VIII. Richard
3.
oder
von der dramatischen Versöhnung.
Der Dichter reicht den Kranz seinem
Helden, Heinrich V.: er sei nur schwacher Nachhall
seiner Größe, der zweite schwächere Regenbogen gegen
die Farbengluth des Ersten; das Leben des Helden sei
die wahre höchste Poesie. So kämpft Shakespear seinem
Helden nach, erreicht ihn, erhält den Lorbeer zurück,
und der Held und der Dichter scheinen am Schluß als
Pairs und Brüder wieder neben einander zu stehn. Über
das Schlachtfeld von Agincourt hinweg, geleitet er
ihn bis zu seiner Vermählung mit Catharina von Frankreich.
Das Schicksal scheint versöhnt, die ruhige Erbfolge
der Könige wieder hergestellt, die schönen Tage muthiger
Ritterzeit zurückgekehrt. Aber ein plötzlicher, früher
Tod stört diese Nachblüthe, Heinrich verschwindet
und hinterläßt das Reich einem unmündigen Kinde, König
Heinrich dem VI. Nun erwachen alle Ansprüche
der Enkel und Urenkel Eduard des III., es erwacht
Frankreichs Rache, innere und äussere Kriege toben,
die schrecklichsten Tage brechen an, welche England
erlebt hat. Verbrechen, Verrath und Mord verwüsten
Englands Boden und seine Kinder. Dies ist der Inhalt
der drei Theile König Heinrich VI., in welchen
bekanntlich die Jungfrau von Orleans eine hervorstechende
Rolle spielt. Endlich hat das Schicksal alle männlichen
Prätendenten des Thrones vernichtet oder verbannt,
und nun erscheint der letzte schrecklichste Richard
von York: die Wittwen und Waisen der Könige hülflos
und verlassen um ihn her. Wie dieser grausamste Character,
der je über die Bühne gegangen, die Weiber zertritt
und den Mord der Kinder übernimmt, dieses wage keiner
zu beschreiben nach Shakespear, denn keiner ist weiter
gegen die Gränzen der Menschheit hingelangt als er,
keiner würde wie er, in solchem Gegen- <76:>
stande noch der Menschheit zu schonen wissen. – Als
dieser Tyrann fällt ist das Schicksal versöhnt, aber
die Ritterzeit Englands ist nun auch wirklich vorüber:
mit König Heinrich VII., dem Nachfolger Richard
des III. bricht ein neues Zeitalter für England an,
die Zeit seiner Handelsgröße, deren Entwickelung und
Erfolg wir selbst noch nicht erlebt haben, deren dichterische,
universalhistorische Bedeutung ihm also ganz verborgen
bleiben mußte. Daher ein gewisses, leises nur dem
Kenner bemerkbares Übergewicht des Tragischen über
das Komische und die Freude in ihm, eine gewisse Unzufriedenheit
mit der Gegenwart, keineswegs Sentimentalität aber
heilige Unruhe, streben die Zeit zu fördern, die Vorzeit
in die Gegenwart hineinzudrängen, die Nachkommen in
freundlicher Nähe bei den Vorfahren zu erhalten, was
ihm selbst nicht vollständig gelingen konnte, was
aber später die herrlichsten Früchte getragen. Seinem
leblosen und in Sachen der Poesie völlig blinden Beurtheiler
Hume, ist es, da er die Geschichte Englands
schrieb, wohl nicht beigefallen, ihn für die erste
Quelle der Geschichte zu halten, geschweige einzusehn,
welchen großen Einfluß dieser Ausserordentliche auf
die spätere Geschichte, ja auf die Verfassung Englands
gehabt. Lassen Sie mich diese Darstellung der historischen
Dramen Shakespears mit der stolzen Bemerkung schließen,
daß wir Deutsche etwas mehr von jenem Meister wissen,
und daß die wahre, vornehmlich durch Göthe und A. W. Schlegel
vorbereitete Erkenntniß seiner, hier bei uns eine
Totalveränderung und Totalerhöhung unsrer Ansichten
der Poesie, der Kunst, des Lebens, der Geschichte,
ja des Staats und der Menschheit bewirkt hat. –
Ich
höre, besonders unter den Freundinnen des Shakespears
in dieser verehrungswürdigen Versammlung, einen Zweifel
nachklingen, betreffend den Character des blutigen
Kindermörder Richard den III. Auch dieser, fragen
sie, stände noch innerhalb der Gränzen der Menschheit?
diesen Bösewicht verabscheuen mit ganzer Seele, den
freundlichen, gottbegünstigten Richmond, der England
von diesem Scheusale befreit, mit Innbrunst bewillkommen
– das wäre auch monologisches Interesse? – Auch dieß
ist monologisches Interesse. Also muß man den natürlichen
edlen Empfindungen der Liebe für die Guten, und des
Abscheues vor den Bösen entsagen, wenn man als würdige
Zuschauerin vor der Bühne sitzen will? – Keinesweges,
aber es kommt darauf an, wie Sie verabscheuen und
wie Sie lieben! Wie, wenn ich Ihnen bewiese, daß die
Religion und das ächt sittliche Gefühl in Ihrem Herzen
nichts andres verlangte, als ein ähnliches dramatisches
Interesse an der Welt und am Leben. Setzen Sie einstweilen
an die Stelle des Shakespearschen Kindermörders, eine
Kindesmörderin! So lange Sie blos das Verbrechen sehn,
werden Sie davor zurückbeben: wenn aber der Wortführer
der Verbrecherin Sie den Zusammenhang der Ereignisse
lehrt, wenn er Ihnen zeigt, wie die Unglückliche allmählich
dahin gekommen, wie jeder Schritt den folgenden nach
sich zog, so wird sich Ihr Abscheu allmählich in Mitleiden
auflösen, und höchstens eine Klage über das Schicksal,
über die Nothwendigkeit in Ihnen zurückbleiben. Nun
tritt ein andrer Wortführer auf, <77:>
der Wortführer des großen Lenkers der Schicksale:
ein dramatischer Dichter oder ein wahrer Geistlicher,
wie Sie wollen: erinnert Sie an die frühern Erfahrungen
ihres Lebens: stellt Ihnen dar, wie dieselben Elemente,
die in der Kindesmörderin sich zu Schmerz und Tod
verknüpften, in andern Erscheinungen wieder zu Lust
und Leben zusammenfließen; er führt Sie auf eine Höhe,
von der aus der Schmerz des Todes und die unendliche
Lust am Leben, da unten in den Thälern; wo diese in
eine heilige Musik, in ein unendliches Gefühl des
höhern Lebens zusammenfließen, eben wie Dur-
und Mollaccorde sich zu einem Ganzen verbinden. Nun
erkennen Sie, daß der endliche Abscheu und die endliche
Liebe nur augenblicklich währen können, und daß es
einen reinern, dramatischen, göttlichen Antheil an
den Schicksalen des Lebens gebe, wo man vom Geiste
der allgemeinen Harmonie ergriffen, die Dissonanzen
freilich fühlt und tief fühlt, aber in ihnen sich
nicht verlieren, von ihnen nicht zerrissen werden
kann, da in der Dissonanz selbst schon sich die neue
höhere Harmonie des wohlbekannten Meisters, wenn auch
nur als Ahndung ankündigt. Das ist im Leben, was ich
oben auf der Bühne zeigte, der herrliche Moment, wenn
das Gemüth den Thron besteigt, und die Lust wie die
Trauer, die Ironie wie das Spiel in seinen ruhigen
Umfang, herrschend aufnimmt. Steigen Sie, alle acht
historischen Dramen noch einmal betrachtend hindurch,
und ich bin überzeugt, der Abscheu vor Richard III.
wird sich milde zum Mitleid veredeln, und Sie werden
mir beipflichten, daß der musicalische, der dramatische,
der menschliche und der religiöse Antheil eins und
dasselbe sind. –
Im
gemeinen Leben sind wir nur zu leicht bei der Hand
recht monologisch auf den ersten angenehmen Eindruck
hin, den wir von einem Menschen empfangen, ihn zu
einem guten Menschen zu ernennen: bald darauf
erfahren wir andre Einwirkungen von ihm, er zeigt
uns andre Seiten, und nur erklären wir ihn für schlecht.
So wird unser armes Urtheil hin und her geworfen,
jeder Richterspruch über kurz oder lang widerlegt,
wir werden vorsichtiger und nun fallen wir auf die
andre dialogische Seite hinüber, wir begeben
uns alles Urtheilens, äussern nun blos, wie doch dieser
Mensch von allen andern, an Gestalt, Wesen und Eigenthümlichkeit
absteche; nun sagen wir, es ist ein sonderbarer,
ein eigner Mensch. Erst behaupten wir allzukek,
so ist er, nun behaupten wir allzu vorsichtig,
so ist er nicht. Der schlechte Dichter appretirt
sein Werk entweder für ein monologisches Publicum,
indem er erklärt ein für allemal: die da sind gute,
tugendhafte Leute, aber der da, das ist ein hoffnungsloser
Bösewicht, hic niger est, vor dem nehmt euch in Acht;
oder er tischt dem dialogischen Publicum eine Parthei
von Sonderlingen auf, von denen keiner aussieht wie
der andre, die bunt genug durcheinander laufen, aber
auch wieder auseinander laufen, ohne daß sich ein
ernstes Warum? ein Ganzes zeigt. So haben sich
in den Zeiten des Verfalls der Poesie zwei verschiedene
Gattungen gebildet: Intriguenstücke und Characterstücke.
In den Intriguenstücken waren in der Regel, besonders
auf der französischen Bühne die Charactere ein für
allemal moralisch <78:> gestempelt, und die
Kunst des Dichters zeigte sich blos in der zierlichen
Verwirrung dieser moralischen Treffer und der einen
moralischen Niete: in den Characterstücken wurden
wieder, dialogischen Seelen zur Lust, eine Reihe Gestalten
neben einander gestellt, um die endliche Satisfaction
zu erwerben, daß doch keiner wäre wie der andre. Wie
beide Gattungen sich in Shakespear durchdringen, wie
durch acht große Tragödien hindurch in den eigensten
verschiedensten Characteren sich unaufhörlich die
erhabne Schicksalsintrigue offenbart, und der Dichter
gleich rein und keusch und gerecht bleibt, dies glaube
ich wenigstens ausgedrückt zu haben.