I. Prolegomena
einer Kunst-Philosophie.
1.
Alles Streben der Philosophie
hat sich immer in zwei entgegengesetzten Richtungen
bewegen müssen. Entweder ward eine wahrgenommene,
egriffene Einheit in eine Mannichfaltigkeit von Theilen,
Elementen, oder Gliedern zerlegt, oder es ward aus
der Verknüpfung, aus der organischen Verbindung mannichfaltiger
Erscheinungen ein Einfaches, ein Ganzes gebildet.
Dergestalt nahm die Philosophie zwei entgegengesetzte
Fähigkeiten des Geistes in Anspruch: die eine war
die Fähigkeit des Theilens, des Zertrennen, Zergliederns:
die andre die des Vereinigens, des Vermittelns, des
Verbindens. – Offenbar setzt die Fähigkeit des
Zergliederns (die anatomische oder chemische Fähigkeit)
voraus, daß eine Einheit wirklich ergriffen sei; eben
so die Fähigkeit der Vereinigung, (die physiologische,
oder physicalische Fähigkeit) setzt voraus, eine wahrhaft
erkannte Mannichfaltigkeit. –
Wir
werden, wenn wir diese beiden Elemente des Geistes,
der Welt, oder der Philosophie näher betrachten, einsehn,
daß wir die trennende Fähigkeit in uns nicht
besser bezeichnen können als mit dem Namen des wissenschaftlichen
oder speculativen Talents, daß hingegen die vereinigende
Fähigkeit am sichersten unter dem Zeichen des
practischen oder Kunst-Talents angeschaut werde. Das
Object der Betrachtung, der Speculation, und also
der Wissenschaft ist immer der Contrast, der Gegensatz,
die Differenz – daher von einseitigen Freunden
der Kunst, oder von sentimentalen Bewunderern der
Natur, gar zu leicht der Wissenschaft der Vorwurf
gemacht wird, sie tödte das Leben der Natur. Übrigens
wollen wir auch gar nicht in Abrede sein, daß die
meisten Freunde der Wissenschaft diesen Vorwurf durch
ihre Einseitigkeit verdienen. – Wie die Wissenschaft
es mit der Trennung zu thun hat, so ist der Kunst
offenbar das Geschäft der Vereinigung zugewiesen.
Einheit, Ganzheit, Zusammenhang, macht das Kunstwerk
zum Kunstwerk. Und wenn die Wis- <4:> senschaft
einerseits den Character ihres Objects der Trennung,
nemlich, annimmt, ewige Spaltungen und unendlichen
Streit unter den Dingen anrichtet, so lößt Leben und
Frieden erzeugend die Kunst, alle Gegensätze wieder
in Einheit auf. Die Wissenschaft hat ihr Auge
gerichtet auf das Bestehende, auf das Vergangene;
sie empfängt, was sich schon tausendfältig in Farben
gebrochen, was sich schon in unendlichen Individualitäten
gespalten hat: die Kunst wendet sich nach der
noch ungebrochenen Zukunft hin, ein Einfaches, ein
Werk der einfachen Zukunft hinreichend. Erwägen wir,
zu welchem Zwecke wir Wissenschaft und Kunst, das
vereinigende und das trennende Vermögen betrachtet
haben, und wie wir es gethan haben. Wir haben
Wissenschaft und Kunst einander gegenüber gestellt:
wir haben Wissenschaft und Kunst, das wissenschaftliche
und das Kunstvermögen im Menschen getrennt. Wir haben
den Begriff der Vereinigung von dem Begriffe der Trennung
getrennt. Es mußte also, damit wir trennen konnten,
eine Vereinigung der beiden Begriffe vorhanden sein.
Vielleicht war die Vereinigung, die wir vorfanden,
nur eine rohe Mischung: gleichviel wie lax der Zusammenhang
war, genug wir haben ihn aufgehoben. Wer in meine
Bezeichnung der Begriffe einstweilen eingegangen,
wird mir zugeben, daß ich, indem ich der Wissenschaft
einen trennenden Character beilegte, und dann selbst
die Wissenschaft von der Kunst trennte, wissenschaftlich
verfahren mußte, daß also durch mein ganzes Verfahren
die Existenz einer Wissenschaft der Wissenschaft
und Kunst erwiesen worden ist. – Diese Wissenschaft
der Wissenschaft und Kunst setzt, indem sie ihre beiden
Objecte also auch die Kunst umfaßt, auch Kunstvermögen
in mir voraus. Daß man das wissenschaftliche Talent
von dem Kunstvermögen im gemeinen Leben absolut zu
trennen gewohnt ist, und dem einen bloßes wissenschaftliches,
dem andern bloßes Kunst-Talent zuschreibt, kann natürlich
nicht von der Idee, sondern blos von den endlichen
und einseitigen Repräsentanten der Idee, und auch
von diesen nicht ganz ausschließend gelten. Indem
ich also eine Wissenschaft der Wissenschaft und Kunst
annehme, ist zugleich die Kunst der Wissenschaft und
Kunst vorausgesetzt. – Ich bin die Wissenschaft
sowohl als die Kunst, das trennende und das vereinigende
Vermögen zugleich zu setzen genöthigt: die Vereinigung
ist die Bedingung der Trennung, die Trennung die Bedingung
der Vereinigung: die Vereinigung ist nur etwas (man
vergönne mir den Ausdruck:) im Gegensatze der Trennung
und umgekehrt: ich finde in alle Ewigkeit keinen Grund,
weder die Vereinigung noch die Trennung als Princip
anzunehmen.
Die
Wissenschaft betrachtet das große Kunstwerk: die Welt.
Sie zergliedert den schönen großen Bau, den die vergangenen
Zeitalter zurückgelassen: das große Gemälde gleichsam
einer einzigen That, eines ganzen Geschlechts, lößt
sie auf in unendlich viele Individualitäten, deren
Verein jene That erzeugte: viele entfernte Epochen
der Weltgeschichte entwickelt sie sich aus dem einfachen
Weltbilde vor ihr. Die Kunst andrerseits ergreift
einzelne Epochen der Geschichte, und vermählt, verbindet,
vermittelt, vereinigt sie zu einem historischen Ganzen;
aus verschiedenarti- <5:> gen, streitenden Characteren
bildet sie ein harmonisches, friedliches Ganzes. –
Auf diese Weise arbeiten beide, Wissenschaft und Kunst,
ohne Ende einander in die Hände. Die Wissenschaft
zergliedert die Werke der Kunst, damit eine höhere
Kunst die getrennten Elemente zu einem höheren Werke
vereinigen könne, dann eine wieder höhere Wissenschaft
eine schärfere, reinere Zergliederung vornehmen könne,
und so ins Unendliche fort.
Sollte
hiermit wirklich etwas anderes dargestellt sein, als
der Wechsel von Tod und Leben selbst? Die Idee ist
frei; sie ist keineswegs an menschliche Individualität
gebunden. Tragen wir sie demnach frei auf den Welt-
oder Erdgeist über. Dieser Wechsel von Tod und Leben
ist nichts anders als bis ins Unendliche in einander
verschlungene Trennung der Elemente und Vereinigung
der Elemente, und höhere Trennung und höherer Verein
u. s. f. Die Wissenschaft dieses Erdgeistes
(die Wissenschaft, das Bewußtsein, das er im Tode,
im Wandel und Wechsel vornehmlich offenbart) und seine
Kunst, seine bildende Kunst (die ich nicht beschreibe,
weil tausend seiner Werke uns unmittelbar ansprechen)
seine Wissenschaft und seine Kunst scheinen höherer
Natur als die unsrige, und dies vornehmlich deshalb,
weil Tod und Leben in ihm eins ist, weil er uns unmittelbar
im Bilden das Zergliedern und das Verzehren, und unmittelbar
im Verzehren das Bilden zeigt, wir hingegen eines
nach dem andern zu vollbringen scheinen, oft wohl
gar bloße, reine, absolute Zergliederer (Wissenschaftler)
oder bloße Bildner (Künstler) zu sein glauben. –
Das
Verhältniß zwischen Wissenschaft und Kunst, von dem
hier die Rede gewesen ist, ist oft, und besonders
von dem ersten philosophischen Geiste, unter den lebenden
Deutschen, von Schelling bemerkt worden. Sehr mit
Recht eifert dieser Schriftsteller gegen die absolute
Trennung, den absoluten Gegensatz von Wissenschaft
und Kunst, oder was dasselbe sagen will, da alles
Handeln Kunst ist und sein soll, und da es kein unkünstlerisches,
d. h. unproductives Handeln giebt, gegen den
absoluten Gegensatz von Handeln und Wissen. –
Aber die absolute Einheit beider, die absolute Identität
des Wissens und Handelns, zu deren Annahme Schelling
und die deustche Naturphilosophie mit ihm ihre Zuflucht
nahm, ist eben so einseitig. Ich glaube an dieser
Stelle, die oben von mir erwähnte Bezeichnung: Kunst
der Wissenschaft und Kunst, als gleichbedeutend mit
der Naturphilosophie aufstellen zu können. Anstatt
nemlich, daß in meiner Ansicht Wissenschaft und Kunst
sowohl betrachtet werden können aus dem Standpunct
einer höheren Wissenschaft, getrennt nemlich; als
auch gebildet (vereinigt) werden können, zu einer
neuen höheren Kunst, und diese höhere Wissenschaft
und höhere Kunst gemeinschaftlich wieder gebildet
werden können zu einer noch höheren Wissenschaft und
noch höheren Kunst und so ins Unendliche fort, –
so glaubt die Naturphilosophie, oder überhaupt die
gegenwärtige Philosophie einen letzten Standpunct
gefunden zu haben, eine letzte und höchste absolute
Wissenschaft oder absolute Kunst: eine Wissenschaft,
d. h. eine Trennung, einen Gegensatz, den die
höhere Kunst nicht mehr aufzulösen vermöge; oder andrerseits
eine Kunst, eine Einheit, ein schöpferisches <6:>
Princip, worüber die trennende Gewalt einer höheren
Wissenschaft nichts mehr vermöge. –
Wenn
in meiner Ansicht Wissenschaft und Kunst bald getrennt
ihren Weg gehn, sich losreissen von einander, jede
gleichsam ihren Geschlechtscharacter, die Wissenschaft
den Männlichen, die Kunst den Weiblichen schärfer
und schärfer bestimmt, damit ein höherer, klarerer,
reinerer Verein zwischen ihnen geschlossen werden
könne, damit ferner aus ihrer Vermählung als Kind
hervorgehn könne eine sichtbare Einheit beider, die
aber heranwachsend wieder einen noch reineren Geschlechtscharacter
annehmen, sich endlich noch reiner vermählen wird
u. s. f. – wenn auf diese Weise Wissenschaft
und Kunst durch ihre ewige und nothwendige Wechselwirkung
einander gegenseitig ewiges Leben und ewiges Fortschreiten
garantiren, eine abhängig von der andern, und zugleich
eine herrschend über die andre – so wird in der
cursirenden Ansicht, eben durch die Annahme eines
Maximums, der Wissenschaft und Kunst eine tyrannische
Constitution angeheftet, die dann freilich das Schicksal
mancher andren Constitution theilt, indem gleichgültig
gegen sie das ihr anscheinend unterworfene Leben ein
freies und göttliches Spiel treibt und seinen Gang
fortgeht, gefühllos gegen das Gesetz, woran es der
Autor gefesselt zu haben glaubt.
Noch
einmal: die Natur steht nicht stille, weil ihr sie
darstellen wollt. – Ohne euch selbst zu bewegen,
werdet ihr nie die Bewegung des Universums darstellen
können. Wie die Natur vom Leben zum Tode und vom Tode
zum Leben mit so unendlicher Leichtigkeit und Ironie
fortschreitet, daß sie euch wie ein einziges Reich
des Lebens und des Todes zugleich, erscheint, –
so sollt ihr die heiligsten Erzeugnisse eurer Kunst,
die reichsten Erscheinungen eures Lebens, und eure
höchsten und liebsten Güter, (denn ihr liebt nur was
ihr mit eurem eignen größeren oder geringeren Kunstvermögen
erzeugt habt) so sollt ihre eure schönsten Werke in
ihre wissenschaftlichen Elemente zu zerlegen wissen,
um neue Werke zu erzeugen u. s. f. Jemehr
euer Auge an wissenschaftlicher Schärfe gewinnt, um
so mehr wird die Kraft der Kunst eure Hand beleben;
Wissenschaft und Kunst, Trennung und Vereinigung sind
nur etwas durch ihren Gegensatz und ihre Wechselwirkung. –
Der Philosoph, den die hier dargestellte dialectische
Bewegung ergriffen hat, der im Bewußtsein dieser Bewegung
oder in ächter, platonischer Ironie lebt, der ferner
nicht blos im Bewußtsein, sondern auch im Glauben
an die Unendlichkeit dieser Bewegung mit beständigem
Ernst zu bilden und zu wirken weiß – der ist
Künstler und Gelehrter zugleich, und so und nicht
anders soll sein heiliges Amt gedacht werden. Ernst
und Spiel, Tod und Leben scheinen sich in ihm zu durchdringen:
jemehr die Bewegung seines Lebens sich beschleunigt,
um so tiefer bemeistert sich seiner Rhythmus und Ruhe.
Wir bleiben zweifelhaft, ob er sich ein Kind oder
einen Gott zum Muster genommen: in den Spielen der
Kindheit und im Wirken der Natur finden wir ihn in
verjüngtem und erweitertem Maße wieder. <7:>
Es
kann nun nicht weiter befremden, und selbst der Schein
der Paradoxie wird nicht zu befürchten sein, wenn
ich erkläre, daß wir in unsrer Unterhaltung über den
Gegensatz zwischen Wissenschaft und Kunst, ächt mathematische
Gegenstände behandelt haben. Die Mathematik ist
in den Augen ihrer wahren Freunde, des Pythagoras,
des Hobbes, des Keppler, des Leibnitz und selbst des
Euklides nichts anderes gewesen, als die Wissenschaft
des Gegensatzes zwischen Mannichfaltigkeit und Einheit,
zwischen Zahl und Stetigkeit, zwischen Arithmetik
und Geometrie, und die unsterblichen Werke jener Männer
waren nichts anderes als Übungen in der Kunst der
Vermittlung zwischen Mannichfaltigkeit und Einheit,
zwischen Zahl und Stetigkeit, zwischen Arithmetik
und Geometrie. Ich beziehe mich nur auf das eine Beispiel
der Analysis des Unendlichen, in der die philosophische
Wechselwirkung zwischen den Progressionen und der
krummen Linie, aber auch die Wechselwirkung zwischen
wissenschaftlicher und künstlerischer Behandlung derselben
besonders sichtbar ist. –
Betrachten
wir indeß nur die Arithmetik und Geometrie in ihrer
gewöhnlichsten Gestalt, so werden wir finden, daß
die Arithmetik, wenn in ihr auch (wie oben in der
Wissenschaft), der Begriff der Trennung, der Zahl,
der Zweiheit zu herrschen scheint, sie dennoch bei
jedem ihrer Schritte, des Begriffes der Vereinigung
oder der Stetigkeit, den sie von der Kunst oder von
der Geometrie erhält, bedarf. Addition und Multiplication
sind offenbare Stetigungen, künstlerische, organische
Verbindungen mehrerer gleichartiger Zahlen zu einer
einzigen, eben so Subtraction und Multiplication,
wo entgegengesetzte Zahlen zu einer einzigen, die
ihr Verhältniß, die Natur ihres Gegensatzes anzeigt,
verbunden werden; und so fort durch alle Operationen
der Arithmetik: unendliche Wechselwirkung zwischen
Trennung und Vereinigung, zwischen wissenschaftlichem
und künstlerischem Vermögen des Menschen. – Die
Geometrie andrer Seits mag immerhin von dem Begriffe
der Einheit, des stetigen einfachen Zusammenhangs
der Linie, der Fläche ausgehn, ihr Geschäft ist nichts
destoweniger ein arithmetisches, ein Zerlegen der
einfachen Figur in ihre Linien, Winkel u. s. f.
und so vermag auch sie, der Kunsttheil der Mathematik
nur zu leben durch ewigen Einfluß des Wissenschaftstheils,
nemlich der Arithmetik. – In der Arithmetik einheimisch
ist der Begriff der Zwei, in der Geometrie der Begriff
der Linie; aber damit dort in der Arithmetik die Zwei
begriffen werden könne, muß die Geometrie ihren Geist
in einem Repräsentanten neben der arithmetischen 2
aufstellen, und dieser Repräsentant ist die arithmetische
Eins. Damit andrerseits die Geometrie und der ihr
eigenthümliche Grundbegriff der geometrischen, einfachen,
stetigen Linie nur angeschaut werden könne, muß auch
die Arithmetik der Geometrie einen Repräsentanten
herübergeben, und dieser Repräsentant, durch den eine
bestimmte Linie begriffen wird, ist die geometrische
Zweiheit, oder der Winkel, die Annahme einer zweiten
Linie, durch welche die erste nur erst eine bestimmte,
anschaubare Richtung erhält. So verweben sich in der
Mathematik ins Unendliche <8:> Einheit und Trennung;
das beständige rege Bewußtsein dieser Wechselwirkung
und dieses Wechselgeschäfts ist das Wesen aller
mathematischen Dialektik, und so überlasse ich es
der Entscheidung meiner Leser, ob der unaufhörliche
Gegensatz zwischen Mathematik und Philosophie, der
bisher allenthalben angenommen worden, wirklich fernerhin
statt finden könne.