2.
Wir haben uns bestrebt, die Differenz
zwischen Wissenschaft und Kunst wissenschaftlich zu
erkennen, zugleich aber beide als eins, in einer künstlerischen,
philosophischen Handlung zu ergreifen. In allen bisherigen
philosophischen Systemen ist mit Recht das speculative
Geschäft der Philosophie von dem practischen getrennt
worden: man hat ferner die Philosophie, je nachdem
Speculation oder Handlung ihr Object war, in speculative
und practische Philosophie eingetheilt. An und für
sich läßt sich gegen diesen Gegensatz des speculativen
und des practischen in der Philosophie nichts einwenden.
Denn schon an der Eigenschaft der Schärfe,
die vornehmlich von der Speculation erfordert wurde,
erkennen wir, daß es in ihr vornehmlich auf ein Zerschneiden,
Zertrennen, Zerlegen und Unterscheiden ankomme: vom
Handeln hingegen, von der Praxis ward zunächst Kraft
verlangt, ein Beweis, daß der Praxis besonders die
Vereinigung, die Gestaltung zu einem Ganzen, die Production,
die Verbindung des Getrennten zugeschrieben wurde. –
Demnach wäre unserem oben aufgestellten Begriffe zufolge,
die Speculation der wissenschaftliche Theil der Philosophie,
die Praxis hingegen, der künstlerische. – So
wie nun, nach unsern vorläufigen Auseinandersetzungen,
Wissenschaft und Kunst, durch eine höhere Wissenschaft
(d. h. durch die Erkenntniß des Gegensatzes zwischen
Wissenschaft und Kunst) nur getrennt werden können,
in sofern dieser höheren Wissenschaft eine höhere
Kunst (der Behandlung, der Vereinigung von Wissenschaft
und Kunst) an die Seite gesetzt wird – eben so
können Speculation und Praxis in der Philosophie durch
eine höhere Speculation nur getrennt werden, in sofern
neben diesen Trennungen und Spaltungen, und ohne Ende
in sie einwirkend, eine höhere Handlung herläuft,
in der Speculation und Handlung sich vereinigen. –
Unterscheiden wir in der Philosophie ein speculatives
und practisches Geschäft, so geben wir durch den Ausdruck
Geschäft, der der Speculation und der Praxis beigelegt
wird, schon zu erkennen, daß wir eine höhere Handlung
annehmen, in der Speculation und Praxis sich vereinigen.
Da wir nun immerfort genöthigt sind, diese höhere
Handlung wieder zu betrachten, das heißt, sie in ihr
speculatives und in ihr practisches Element zu zerlegen,
so sieht man daraus, daß jede höhere Handlung (oder
Vereinigung des Gegensatzes von Speculation und Praxis)
nach sich zieht, unmittelbar eine höhere Erkenntniß
(oder Zerlegung des Gegensatzes von Speculation und
Praxis) und alles das <9:> ins Unendliche fort. –
Wir wollen es an einem Beispiele näher erörtern:
vielleicht zeigt sich am Ende, daß dasjenige, was
wir jetzt als Beispiel aufstellen, dieselbe Sache
ist, von der wir reden: Betrachten wir das, was man
gewöhnlich den physischen Menschen nennt, so sehen
wir die Natur auf ihn einwirken, zugleich sehn wir
aber auch wieder ihn auf die Natur zurückwirken. Wir
können nicht leugnen, daß es ein Mensch, ein
einfaches Wesen ist, und dennoch sind wir genöthigt,
ihn uns als doppelt, als aus zwei Wesen zusammengesetzt
zu denken, als ein thätiges, der Natur gebietendes,
als ein leidendes, der Natur gehorchendes: er hört,
er wird gehört; er sieht, er wird gesehn; er fühlt,
er wird gefühlt: er empfängt hörbares (Töne,) sichtbares
(Farben,) fühlbares (Lust und Schmerzen:) er producirt
dieselbigen Dinge anders auf eigenthümliche Weise
wieder. – Wir gehen weiter in unsrer Betrachtung,
wir zerlegen seine einfache Organisation in vielfache
Organe, in solche, die empfangen, (in leidende) und
in solche, die produciren, (in thätige:) das Ohr empfängt,
das Stimmorgan producirt Töne: das Auge scheint unter
allen Organen die meisten Eindrücke von aussen, von
der Natur zu empfangen; die Hand andrerseits, die
meisten Eindrücke nach aussen, auf die Natur zurückzugeben.
Kurz, jemehr wir das einfache Wesen, den Menschen,
betrachten, um so mehr erblicken wir ihn zusammen
gesetzt aus den entgegengesetztesten Organen und Tendenzen.
Warum zerfällt uns dies herrliche Ganze unter den
Händen nicht in ein Chaos feindseliger Elemente? Weil
jede neue Trennung der Organe uns zu einer höheren
Verknüpfung der Organe nöthigt, weil jeder tiefere
Blick in die wunderbare Zusammensetzung von einem
höheren Gefühl der Einheit des Ganzen überwältigt
wird, weil, je klarer wir in den unendlichen Krieg
der Organe schauen, um so gewaltiger wir den überschwenglichen
Frieden des einfachen Organismus, der vor uns her
wandelt, zu begreifen gezwungen werden.
Was
haben wir jetzt gethan? – den physischen Menschen
betrachtet, wir haben ihn in empfangendes und producirendes,
hauptsächlich in Auge und Hand, d. h. in sehendes
(oder erkennendes) und in handelndes zerlegt; wir
haben die in ihm entdeckten speculativen und practischen
Organe wieder zu einem Organismus vereinigt u. s. f. –
Wir haben ihn betrachtet, d. h. über die Trennung
des Speculativen und Practischen in ihm speculirt;
den Unterschied, den Gegensatz des Erkennenden und
Handelnden in ihm erkannt. In sofern wir nun 1) Gegensatz
und Wechselwirkung zwischen Erkenntniß und Handlung
im Menschen erkannten, und 2) selbst Menschen waren,
in sofern waren wir genöthigt, was wir erkannten auch
auszuüben, wir mußten selbst den Gegensatz zwischen
Erkenntniß und Handlung nicht blos erkennen, sondern
auch behandeln. Mit dem betrachteten Wesen,
es sei der Mensch, es sei ein Kunstwerk, es sei die
unendliche Natur – muß der Betrachtende
auf die hier beschriebene Weise fortwandeln, sich
selbst in dem hier angedeuteten Geiste wieder betrachten
lassen, mit Thätigkeit zu leiden und zu betrachten,
mit Klarheit, mit Contemplation thätig zu sein, und
zu handeln wissen – wenn nicht blos von Philosophie,
sondern überhaupt nur von Leben die Rede sein soll. –
<10:>
Wenn
nun jemand herkäme, und alles, was durch das Auge
in den Menschen hineinkömmt, herzählte und
zusammenrechnete, um uns begreiflich zu machen, wie
ungefähr das Auge sähe, und was es sähe, um uns dergestalt
das Gesetz des Sehens und des Erkennens sehen zu lassen;
wenn ferner ein andrer sich meldete, weitläufig absondernd
und in Rubriken und Systemen ordnend, alles dasjenige,
was durch die Hand aus dem Menschen herausgeht,
um so die Regel zu entdecken, wonach die Hand handelt
und handeln müsse; wenn dann die beiden, von denen
der eine gleichsam die innern, der andre die
auswärtigen Geschäfte des Menschen betriebe,
weiter fortschritten und allmählich die ganze Welt
unter einander theilten, wenn der eine nach besonderem
Gesetz die innere, geistige, moralische Welt, der
andre wieder nach besonderm Gesetz die äussere, physische
Welt zu beherrschen unternähme – dann wären Erkenntniß
und Handlung absolut von einander losgerissen, absolut,
d. h. falsch einander entgegengestellt, dann
käme die Trennung der practischen Philosophie von
der speculativen zum Vorschein, das absolute Losreissen
des Ideellen von dem Reellen, wodurch in neueren Zeiten
besonders Philosophie und Leben verarmt sind. –
Ob man nun beide, Speculation und Praxis, als ewig
getrennte Wesen von einander absondert, oder ob man
einen Schritt weiter gehend, ein höheres beide begreifendes
Handeln, wie es wirklich geschehn ist, unter dem Namen
des Denkens annimmt; sobald dieses Denken
als letzte und höchste Action der Philosophie betrachtet
wird, eben sobald ist es der Tod aller Philosophie. –
Wenn
aber in diesem Denken über die Speculation und die
Praxis, wieder ein speculatives und practisches Element
erkannt wird: wenn ein neues Denken über das vorige
Denken uns zeigt, wie das vorige Denken über das Verhältniß
von Speculation und Praxis, nicht blos speculativ,
(trennend, arithmetisch,) sondern auch practisch (vereinigend,
geometrisch) war, mit andern Worten, wie wir in diesem
vorigen Denken, nicht blos den Gegensatz, sondern
auch die Einheit von Speculation und Praxis erkennen
mußten – dann lebt die Philosophie. – Wie
sich demnach in der Mathematik die geometrische Einheit
und arithmetische Zweiheit zu unendlicher Wechselwirkung
thätig durchdringen, so in der Philosophie die practische
Einheit und die speculative Zweiheit. Alle Praxis,
wie die Geometrie, nemlich, ruht in der Idee der Einheit,
des Gesetzes, der Vermittlung u. s. w. Alle
Speculation, wie die Arithmetik, in der Natur wie
in der Kunst, ruht hingegen in der Idee der Differenzirung,
der Entgegenstellung. Wie die Geometrie neben die
arithmetische Zwei erst als ihren Repräsentanten die
arithmetische Eins hinstellen muß, damit überhaupt
in der Arithmetik etwas geschehen könne, so
muß die Praxis den ihr eigenthümlichen Begriff des
Gesetzes, der Einheit, zuförderst der Speculation
hinreichen, damit neben und durch den Gegensatz, der
in der Speculation zu Hause ist, gehen und greifen
könne ein beständig Auflösendes und Vermittelndes,
damit in der Speculation von einem Gegensatz durch
die Indifferenz, (das Mittel, die Einheit, oder wie
wir es nennen wollen,) hindurch geschritten werden
könne zu einem höheren Gegen- <11:> satz u. s. f. –
Wie ferner die Geometrie nicht an dem ihr eigenthümlichen
Begriffe der Einheit und Stetigkeit genug hat, um
geometrisch leben zu können, und deshalb auf jedem
ihrer Schritte des Grundbegriffs der Arithmetik, der
Trennung, der Zweiheit bedarf, den sie zuerst unter
der Gestalt des Winkels bei sich aufnimmt – so
die vom Begriff der Einheit, des Gesetzes ausgehende
Praxis, um lebende, ausübende, practische Praxis
bleiben zu können, muß sich den Begriff des Gegensatzes
von der Speculation borgen, der nun als Streit, als
Krieg, als Collision, als Partheihandel ihr vorgeworfen
wird. Nun wird der Gegensatz erst ein lebendiges,
wie in der Speculation erst durch den Friedens- und
Vermittlungs-Begriff ein wahres Leben des Gegensatzes
möglich wurde. – Soll nun die Philosophie überhaupt
characterisirt werden, so sieht jeder ein, daß sie
weder blos arithmetischer noch blos geometrischer,
weder blos speculativer noch blos practischer, weder
blos wissenschaftlicher noch blos künstlerischer Natur
sei, daß sie vielmehr eben sowohl Lehre vom Gegensatz,
als Vermittlungs- oder Gesetzes-Lehre sein müsse,
daß sie aber Lehre vom Gegensatze und vom Mittlerthume
nur sein könne, in sofern sie auch Kunst des
Entgegenstellens und des Vermittelns sei.
Die
hier, wie ich glaube, in ihrem Wirken und Leben wahrhaft
beschriebene Philosophie, strebt unverkennbar nach
Einheit aller Wissenschaft und Kunst: aber es muß
jedem, der aufmerksam und rücksichtslos auch nur ihre
wenigen bisherigen Schritte verfolgt hat, einleuchten,
daß sie weit davon entfernt, eben jener Einheit zu
gefallen, die unendlichen Geschlechtsunterschiede
der einzelnen Künste und Wissenschaften aufzuheben,
vielmehr die Gattungs-Begriffe erst recht in ihrer
wahren Schärfe bestimmt, freilich immer mit der Reservation,
daß durch Auflösung dieses Unterschieds eine noch
schärfere Entgegenstellung erreicht werden solle,
und so ins Unendliche fort. Es kommt darauf an, die
hier beschriebene philosophische Bewegung, diesen
Rhythmus, diese Reihe von Trennunmg, Vereinigung,
höhere Trennung, höherer Vereinigung u. s. w.
zu begreifen als den allgemeinen Geist des Lebens,
in dem jedes menschliche Geschäft und jede Betrachtung
lebt, webt und ist. Der Grad der Allgemeinheit, der
Universalität, unter dessen Gestalt wir sie
begreifen und uns darstellen, gilt nur für uns, und
ist keineswegs ein absoluter, höchster, letzter. Wir,
durch die Zeit und durch die Bewegung der Welt, hingetragen
auf eine Stelle, auf der tausendfältige Anwendungen
der aufgestellten Lebensformel, in Künsten und Wissenschaften,
im öffentlichen und im Privatleben uns so nahe angehen,
so durchaus nicht bei Seite geworfen werden könne,
ohne die Ruhe und das Gleichgewicht unsers Lebens
aufs Spiel zu setzen – wir bedürfen einer unendlichen
Gewandtheit und Schärfe des Entgegenstellens, um alle
die mannichfaltigen lebendigen Gattungen, Geschlechter
und Individualitäten, die in unser Leben eingreifen,
zu sondern, jedes an seine wahre Stelle ordentlich
und symmetrisch zu setzen, wir bedürfen einer gewaltigen
Kraft der Vermittlung, um dieser disparaten, hier
und dort rebellischen Erscheinungen immer überlegene
Meister zu sein. – <12:>
Erkennen
wir immerhin mit Selbstzufriedenheit den Reichthum
unsrer Sphäre an, erfreuen können wir uns seiner nur
in sofern als wir immer höheren, und höheren und unendlichen
höheren Reichthum vor uns sehen, der auf diesem hier
vorgezeichneten Wege gewonnen wird, erfreuen können
wir uns seiner nur, in sofern wir einsehn, daß die
ärmste und einfältigste Natur ihr Gut vermehrt, und
wächst und fortschreitet und lebt, wenn sie auf die
Weise sich bewegt in ihrem Kreise, die wir in dem
unsrigen für die richtige zu erkennen, durch tausend
Extreme und Einseitigkeiten um uns her genöthigt worden
sind. Dem ärmsten Handwerke liegt nichts anderes ob,
als in ihrer wahren eigenthümlichen Natur, in ihrer
Verschiedenheit erkannte Theile zu einem Ganzen zu
verbinden, durch die Betrachtung des ganzen Products
wieder zu tieferer Einsicht in das Material und das
Werkzeug zu gelangen u. s. w. Die Wissenschaft
des Materials und des Products allein, macht indeß
den Handwerker noch nicht, auch er bedarf der Kunstbehandlung
beides, des Materials und des Products, und so finden
wir bei ihm in ärmerer Gestalt dieselbe rhythmische
Bewegung wieder, ohne die unser Reichthum durchaus
nichts werth ist.
Wenn
wir den philosophischen Gang schwebend zwischen Einsicht
und Tüchtigkeit, zwischen Wissenschaft und Kunst,
zwischen Speculation und Praxis, eine Weile gegangen
sind, und nun innehalten, um uns und auf den Weg zurück
sehn, so werden wir unsere Speculation, unser Erkennen
wahr, unser Handeln, unsre Werke aber gut
finden; und Wahrheit und Güte sich gegenseitig durchdringend,
einen einzigen Lebensgeist bilden sehn, wie
nach obiger Darstellung, allein die wechselwirkende
Durchdringung von Speculation und Praxis, den Geist
der Philosophie auszudrücken vermochte. Jener
göttliche Geist des Lebens und der Bewegung, der uns
ergreift, rührt und entzückt, wo immer wir menschliche
Wahrheit und menschliche Güte als eins, in herrlicher
Wechselwirkung, sehen und fühlen, wie könnten wir
ihn würdiger und umfassender bezeichnen, als mit dem
Worte: Schönheit.