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Adam Müller, Fragmente über William Shakespear, 55-87; darin: VIII. Richard 3., 75-78

VIII. Richard 3.
oder
von der dramatischen Versöhnung.

Der Dichter reicht den Kranz seinem Helden, Heinrich V.: er sei nur schwacher Nachhall seiner Größe, der zweite schwächere Regenbogen gegen die Farbengluth des Ersten; das Leben des Helden sei die wahre höchste Poesie. So kämpft Shakespear seinem Helden nach, erreicht ihn, erhält den Lorbeer zurück, und der Held und der Dichter scheinen am Schluß als Pairs und Brüder wieder neben einander zu stehn. Über das Schlachtfeld von Agincourt hinweg, geleitet er ihn bis zu seiner Vermählung mit Catharina von Frankreich. Das Schicksal scheint versöhnt, die ruhige Erbfolge der Könige wieder hergestellt, die schönen Tage muthiger Ritterzeit zurückgekehrt. Aber ein plötzlicher, früher Tod stört diese Nachblüthe, Heinrich verschwindet und hinterläßt das Reich einem unmündigen Kinde, König Heinrich dem VI. Nun erwachen alle Ansprüche der Enkel und Urenkel Eduard des III., es erwacht Frankreichs Rache, innere und äussere Kriege toben, die schrecklichsten Tage brechen an, welche England erlebt hat. Verbrechen, Verrath und Mord verwüsten Englands Boden und seine Kinder. Dies ist der Inhalt der drei Theile König Heinrich VI., in welchen bekanntlich die Jungfrau von Orleans eine hervorstechende Rolle spielt. Endlich hat das Schicksal alle männlichen Prätendenten des Thrones vernichtet oder verbannt, und nun erscheint der letzte schrecklichste Richard von York: die Wittwen und Waisen der Könige hülflos und verlassen um ihn her. Wie dieser grausamste Character, der je über die Bühne gegangen, die Weiber zertritt und den Mord der Kinder übernimmt, dieses wage keiner zu beschreiben nach Shakespear, denn keiner ist weiter gegen die Gränzen der Menschheit hingelangt als er, keiner würde wie er, in solchem Gegen- <76:> stande noch der Menschheit zu schonen wissen. – Als dieser Tyrann fällt ist das Schicksal versöhnt, aber die Ritterzeit Englands ist nun auch wirklich vorüber: mit König Heinrich VII., dem Nachfolger Richard des III. bricht ein neues Zeitalter für England an, die Zeit seiner Handelsgröße, deren Entwickelung und Erfolg wir selbst noch nicht erlebt haben, deren dichterische, universalhistorische Bedeutung ihm also ganz verborgen bleiben mußte. Daher ein gewisses, leises nur dem Kenner bemerkbares Übergewicht des Tragischen über das Komische und die Freude in ihm, eine gewisse Unzufriedenheit mit der Gegenwart, keineswegs Sentimentalität aber heilige Unruhe, streben die Zeit zu fördern, die Vorzeit in die Gegenwart hineinzudrängen, die Nachkommen in freundlicher Nähe bei den Vorfahren zu erhalten, was ihm selbst nicht vollständig gelingen konnte, was aber später die herrlichsten Früchte getragen. Seinem leblosen und in Sachen der Poesie völlig blinden Beurtheiler Hume, ist es, da er die Geschichte Englands schrieb, wohl nicht beigefallen, ihn für die erste Quelle der Geschichte zu halten, geschweige einzusehn, welchen großen Einfluß dieser Ausserordentliche auf die spätere Geschichte, ja auf die Verfassung Englands gehabt. Lassen Sie mich diese Darstellung der historischen Dramen Shakespears mit der stolzen Bemerkung schließen, daß wir Deutsche etwas mehr von jenem Meister wissen, und daß die wahre, vornehmlich durch Göthe und A. W. Schlegel vorbereitete Erkenntniß seiner, hier bei uns eine Totalveränderung und Totalerhöhung unsrer Ansichten der Poesie, der Kunst, des Lebens, der Geschichte, ja des Staats und der Menschheit bewirkt hat. –
Ich höre, besonders unter den Freundinnen des Shakespears in dieser verehrungswürdigen Versammlung, einen Zweifel nachklingen, betreffend den Character des blutigen Kindermörder Richard den III. Auch dieser, fragen sie, stände noch innerhalb der Gränzen der Menschheit? diesen Bösewicht verabscheuen mit ganzer Seele, den freundlichen, gottbegünstigten Richmond, der England von diesem Scheusale befreit, mit Innbrunst bewillkommen – das wäre auch monologisches Interesse? – Auch dieß ist monologisches Interesse. Also muß man den natürlichen edlen Empfindungen der Liebe für die Guten, und des Abscheues vor den Bösen entsagen, wenn man als würdige Zuschauerin vor der Bühne sitzen will? – Keinesweges, aber es kommt darauf an, wie Sie verabscheuen und wie Sie lieben! Wie, wenn ich Ihnen bewiese, daß die Religion und das ächt sittliche Gefühl in Ihrem Herzen nichts andres verlangte, als ein ähnliches dramatisches Interesse an der Welt und am Leben. Setzen Sie einstweilen an die Stelle des Shakespearschen Kindermörders, eine Kindesmörderin! So lange Sie blos das Verbrechen sehn, werden Sie davor zurückbeben: wenn aber der Wortführer der Verbrecherin Sie den Zusammenhang der Ereignisse lehrt, wenn er Ihnen zeigt, wie die Unglückliche allmählich dahin gekommen, wie jeder Schritt den folgenden nach sich zog, so wird sich Ihr Abscheu allmählich in Mitleiden auflösen, und höchstens eine Klage über das Schicksal, über die Nothwendigkeit in Ihnen zurückbleiben. Nun tritt ein andrer Wortführer auf, <77:> der Wortführer des großen Lenkers der Schicksale: ein dramatischer Dichter oder ein wahrer Geistlicher, wie Sie wollen: erinnert Sie an die frühern Erfahrungen ihres Lebens: stellt Ihnen dar, wie dieselben Elemente, die in der Kindesmörderin sich zu Schmerz und Tod verknüpften, in andern Erscheinungen wieder zu Lust und Leben zusammenfließen; er führt Sie auf eine Höhe, von der aus der Schmerz des Todes und die unendliche Lust am Leben, da unten in den Thälern; wo diese in eine heilige Musik, in ein unendliches Gefühl des höhern Lebens zusammenfließen, eben wie Dur- und Mollaccorde sich zu einem Ganzen verbinden. Nun erkennen Sie, daß der endliche Abscheu und die endliche Liebe nur augenblicklich währen können, und daß es einen reinern, dramatischen, göttlichen Antheil an den Schicksalen des Lebens gebe, wo man vom Geiste der allgemeinen Harmonie ergriffen, die Dissonanzen freilich fühlt und tief fühlt, aber in ihnen sich nicht verlieren, von ihnen nicht zerrissen werden kann, da in der Dissonanz selbst schon sich die neue höhere Harmonie des wohlbekannten Meisters, wenn auch nur als Ahndung ankündigt. Das ist im Leben, was ich oben auf der Bühne zeigte, der herrliche Moment, wenn das Gemüth den Thron besteigt, und die Lust wie die Trauer, die Ironie wie das Spiel in seinen ruhigen Umfang, herrschend aufnimmt. Steigen Sie, alle acht historischen Dramen noch einmal betrachtend hindurch, und ich bin überzeugt, der Abscheu vor Richard III. wird sich milde zum Mitleid veredeln, und Sie werden mir beipflichten, daß der musicalische, der dramatische, der menschliche und der religiöse Antheil eins und dasselbe sind. –
Im gemeinen Leben sind wir nur zu leicht bei der Hand recht monologisch auf den ersten angenehmen Eindruck hin, den wir von einem Menschen empfangen, ihn zu einem guten Menschen zu ernennen: bald darauf erfahren wir andre Einwirkungen von ihm, er zeigt uns andre Seiten, und nur erklären wir ihn für schlecht. So wird unser armes Urtheil hin und her geworfen, jeder Richterspruch über kurz oder lang widerlegt, wir werden vorsichtiger und nun fallen wir auf die andre dialogische Seite hinüber, wir begeben uns alles Urtheilens, äussern nun blos, wie doch dieser Mensch von allen andern, an Gestalt, Wesen und Eigenthümlichkeit absteche; nun sagen wir, es ist ein sonderbarer, ein eigner Mensch. Erst behaupten wir allzukek, so ist er, nun behaupten wir allzu vorsichtig, so ist er nicht. Der schlechte Dichter appretirt sein Werk entweder für ein monologisches Publicum, indem er erklärt ein für allemal: die da sind gute, tugendhafte Leute, aber der da, das ist ein hoffnungsloser Bösewicht, hic niger est, vor dem nehmt euch in Acht; oder er tischt dem dialogischen Publicum eine Parthei von Sonderlingen auf, von denen keiner aussieht wie der andre, die bunt genug durcheinander laufen, aber auch wieder auseinander laufen, ohne daß sich ein ernstes Warum? ein Ganzes zeigt. So haben sich in den Zeiten des Verfalls der Poesie zwei verschiedene Gattungen gebildet: Intriguenstücke und Characterstücke. In den Intriguenstücken waren in der Regel, besonders auf der französischen Bühne die Charactere ein für allemal moralisch <78:> gestempelt, und die Kunst des Dichters zeigte sich blos in der zierlichen Verwirrung dieser moralischen Treffer und der einen moralischen Niete: in den Characterstücken wurden wieder, dialogischen Seelen zur Lust, eine Reihe Gestalten neben einander gestellt, um die endliche Satisfaction zu erwerben, daß doch keiner wäre wie der andre. Wie beide Gattungen sich in Shakespear durchdringen, wie durch acht große Tragödien hindurch in den eigensten verschiedensten Characteren sich unaufhörlich die erhabne Schicksalsintrigue offenbart, und der Dichter gleich rein und keusch und gerecht bleibt, dies glaube ich wenigstens ausgedrückt zu haben.



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Letzte Aktualisierung 30-Mär-2003
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