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Adam Müller, I. Prolegomena einer Kunst-Philosophie, 3-27; darin: 8-12

2.

Wir haben uns bestrebt, die Differenz zwischen Wissenschaft und Kunst wissenschaftlich zu erkennen, zugleich aber beide als eins, in einer künstlerischen, philosophischen Handlung zu ergreifen. In allen bisherigen philosophischen Systemen ist mit Recht das speculative Geschäft der Philosophie von dem practischen getrennt worden: man hat ferner die Philosophie, je nachdem Speculation oder Handlung ihr Object war, in speculative und practische Philosophie eingetheilt. An und für sich läßt sich gegen diesen Gegensatz des speculativen und des practischen in der Philosophie nichts einwenden. Denn schon an der Eigenschaft der Schärfe, die vornehmlich von der Speculation erfordert wurde, erkennen wir, daß es in ihr vornehmlich auf ein Zerschneiden, Zertrennen, Zerlegen und Unterscheiden ankomme: vom Handeln hingegen, von der Praxis ward zunächst Kraft verlangt, ein Beweis, daß der Praxis besonders die Vereinigung, die Gestaltung zu einem Ganzen, die Production, die Verbindung des Getrennten zugeschrieben wurde. – Demnach wäre unserem oben aufgestellten Begriffe zufolge, die Speculation der wissenschaftliche Theil der Philosophie, die Praxis hingegen, der künstlerische. – So wie nun, nach unsern vorläufigen Auseinandersetzungen, Wissenschaft und Kunst, durch eine höhere Wissenschaft (d. h. durch die Erkenntniß des Gegensatzes zwischen Wissenschaft und Kunst) nur getrennt werden können, in sofern dieser höheren Wissenschaft eine höhere Kunst (der Behandlung, der Vereinigung von Wissenschaft und Kunst) an die Seite gesetzt wird – eben so können Speculation und Praxis in der Philosophie durch eine höhere Speculation nur getrennt werden, in sofern neben diesen Trennungen und Spaltungen, und ohne Ende in sie einwirkend, eine höhere Handlung herläuft, in der Speculation und Handlung sich vereinigen. – Unterscheiden wir in der Philosophie ein speculatives und practisches Geschäft, so geben wir durch den Ausdruck Geschäft, der der Speculation und der Praxis beigelegt wird, schon zu erkennen, daß wir eine höhere Handlung annehmen, in der Speculation und Praxis sich vereinigen. Da wir nun immerfort genöthigt sind, diese höhere Handlung wieder zu betrachten, das heißt, sie in ihr speculatives und in ihr practisches Element zu zerlegen, so sieht man daraus, daß jede höhere Handlung (oder Vereinigung des Gegensatzes von Speculation und Praxis) nach sich zieht, unmittelbar eine höhere Erkenntniß (oder Zerlegung des Gegensatzes von Speculation und Praxis) und alles das <9:> ins Unendliche fort. – Wir wollen es an einem Beispiele näher erörtern: vielleicht zeigt sich am Ende, daß dasjenige, was wir jetzt als Beispiel aufstellen, dieselbe Sache ist, von der wir reden: Betrachten wir das, was man gewöhnlich den physischen Menschen nennt, so sehen wir die Natur auf ihn einwirken, zugleich sehn wir aber auch wieder ihn auf die Natur zurückwirken. Wir können nicht leugnen, daß es ein Mensch, ein einfaches Wesen ist, und dennoch sind wir genöthigt, ihn uns als doppelt, als aus zwei Wesen zusammengesetzt zu denken, als ein thätiges, der Natur gebietendes, als ein leidendes, der Natur gehorchendes: er hört, er wird gehört; er sieht, er wird gesehn; er fühlt, er wird gefühlt: er empfängt hörbares (Töne,) sichtbares (Farben,) fühlbares (Lust und Schmerzen:) er producirt dieselbigen Dinge anders auf eigenthümliche Weise wieder. – Wir gehen weiter in unsrer Betrachtung, wir zerlegen seine einfache Organisation in vielfache Organe, in solche, die empfangen, (in leidende) und in solche, die produciren, (in thätige:) das Ohr empfängt, das Stimmorgan producirt Töne: das Auge scheint unter allen Organen die meisten Eindrücke von aussen, von der Natur zu empfangen; die Hand andrerseits, die meisten Eindrücke nach aussen, auf die Natur zurückzugeben. Kurz, jemehr wir das einfache Wesen, den Menschen, betrachten, um so mehr erblicken wir ihn zusammen gesetzt aus den entgegengesetztesten Organen und Tendenzen. Warum zerfällt uns dies herrliche Ganze unter den Händen nicht in ein Chaos feindseliger Elemente? Weil jede neue Trennung der Organe uns zu einer höheren Verknüpfung der Organe nöthigt, weil jeder tiefere Blick in die wunderbare Zusammensetzung von einem höheren Gefühl der Einheit des Ganzen überwältigt wird, weil, je klarer wir in den unendlichen Krieg der Organe schauen, um so gewaltiger wir den überschwenglichen Frieden des einfachen Organismus, der vor uns her wandelt, zu begreifen gezwungen werden.
Was haben wir jetzt gethan? – den physischen Menschen betrachtet, wir haben ihn in empfangendes und producirendes, hauptsächlich in Auge und Hand, d. h. in sehendes (oder erkennendes) und in handelndes zerlegt; wir haben die in ihm entdeckten speculativen und practischen Organe wieder zu einem Organismus vereinigt u. s. f. – Wir haben ihn betrachtet, d. h. über die Trennung des Speculativen und Practischen in ihm speculirt; den Unterschied, den Gegensatz des Erkennenden und Handelnden in ihm erkannt. In sofern wir nun 1) Gegensatz und Wechselwirkung zwischen Erkenntniß und Handlung im Menschen erkannten, und 2) selbst Menschen waren, in sofern waren wir genöthigt, was wir erkannten auch auszuüben, wir mußten selbst den Gegensatz zwischen Erkenntniß und Handlung nicht blos erkennen, sondern auch behandeln. Mit dem betrachteten Wesen, es sei der Mensch, es sei ein Kunstwerk, es sei die unendliche Natur – muß der Betrachtende auf die hier beschriebene Weise fortwandeln, sich selbst in dem hier angedeuteten Geiste wieder betrachten lassen, mit Thätigkeit zu leiden und zu betrachten, mit Klarheit, mit Contemplation thätig zu sein, und zu handeln wissen – wenn nicht blos von Philosophie, sondern überhaupt nur von Leben die Rede sein soll. – <10:>
Wenn nun jemand herkäme, und alles, was durch das Auge in den Menschen hineinkömmt, herzählte und zusammenrechnete, um uns begreiflich zu machen, wie ungefähr das Auge sähe, und was es sähe, um uns dergestalt das Gesetz des Sehens und des Erkennens sehen zu lassen; wenn ferner ein andrer sich meldete, weitläufig absondernd und in Rubriken und Systemen ordnend, alles dasjenige, was durch die Hand aus dem Menschen herausgeht, um so die Regel zu entdecken, wonach die Hand handelt und handeln müsse; wenn dann die beiden, von denen der eine gleichsam die innern, der andre die auswärtigen Geschäfte des Menschen betriebe, weiter fortschritten und allmählich die ganze Welt unter einander theilten, wenn der eine nach besonderem Gesetz die innere, geistige, moralische Welt, der andre wieder nach besonderm Gesetz die äussere, physische Welt zu beherrschen unternähme – dann wären Erkenntniß und Handlung absolut von einander losgerissen, absolut, d. h. falsch einander entgegengestellt, dann käme die Trennung der practischen Philosophie von der speculativen zum Vorschein, das absolute Losreissen des Ideellen von dem Reellen, wodurch in neueren Zeiten besonders Philosophie und Leben verarmt sind. – Ob man nun beide, Speculation und Praxis, als ewig getrennte Wesen von einander absondert, oder ob man einen Schritt weiter gehend, ein höheres beide begreifendes Handeln, wie es wirklich geschehn ist, unter dem Namen des Denkens annimmt; sobald dieses Denken als letzte und höchste Action der Philosophie betrachtet wird, eben sobald ist es der Tod aller Philosophie. –
Wenn aber in diesem Denken über die Speculation und die Praxis, wieder ein speculatives und practisches Element erkannt wird: wenn ein neues Denken über das vorige Denken uns zeigt, wie das vorige Denken über das Verhältniß von Speculation und Praxis, nicht blos speculativ, (trennend, arithmetisch,) sondern auch practisch (vereinigend, geometrisch) war, mit andern Worten, wie wir in diesem vorigen Denken, nicht blos den Gegensatz, sondern auch die Einheit von Speculation und Praxis erkennen mußten – dann lebt die Philosophie. – Wie sich demnach in der Mathematik die geometrische Einheit und arithmetische Zweiheit zu unendlicher Wechselwirkung thätig durchdringen, so in der Philosophie die practische Einheit und die speculative Zweiheit. Alle Praxis, wie die Geometrie, nemlich, ruht in der Idee der Einheit, des Gesetzes, der Vermittlung u. s. w. Alle Speculation, wie die Arithmetik, in der Natur wie in der Kunst, ruht hingegen in der Idee der Differenzirung, der Entgegenstellung. Wie die Geometrie neben die arithmetische Zwei erst als ihren Repräsentanten die arithmetische Eins hinstellen muß, damit überhaupt in der Arithmetik etwas geschehen könne, so muß die Praxis den ihr eigenthümlichen Begriff des Gesetzes, der Einheit, zuförderst der Speculation hinreichen, damit neben und durch den Gegensatz, der in der Speculation zu Hause ist, gehen und greifen könne ein beständig Auflösendes und Vermittelndes, damit in der Speculation von einem Gegensatz durch die Indifferenz, (das Mittel, die Einheit, oder wie wir es nennen wollen,) hindurch geschritten werden könne zu einem höheren Gegen- <11:> satz u. s. f. – Wie ferner die Geometrie nicht an dem ihr eigenthümlichen Begriffe der Einheit und Stetigkeit genug hat, um geometrisch leben zu können, und deshalb auf jedem ihrer Schritte des Grundbegriffs der Arithmetik, der Trennung, der Zweiheit bedarf, den sie zuerst unter der Gestalt des Winkels bei sich aufnimmt – so die vom Begriff der Einheit, des Gesetzes ausgehende Praxis, um lebende, ausübende, practische Praxis bleiben zu können, muß sich den Begriff des Gegensatzes von der Speculation borgen, der nun als Streit, als Krieg, als Collision, als Partheihandel ihr vorgeworfen wird. Nun wird der Gegensatz erst ein lebendiges, wie in der Speculation erst durch den Friedens- und Vermittlungs-Begriff ein wahres Leben des Gegensatzes möglich wurde. – Soll nun die Philosophie überhaupt characterisirt werden, so sieht jeder ein, daß sie weder blos arithmetischer noch blos geometrischer, weder blos speculativer noch blos practischer, weder blos wissenschaftlicher noch blos künstlerischer Natur sei, daß sie vielmehr eben sowohl Lehre vom Gegensatz, als Vermittlungs- oder Gesetzes-Lehre sein müsse, daß sie aber Lehre vom Gegensatze und vom Mittlerthume nur sein könne, in sofern sie auch Kunst des Entgegenstellens und des Vermittelns sei.
Die hier, wie ich glaube, in ihrem Wirken und Leben wahrhaft beschriebene Philosophie, strebt unverkennbar nach Einheit aller Wissenschaft und Kunst: aber es muß jedem, der aufmerksam und rücksichtslos auch nur ihre wenigen bisherigen Schritte verfolgt hat, einleuchten, daß sie weit davon entfernt, eben jener Einheit zu gefallen, die unendlichen Geschlechtsunterschiede der einzelnen Künste und Wissenschaften aufzuheben, vielmehr die Gattungs-Begriffe erst recht in ihrer wahren Schärfe bestimmt, freilich immer mit der Reservation, daß durch Auflösung dieses Unterschieds eine noch schärfere Entgegenstellung erreicht werden solle, und so ins Unendliche fort. Es kommt darauf an, die hier beschriebene philosophische Bewegung, diesen Rhythmus, diese Reihe von Trennunmg, Vereinigung, höhere Trennung, höherer Vereinigung u. s. w. zu begreifen als den allgemeinen Geist des Lebens, in dem jedes menschliche Geschäft und jede Betrachtung lebt, webt und ist. Der Grad der Allgemeinheit, der Universalität, unter dessen Gestalt wir sie begreifen und uns darstellen, gilt nur für uns, und ist keineswegs ein absoluter, höchster, letzter. Wir, durch die Zeit und durch die Bewegung der Welt, hingetragen auf eine Stelle, auf der tausendfältige Anwendungen der aufgestellten Lebensformel, in Künsten und Wissenschaften, im öffentlichen und im Privatleben uns so nahe angehen, so durchaus nicht bei Seite geworfen werden könne, ohne die Ruhe und das Gleichgewicht unsers Lebens aufs Spiel zu setzen – wir bedürfen einer unendlichen Gewandtheit und Schärfe des Entgegenstellens, um alle die mannichfaltigen lebendigen Gattungen, Geschlechter und Individualitäten, die in unser Leben eingreifen, zu sondern, jedes an seine wahre Stelle ordentlich und symmetrisch zu setzen, wir bedürfen einer gewaltigen Kraft der Vermittlung, um dieser disparaten, hier und dort rebellischen Erscheinungen immer überlegene Meister zu sein. – <12:>
Erkennen wir immerhin mit Selbstzufriedenheit den Reichthum unsrer Sphäre an, erfreuen können wir uns seiner nur in sofern als wir immer höheren, und höheren und unendlichen höheren Reichthum vor uns sehen, der auf diesem hier vorgezeichneten Wege gewonnen wird, erfreuen können wir uns seiner nur, in sofern wir einsehn, daß die ärmste und einfältigste Natur ihr Gut vermehrt, und wächst und fortschreitet und lebt, wenn sie auf die Weise sich bewegt in ihrem Kreise, die wir in dem unsrigen für die richtige zu erkennen, durch tausend Extreme und Einseitigkeiten um uns her genöthigt worden sind. Dem ärmsten Handwerke liegt nichts anderes ob, als in ihrer wahren eigenthümlichen Natur, in ihrer Verschiedenheit erkannte Theile zu einem Ganzen zu verbinden, durch die Betrachtung des ganzen Products wieder zu tieferer Einsicht in das Material und das Werkzeug zu gelangen u. s. w. Die Wissenschaft des Materials und des Products allein, macht indeß den Handwerker noch nicht, auch er bedarf der Kunstbehandlung beides, des Materials und des Products, und so finden wir bei ihm in ärmerer Gestalt dieselbe rhythmische Bewegung wieder, ohne die unser Reichthum durchaus nichts werth ist.
Wenn wir den philosophischen Gang schwebend zwischen Einsicht und Tüchtigkeit, zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Speculation und Praxis, eine Weile gegangen sind, und nun innehalten, um uns und auf den Weg zurück sehn, so werden wir unsere Speculation, unser Erkennen wahr, unser Handeln, unsre Werke aber gut finden; und Wahrheit und Güte sich gegenseitig durchdringend, einen einzigen Lebensgeist bilden sehn, wie nach obiger Darstellung, allein die wechselwirkende Durchdringung von Speculation und Praxis, den Geist der Philosophie auszudrücken vermochte. Jener göttliche Geist des Lebens und der Bewegung, der uns ergreift, rührt und entzückt, wo immer wir menschliche Wahrheit und menschliche Güte als eins, in herrlicher Wechselwirkung, sehen und fühlen, wie könnten wir ihn würdiger und umfassender bezeichnen, als mit dem Worte: Schönheit.

 

 

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