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Adam Müller, Fragmente über William Shakespear, 55-87; darin: VII. Heinrich 4., 68-75

VII. Heinrich 4.
oder
von dem Verhältniß des Komischen und Tragischen.

Novalis, dessen eigenthümliche, aus innerster Seele gesprochene Urtheile über einzelne Helden im Gebiet der Wissenschaft und Poesie, allenthalben mit besondrer Ehrfurcht berücksichtigt werden müssen, hat ein einziges Wort über den Shakespear und seine historischen Stücke fallen lassen. Die Kunsturtheile und alle Urtheile überhaupt, fallen in diesen Tagen der Characterschwäche und Geistesohnmacht meistentheils, so wie man von den Kartenspielen und Moden behauptet hat, wie vom Himmel: sie sind da, sie circuliren, werden geglaubt, und da die Selbstuntersuchung höchst selten ist, so modificirt jeder das bereits gestempelte Urtheil nach seinem individuellen Geschmack, läßt aber das Wesentliche davon unverändert. Deshalb sind freien unbefangnen Gemüthern Urtheile wie die des Novalis ganz unschätzbar, weil sich mit ihnen streiten läßt, weil sie herausfordern zu neuer Betrachtung, weil sie den Freien selbst in seiner Freiheit stören, und weil man im Streit mit einer fremden, gewaltigen Eigenthümlichkeit dieser Art sich seiner eignen Individualität erst recht bewußt wird. Novalis sagt: „Wenn man von der Absichtlichkeit und Künstlichkeit der Shakespearschen Werke spricht, so muß man nicht vergessen, daß die Kunst zur Natur gehört, und gleichsam die sich selbst beschauende, sich selbst nachahmende, sich selbst bildende Natur ist. Die Kunst einer gut entwickelten Natur ist freilich von der Künstelei des Verstandes, des blos raisonnirenden Geistes sehr unterschieden. Shakespear war kein Calculator, kein Gelehrter, er war eine mächtige, buntkräftige Seele, deren Erfindungen und Werke, wie Erzeugnisse der Natur, das Gepräge des denkenden Geistes tragen, und in denen auch der letzte scharfsinnige Beobachter noch neue Übereinstimmungen mit dem unendlichen Gliederbau des Weltalls, Begegnungen <69:> mit späteren Ideen, Verwandtschaften mit den höhern Kräften und Sinnen der Menschheit finden wird. Sie sind sinnbildlich und vieldeutig, einfach und unerschöpflich, wie die Erzeugnisse der Natur, und es dürfte nichts unpassenderes von ihnen gesagt werden können, als daß sie Kunstwerke in jener eingeschränkten mechanischen Bedeutung des Worts seien.“ – Dieses erste Fragment ist offenbar gegen Göthe und einzelne Äusserungen desselben über den Shakespear im Wilhelm Meister gerichtet. Es ist dort viel von der Absichtlichkeit Shakespears bei Gelegenheit der Zergliederung Hamlets die Rede: seine Werke werden mit einer Uhr verglichen, deren gläsernes Zifferblatt zugleich das ganze Räderwerk und alle geheime Triebfedern der Bewegung wahrnehmen läßt. Novalis empfindungsvolle Seele sträubte sich gegen dieses Wort, wie gegen eine Entweihung des Dichters, da man den schöpferischen Gang seiner Natur nach dem Tempo und den Positionen eines ordinairen Tanzmeisters zu würdigen unternommen, da man den dichtenden Shakespear gewissermaßen gedacht hätte wie Lessingen, da er aus den dramatischen Species seine Emilia Galotti zusammen calculirte: Sie sind, sagt er, kein Kunstwerk im gemeinen, mechanischen Sinne des Worts. Göthe dagegen, eben so vortrefflich, behauptete, sie seien keine rohen Naturerzeugnisse im gemeinen, dunklen und faulen Sinne des Worts. Es giebt nemlich besonders in Deutschland und England eine Fabel von s. g. Naturdichtern, und es stellen sich von Zeit zu Zeit Creaturen dieser Art ein, die als seltne Phänomene unter diesen Himmelsstrichen wie wilde Thiere oder Menschen mit Fischschuppen sich sehen lassen und angestaunt werden. Es befremdet mich wirklich, daß der öconomische Speculationsgeist der Menschen nicht darauf gefallen ist, statt der vielen noch umherziehenden Tanzbären, lieber auf die beliebteren Naturdichter einen Erwerb zu gründen, da es offenbar viel leichter ist, einen Bauernjungen durch oftmals vorgeklingelte Wielandische Verse zu einer Art von Reim und Gesang, als einen Bären zum Tanzen zu bringen. – Indeß gestehn wir uns, daß selbst Shakespear eine lange Zeit hindurch als rohes Naturphänomen dieser Art angestaunt worden: als Curiosität, als Spiel der Natur, als Ausnahme von der Regel. Von einer solchen Ansicht, die ihre eigne Rohheit verkündigt, indem sie die tiefsinnigsten und vollendetsten Werke der Kunst roh findet, ist man jetzt freilich zurückgekommen: ich habe sogar wagen dürfen von ihm, von dieser s. g. Ausnahme aller Regel einzig und allein, direct alles was etwa Regel der dramatischen Poesie zu heißen verdient, abzuleiten. Aber es findet sich noch in den bessern, einsichtsvolleren die Vorstellung von einer großen Kluft zwischen der Kunst und Natur im ausserordentlichen Dichter; immer zeigen sich noch Vorstellungen von einer mechanischen Beobachtung der Regeln oder der s. g. Theorie in der Kunst. Dem, der den Regeln unterworfen ist, wird in keiner Kunst etwas gelingen: der Dichter soll lebendiges Gesetz, milder Beherrscher der Regeln sein. Der dramatische Dichter hat es ausser den sichtbaren Personen in seinem Drama, noch mit sehr vielen unsichtbaren zu thun, mit Ideen, Allegorien, Principien und so auch mit Kunstregeln. Alle diese unsichtbaren Personen haben auch eine Stimme, der leise, sinnvolle Zuschauer wird sie hier und dort erkennen und vernehmen. Keine einzelne <70:> von ihnen darf aber despotisch das Werk beherrschen: der Dichter läßt die nahe liegende Allegorie hineinspielen in das Werk, er läßt die Idee, z. B. der Freiheit, sich eine Parthei bilden, wie in den Mördern des Julius Cäsar, er läßt der Regel, z.B. daß die Einheit der Zeit und des Raumes gelten solle, mit andern Worten, daß die Handlung auf den möglichst kleinen Ort, in die möglichst kleine Zeit eingeschränkt, aber nicht eingedrängt sein solle, ihr Recht – sobald aber jene Allegorie, jene Idee, jene einzelne Regel, sobald irgend etwas Einzelnes das ganze Werk erfüllt und beherrscht, so wird der Dichter und Zuschauer von einem dieser unsichtbaren Helden unterjocht: die Poesie, das Interesse, alles hört auf dramatisch zu sein, und wird eben so gut monologisch, als wenn wir von einem der sichtbaren Helden des Stücks bezaubert hinweg giengen. So schwebt der Dichter über seiner kleinen Welt, so schwebt der Naturgeist über seiner großen. Darum sträubte sich die große Welt gegen Alexandern, Julius Cäsarn und Tamerlan, und gegen jede allzustrenge Gesetzgebung, weil sie gewohnt ist, daß der Naturgeist dramatisch operirt, und weil er in diesen von ihm allzubegünstigten Helden monologisch zu werden schien. Die Natur hat mit der Kunst ein und dasselbe Gesetz: ich kann es nur andeuten, aber es ist ewig wahr, die Natur, die Geschichte, sind, wo sie erscheinen allenthalben künstlerisch im Verfahren: nirgends monologisch, immer dramatisch. Demnach ist nur von überschwenglicher Höhe der Kunst die Rede gewesen, man hat nur etwas unaussprechlich ausserordentliches gefühlt, wenn man den Shakespear der Natur allein, hat aneignen wollen, so lange, bis in Göthe ein Künstler so groß geworden, daß er dem Meister und Künstler Shakespear in die Augen sehen können. Dem Göthe ist es erlaubt, von der Kunst Shakespears, dem frommen Novalis, der mit dem Worte Natur ganz andres und höheres meinte als die Zeitgenossen, ist es vergönnt von der Natur im Shakespear zu reden; uns ist erlaubt zu erklären, daß beide, nur verschieden in ihrem Standpunct gegen die Zeitgenossen das Große, Ächte und des Shakespears Würdige gewollt und gesagt haben. –
Novalis urtheilt folgendes über die historischen Dramen: „In Shakespears historischen Stücken ist durchgehends Kampf der Poesie mit der Unpoesie. Das Gemeine erscheint witzig und ausgelassen, wann das Große steif und traurig erscheint. Das niedrige Leben wird durchgehends dem höheren entgegen gestellt, oft tragisch, oft parodisch, oft des Kontrasts wegen.“ So erschien dem unvergeßlichen Novalis das große Drama vom Untergange der Ritterzeit, da er es vom Standpuncte seiner Zeit aus betrachtete: das gemeine und große, das niedrige und höhere Leben erschienen getrennt. Die beiden Theile von Heinrich dem Vierten, an die wir heute gekommen sind, bestätigen die Wahrheit jenes Urtheils: das Königshaus und die Schenke zum wilden Schweinskopf in Eastcheap, die Welt Heinrich IV. und die Welt Falstaffs sind offenbar zwei verschiedene Welten. Zwischen diesen beiden Welten schwankend, und dann im folgenden Drama, in König Heinrich V., sie beide in ein schönes Ganze vereinigend, schwebt eine Natur von seltner Vortrefflichkeit, von ungewöhnlichem <71:> Umfang und Reichthum, der Liebling Shakespears, wenn er je einen gehabt, der Kronprinz, Sohn Heinrich IV., nachheriger König Heinrich V. Es frägt sich, ist der Streit dieser beiden Welten, wie er sich am schönsten in dem Gemüth desselben Prinz von Wales repräsentirt, wirklich, wie Novalis sagt, Kampf zwischen der Poesie und der Unpoesie, erscheint das Große wirklich steif und unpoetisch. Hier hat Novalis offenbar die Klage über seine Zeit, den Zweck seiner Werke etwas voreilig auf Shakespear übertragen. –
Als Heinrich IV. König Richard den II. vom Throne herab in Wahnsinn und Grab stürzte, da verlor England das Kleinod seiner ritterlichen Unschuld. So ganz, so aus einem Stücke, so rein und unbescholten wie es sich in den heiligen Kriegen und unter der Anführung des schwarzen Prinzen auf den Gefilden von Frankreich zeigte, ist es nun nicht mehr. Argwöhnisch und zurückhaltend zieht sich der alternde Usurpator in das Innere seines Palastes zurück. In That und der Erscheinung königlich konnten Eduard III. und der schwarze Prinz sich täglich unter jeder Gestalt dem Volke zeigen, niemand konnte vergessen, des heiligen Rechts ihres königlichen Blutes und der Thaten, welche dieses Recht bekräftigt hatten. Hören Sie, was dagegen der Usurpator Heinrich IV. über das wüste Leben seines Sohnes, des Kronprinzen, sagt: er mache sich zu gemein mit dem Volke; wen man täglich auf den Straßen sähe, der könne unmöglich königliche Würde behaupten: man müsse sich selten machen, imponiren, coquettiren mit der Gunst des Volks. Wer kann hierin verkennen, daß die Unschuld der Krone verloren ist, daß Schein und Absicht unterstützen sollen, was Wahrheit und Thaten der Gerechtigkeit nicht mehr tragen können. Selbst im Prinzen von Wales läßt Shakespear eine feine Coquetterie hervorleuchten: Er wolle recht schlechte Erwartungen im Volke erwecken, sagt er, durch seinen gemeinen Umgang und durch sein wildes Leben, um dereinst bei seiner Thronbesteigung recht überraschen, und die Erwartungen übertreffen zu können. – Die Welt ist wirklich getrennt: die Reue sitzt auf dem Throne in tragischer Gestalt, sinnend über die Wege des Schicksals, in sich erzeugend schwermüthige Ideen über die Unvollständigkeit der Kräfte des Menschen, klagend über den Druck der Krone, beneidend um eine Stunde Schlafs den Schiffsjungen im Mastkorbe. Der Geldmangel, der Muthmangel und die Folgen liederlichen Lebens, etabliren sich dagegen in der Schenke zum wilden Schweinskopf, in komischer Gestalt: Handlungen der Willkühr, der Gesetzlosigkeit und des Truges wechseln unaufhörlich, umfangen von einem und demselben Element eines ganz unerschöpflichen Witzes. Der Kronprinz geht hinüber und herüber, von der Schenke in das Königshaus und schwankt zwischen dem magern König und dem feisten Falstaff, zwischen Ernst und Spiel, wie der Dichter zwischen der komischen und tragischen Muse. – Im ersten Theile ist es die Eifersucht des Kronprinzen gegen den gewaltigen Heißsporn, den jungen ritterlichen Percy, die das Schwanken augenblicklich unterbricht: hier wird der Dichter unerträglich groß. Auf dem Schlachtfelde, wo die beiden Nebenbuhler kämpfen und Percy fällt, erreicht das Komische in Falstaff seinen <72:> Gipfel. Unmäßiges Lachen und tiefe tragische Empfindungen mit ihren Thränen wechseln in beschleunigter Folge, und immer mehr bezähmen sie einander, so daß eine einzige beruhigte Empfindung zurückbleibt. Da läßt der Dichter fühlen, was es sei, wenn sich Schmerz und Lust, einmal entzweit, um die Welt streiten. Unaufhörliche Blitze und Ströme von Regen müssen erfolgen, wenn ein reines Gleichgewicht in die Atmosphäre zurückkehren soll.
Die Luft ist gereinigt, aber nur auf kurze Zeit, denn ein größerer Zwiespalt wandelt hoch in der Luft über die Sterblichen her. Im zweiten Theile bricht eine neue Verschwörung über den unglücklichen Usurpator aus: die ihm seinen verbrecherischen Weg geebnet haben, wollen es nicht ertragen, daß er sie beherrsche. Sie beschönigen sich mit dem Vorwand, daß er die Gehülfen seines Verbrechens nie aufhören werde zu hassen. Die Söhne des Königs schlagen den Aufruhr zu Boden, aber der Gram hat sein Leben schon zernagt, und grade die Nachricht von den Siegen über seine Feinde giebt ihm den Tod. Der Prinz von Wales ist schon mehr herübergetreten auf die königliche Seite, nur einmal und auf kurze Zeit zeigt er sich in der Sphäre des Falstaffs. Die gemeine und höhere Welt streiten in diesem zweiten Theile auf ihre eigne Hand, und ohne den vermittelnden Prinzen, der dem Throne immer näher, endlich am Sterbebette seines Vaters ganz auf die tragische Seite hinübertritt. So zeigen sich in diesem Drama die Komödie und die Tragödie neben einander herlaufend, ineinander verschränkt, und beide als Glieder und Theile einer höhern Tragödie. – Ich bedarf dieses bewunderungswürdigen Beispiels, für die Erklärung des Komischen und Tragischen. Daß nach Novalis  Meinung die Poesie hier auf der einen, der komischen gemeinen Seite allein verweilen sollte, auf der andern dagegen die Unpoesie, dies glaube ich zur Rettung der dramatischen Ironie des Dichters schon widerlegt zu haben. –
Wenn man versuchte, den ersten Theil von Heinrich IV. auf unsrer heutigen Bühne darzustellen, so würde selbst die höchste Vollendung der Darstellung von dem weiblichen Theile des Publicums zuverläßig nicht mit voller Befriedigung aufgenommen werden, die Damen nemlich würden gestört werden, durch die s. g. zu grellen Contraste des Komischen und Tragischen; der Dichter würde scheinen, die schöne tragische Stimmung, in der sich das weibliche Geschlecht besonders gefällt, mit zu großem Übermuthe durch Witz und Spas wieder zu zerstören. Das männliche Geschlecht, welches im Durchschnitt höheren Gefallen am Komischen findet, wird vielleicht gar die tragischen Szenen gedehnt und langweilig finden, da es vor allzugroßem Wohlgefallen an Sir John Falstaff und seinen Gesellen, und vor ungeduldiger Erwartung derselbigen sich vielleicht gar keiner tragischen Situation zu überlassen im Stande ist. Die Frage ist: hat es unser Meister William Shakespear beiden Geschlechtern nur stellenweis recht machen wollen, oder hat er es ihnen wirklich beiden durch das Ganze recht gemacht? Hat er hier die Gunst der Frauen, dort den Beifall der Männer, oder hier und dort und allenthalben die ganze Menschheit im Auge gehabt? <73:>
Sollte dieser Vorzug, den man einer von beiden, der tragischen oder der komischen Stimmung giebt, nicht wieder aus einem feinern monologischen Interesse entspringen? Und wäre dies, so dürfte ich Sie auch dort nicht in Ruhe lassen, und das dramatische Interesse für beide Musen verlangen und zu erwecken suchen, mit allen Kräften, die mir zu Gebot stehn. –
Alle wie wir da sind und jeder von uns hängt bei seinem Eintritt in die Welt nach irgend einer Seite, wenn auch noch so leise, hinüber: des einen Stoff ist zu weich, des andern zu spröde. Was liegt uns nun ob, wenn wir unser Leben führen und bilden wollen? Der weiche soll nicht seine Weichheit monologisch für den Helden unter seinen Eigenschaften halten und ihn so alle übrigen beherrschen lassen, sondern er soll diesem von der Natur schon allzubegünstigten Helden, durch Kunst einen Gegner gegenüber zu stellen suchen; er soll durch die Betrachtung des schneidenden, harten und spröden Wesens des Komischen, seiner weichen und allzuleicht überfließenden Natur ein Gegengewicht bilden, und so durch ein Umfassen beider Extreme sich zum ganzen und vollständigen Menschen erziehn. So verschrieb Friedrich Schlegel grade den weichen Frauen das Studium der spröden Philosophie, und den spröden Männern das Studium der weichen Poesie: so würde ich grade die Frauen häufiger in die Komödie und grade die Hausväter, sie möchten noch so oft sagen: „sie hätten der Leiden und Trübsale schon genug zu Haus und brauchten sie nicht erst im Theater zu suchen,“ in die Tragödie führen. Shakespear hat also demnach wohl durch die Gewalt, mit der er im Heinrich IV. beide Elemente Feuer und Wasser gegen einander ankämpfen läßt, es dem ganzen Menschen, und also dem ganzen Publicum recht machen wollen. Die Contraste, die den monologischen Zuschauer ärgern, den dialogischen über die Maßen ergötzen, existiren für den dramatischen Zuschauer gar nicht. Dieser, da seine Seele das Ganze zu empfangen hat und diesem gewachsen ist, läßt nicht, wie es dem monologischen Zuschauer begegnet, den dramatischen Faden vor Schrecken aus den Händen fahren, wenn plötzlich das Komische an die Stelle des Tragischen tritt, oder das Tragische den Fluß des Komischen plötzlich unterbricht. – Überhaupt wird die fleißige Betrachtung des Shakespear bald davon überzeugen, daß nur das Lächerliche und die Wehmuth des gemeinen Lebens so unverträglich sind, so weit von einander abstehn: sobald beide Empfindungen von einem und demselben dramatischen Gemüth beherrscht werden, sobald beide in dieselbe Sphäre der Kunst eingehn, eben sobald verwandelt sich das Lächerliche in Komisches, und die Wehmuth in tragische Trauer. – Diese eben erwähnten beiden Unterschiede sind zu wichtig und gemeiniglich zu wenig betrachtet, auch für die Bildung eines ächten Urtheils über Shakespear und das Theater überhaupt zu bedeutend, als daß sie hier mit Stillschweigen übergangen werden könnten. Jeder von uns kennt aus Erfahrung die Herrschaft gewisser Stimmungen und Launen über den Menschen: die Welt mit allen ihren Erscheinungen zeigt sich an gewissen Tagen trüb und schwer, am andern wieder in grellen, bunten, allzuschreienden Farben und leicht. Eben die <74:> Weichheit und die Spröde des physischen Stoffes aus dem wir bestehn, scheint abwechselnd die Oberhand zu haben; statt daß die Seele beide Eigenschaften des Stoffes in ihrer Gewalt haben und sie beherrschen sollte, wie der Musiker beides, die Dur- und Moltöne seines Instruments, statt dessen nimmt das Instrument von sich selbst heut einen Dur, morgen einen Mollcharacter an, und zwingt den Spieler sich ihm zu unterwerfen. Die Abstufungen oder Modulationen der Wehmuth und andrerseits der humoristische, witzelnde Taumel, die auf diese Weise entstehn und einzeln, monologisch, ohne Gegengewicht das ganze Gemüth des Menschen befangen, sind unedler, unkünstlerischer Natur. Man fühlt das Lustige einer solchen einseitigen Stimmung und nimmt seine Zuflucht zum Theater, gemeiniglich nicht mit dem Zweck dort eine höhere Sphäre zu finden, in der die Trauer wie die Lust auf künstlerische Weise vereinigt erscheinen, und beide, da sie Ausflüsse eines ihnen überlegenen Geistes sind, beruhigen müssen, sondern vielmehr um nur in die entgegengesetzte Stimmung versetzt zu werden: man curirt eine Krankheit durch die andre: man verschreibt sich gegen die häusliche üble Laune, Kotzebues üble Laune, oder den Wirrwarr, oder den Wildfang, so ungefähr wie ein trübes, in dem Gram einer unglücklichen Liebe befangenes Gemüth sich in ein wüstes, liederliches Leben stürzt und mit diesem zu curiren sucht. Man kann mir einwenden, diese Heilmethode sei probat! Ja, sie mag es in vielen Fällen sein, aber was bleibt nach ihrer Anwendung zurück? Ein Gefühl der Leerheit, der Gleichgültigkeit und des Überdrußes, statt dessen wir von aller Kunst, der Heilkunst wie der dramatischen, ein Gefühl erhobenen Lebens und die Fülle der Kraft und Gesundheit verlangen. –
Sobald die Seele aber sich auf den Thron setzt, alle Eigenschaften des Stoffes, alle Stimmungen der Tage und Augenblicke ihr unterworfen; eben sobald verwandelt sich das Lächerliche in Komisches, das Weinerliche in Tragisches: das Lächerliche und Weinerliche schlossen einander aus, nur eines konnte herrschen: das Komische und Tragische hingegen, da sie beide von einem höhern, von der gesunden menschlichen Seele des Dichters oder des Zuschauers beherrscht werden, bestehen beide neben einander. Das Lächerliche, der Humor entsprang aus treuloser Lust an Wechsel, an Veränderung, an Zerstörung, daher begleiten ihn der beissende Spott, die verwundende schmutzige Satyre, daher ist er überhaupt dialogischer Natur: betrachten Sie als Beispiel die englischen humoristischen Romane; Parnys guerre des dieux; den deutschen Falk und bei vielen anderweiten Verdiensten die pucelle d’Orleans. Das Weinerliche, die üble Laune entsprang aus schwerfälligem Haften und Nagen am Leben, und war deshalb monologischer Natur: gedenken Sie als Beispiel des Drame larmoyant und der Kotzebueschen Rührungen. Das Ächt-Tragikomische ist dramatischer Natur: die dramatische Natur mag den Schmerz durch alle Saiten der Brust reissen lassen, ihre Erzeugnisse mögen Ströme von Thränen erwecken, sie mag wie die griechische Tragödie das Schicksal im Hause der Atriden toben lassen, immer wird sich und an allen Stellen eine dem Schmerze weit <75:> überlegene Seele offenbaren, die den Zuschauer über allen Gram erhebt, gegen jede rohe Wunde sicher stellt: diese mag ferner mit dem Übermuthe der griechischen und italienischen Komödie zerstören was ihr in die Hände fällt, mit Hohem und Heiligen ihr Spiel treiben, die Zuschauer, die Zeitbegebenheiten in ihren Taumel hineinreissen, das Spiel wird seiner selbst bewußt bleiben, und dennoch nie beleidigen und seine Schranken verletzen, denn unverkennbar, wenn schon unsichtbar waltet darin ein ruhiger, ernster Geist. – Daher kann der sinnvolle Zuschauer nach den wahren Darstellungen der dramatischen Kunst nicht sagen, ob es Spiel und Ironie, oder Ernst war, was ihn auf die Höhe des Lebens geführt. Deshalb, wer neben dem rasenden Lear, die Spiele des Narren: neben dem Sterbebette König Heinrich IV. die Prahlereien und den Witz des Sir John Falstaff nicht blos zu dulden, sondern unentbehrlich zu finden weiß, – der ist dem Drama, ja wie sich weiter unten zeigen wird, dem größern Drama des Lebens, welches dieselbe Vereinigung des Ernstes und Spieles verlangt, gewachsen, und unsers großen Meisters würdig.

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Letzte Aktualisierung 30-Mär-2003
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