungen oder (hier ist die Politik ja immer besonders engagiert) nach der nächsten Olympiade auf deutschem Boden. Worum geht es? Es geht um den gewaltsamen Versuch, ein in einem langen Prozeß erstrittenes Verfügungsrecht durch einfaches Verfahren in ein bloßes Einspruchsrecht zu transformieren und dabei entstehende Kollateralschäden durch ridiküle finanzielle Zahlungen abzugelten. Dabei geht Google immer schamloser zu Werke und enteignet kollektiv die europäische Produktion an Büchern ihrer spirituellen und materiellen Basis. Damit meine ich nicht nur etwa einen Fall wie den, daß ich auf dem server von GoogleBooks vor einem Vierteljahr auf den vollständig eingescannten, mit OCR-software behandelten Briefband unserer Kleist-Ausgabe (Briefe 1, 1793-1801) stieß. Hier konnte man bei der geistlosen Art, die solchem Freibeutertum eigen zu sein scheint, noch annehmen, daß der Titel für das Erscheinungsjahr genommen wurde – einen Klett-Cotta-Band Goethe erblickte ich ebenda als sogenannten Volltext mit dem Erscheinungsjahr 1693!. Aber diese largesse hat Methode, denn sie zeigt klar, wie wenig man bei GoogleBooks darauf Wert legt, sich juristisch korrekt zu verhalten. Verifikation (wie übrigens auch Qualitätskontrolle) wird als unnötig angesehen. Und tatsächlich existiert bei Google eine Kampfkasse, die für Schadensersatz, der aus solchen ›Versehen‹ ensteht, locker die Kosten übernehmen kann. Peanuts. Inzwischen sind auch nahezu alle anderen Bücher des Verlags, in dem unsere Kafka- und unsere Kleist-Ausgabe erscheint, erkennungsdienstlich von GoogleBooks behandelt (sie sind mit OCR-software recherchierbar gemacht und schnipselweise anzeigbar). Es handelt sich dabei nicht um ein Kavaliersdelikt, sondern um einen eklatanten Rechtsbruch. Von diesem Verfahren sind freilich nicht nur wissenschaftliche Fachverlage, sondern auch Publikumsverlage wie etwa S. Fischer und Suhrkamp betroffen, deren Druckerzeugnisse ebenfalls (wie man so schön sagt:) retrodigitalisiert wurden. Daß die sich bis dato nicht gerührt haben (weder juristisch noch öffentlich), spricht nicht gerade für ihr Selbstbewußtsein. Ohnedies ist beklagenswert, daß die Verlagsbranche es bisher nicht geschafft hat, eine einheitliche und den politischen Bereich auch beeindruckende Stellung zu dieser kommerziellen Entwertungsmaschine aufzubauen. Der Grund dafür scheint mir in der weitgehend kopflosen Strategie (wenn man das so nennen kann) der im Börsenverein zusammenlaufenden Interessengruppen zu liegen. Besonders diejenigen, die Google einst freiwillig Bücher zur Verfügung stellten, stehen ziemlich diskreditiert da, wenn es um den öffentlichen Protest gegen weitere Formen der Enteignung geht (so etwa in der Debatte um erzwungenes Open Access). Sie dürfen jetzt erleben, daß der ihnen versprochene Algorithmus, nur bestimmte Seiten ihrer Bücher aufscheinen zu lassen, genauso leicht zu knacken ist wie die Sperre, die es verhindern sollte, eine Seite auszudrucken. Daß im Prinzip alle Bücher, die auf den amerikanischen Servern zu finden sind (also auch die für europäische IPs gesperrten), auch auf http://www.archive.org eingestellt werden, dürfte sich bei den betroffenen Verlagen zudem langsam ebenfalls herumgesprochen haben. Zur Rückgewinnung von moralischer Kraft und im Interesse einer einheitlichen Position der Verlagsbranche sollten die peinlichen Verträge mit Google allesamt gekündigt (die Kündigungsgründe liegen auf der Hand) und das Allgemeine in den Blick genommen werden. Das Allgemeine kann freilich nicht darin bestehen, die VG Wort vorzuschicken und sie dabei gewähren zu lassen, mit Google einen ähnlich faulen Kompromiß zu schließen wie die amerikanischen Verlage ihn mit dem Konzern geschlossen haben – die Abgeltung von Urheberrechtsverletzungen in der Höhe von 60 Talern ist ein schlechter Witz, und überhaupt kann, eine Anmaßung, in dieser Angelegenheit die VG Wort für mich als Autor keine Rechte geltend machen, geschweige denn abtreten. Die Verwertungsgesellschaft ihrerseits sollte sich darauf konzentrieren, die teilweise marodierenden nationalen Bibliotheken wieder zur Räson zu bringen (nicht nur die Frage nach den intranets, sondern auch die nach den neuerdings wie Pilzen aus dem Boden schießenden öffentlich aufgestellten scannern drängt sich mir auf, wo für einen scan nichts bezahlt und folglich auch kein Pfennig an die Produzenten abgeführt wird). Was not tut, ist: die durch Googles freibeuternde Aktivitäten geschaffene Enteignungskulisse auf die höchste politische Ebene zu hieven und zu einem Thema nationalen Interesses zu machen. Wir brauchen eine eindeutige Haltung des Justizministeriums und des Kanzleramts in dieser Frage. Und wir brauchen konkrete Aufklärung über die Auswirkungen Googles auf die hiesigen Produktionsverhältnisse. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, darüber aufgeklärt zu werden, was die Hydra Google anrichtet. Zugleich damit sollte man ihr auch einsichtig machen, wie sich mit der Vorstellung, alles sei umsonst, zwar blendend Geld machen, aber nichts Neues herstellen läßt. Jeder, der mal eben schnell die einzige Suchmaschine seiner Wahl anschmeißt und nach etwas recherchiert, sollte ein Bewußtsein davon entwickeln, daß er damit einer Firma zuarbeitet, die seine eigenen kulturellen Grundlagen unterminiert. Man kann sich in diesem Zusammenhang darüber wundern, daß Googles Ruf nach wie vor so viel besser ist als der von Microsoft. Das Monopol Microsofts ist ja bei weitem nicht so schreckenerregend wie das der Suchmaschinenbetreiber – und die Daten, die sich Microsoft widerrechtlich aneignet, sind wohl auch nicht so brisant wie die von Google archivierten. Google hat allerdings, wie ein einfacher Blick auf die harmlos daherkommende Startseite zeigt, die raffiniertere und damit auch gefährlichere Strategie. Sie tarnt sich nahezu perfekt als Gratisdienstleistung (und packt, wie jede funktionierende Ideologie, die Menschen bei ihren Schwächen). Google hat kein Gesicht wie das von Bill Gates (warum fällt das niemandem auf?) – oder es hat, Hydra, viele, aber kein bestimmtes. Seine scheinbare Naturwüchsigkeit ist digital inkarnierte Lüge. Da viele auf diese Suchmaschine nicht mehr verzichten wollen (und wohl auch schon nicht mehr können), Google zugleich aber allein durch die Macht, die es mit seiner Datenerhebung akkumuliert, eine Gefahr für alle demokratischen Institutionen darstellt (und jetzt schon, wie gezeigt, Rechtsräume systematisch aushöhlt), führt auf Dauer kein Weg daran vorbei, daß man die Enteigner enteignet. Eisenhowers Programm einer Zerschlagung des militärisch-industriellen Komplexes ist auf den informationellen und digitarchischen Bereich zu übertragen. Wir brauchen, analog zur Weltbank, eine Weltdatenbank, die demokratisch legitimiert und überwacht wird und die universelle Verwertung von allem und jedem zu billigem Geld nicht als Geschäftsgrundlage hat. Ein gemeinsames Vorgehen von deutschen Autoren und Verlagen in dieser Frage ist dazu ein erster Schritt. (8.3.2009)
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