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Adam Müller, Fragmente über William Shakespear, 55-87; darin: VI. Richard 2., 66-68

VI. Richard 2.
oder
von der dramatischen Gerechtigkeit.

Betrachten wir demnach zuvörderst Richard II. Dieses Drama steht am Eingange als eine Art von harter Prüfung für den Leser: was in diesem von monologischem <67:> Interesse noch übrig geblieben ist, muß sich hier schlechterdings melden. Der schwache König empört uns in den beiden ersten Acten durch die schmachvolle Behandlung seiner Oheime und Vettern; noch mehr, er verpachtet sein Königreich England. Verdient ein solcher zu herrschen, er, der Stiefvater seines Volks, er, der mit dem Herzen und dem Eigenthum seines Volkes verwachsen sein sollte, versetzt Volk und Land für Summen Geldes, verpachtet es wie eine armselige Meierei. In den Leserinnen erzeugt sich schon die Hoffnung den Unwürdigen bestraft zu sehn: er wird es: sein Vetter Hereford stürzt ihn vom Throne, den er als König Heinrich IV. besteigt. Richard wird wahnsinnig und stirbt. Sollte Shakespear wirklich so ordinaire, handgreifliche Gerechtigkeit vollzogen haben? Betrachten wir das Schauspiel näher. Richard geht mit dem aus der Pacht gewonnenen Gelde nach Ireland, um neue ausgebrochene Unruhen zu dämpfen: indeß landet Hereford als Rebell in England, und allgemeiner Aufruhr bricht zu seiner Unterstützung aus. Mit der Nachricht erwacht in Richard das ganze Gefühl seines königlichen Rechtes: er fühlt die Salbung durch sein ganzes Wesen: jeder Tropfen Bluts in seinem Innern ruft ihm zu: Du bist König, der Gesalbte des Herrn; das Recht der Erstgeburt ist unerschütterlich in dir. Er fliegt nach England, küßt den Boden da er landet: nur da die Sonne bei den Antipoden weilte, konnten Meuter und Rebellen es wagen, unter dem Schutze der Nacht Englands Ruhe zu stören, so spricht er: sobald sie in Osten wieder aufsteigt, werden die Söhne der Nacht sich wieder in ihre Schlupfwinkel zurückziehn. – Richard pocht auf sein heiliges Recht, immer begeisterter durch die unsichtbare Heiligkeit seiner Bestimmung, jemehr seine Getreuen abfallen von ihm. Er versäumt die irdischen Vertheidigungs-Anstalten, und harrt noch auf die Engel Gottes, die ihm zu Hülfe kommen müßten, als schon sein Thron gesunken ist, und Heinrich über ihm, getragen von der Volksgunst, sich erhoben hat. Da geht sein religiöser Glaube in zerschmetternden Wahnsinn über: der Zuschauer, hingerissen von seinen unwiderstehlichen, prophetischen Worten, von seinem beweinenswerthen Schicksal zu Boden gedrückt, frägt, da der Vorhang fällt: aber, warum denn die Majestät Gottes und seiner Stellvertreter, der Großen auf Erden, offenbaren in dem Munde desselbigen, der so viel Ungerechtes gethan, der durch zwei Acte hindurch mit Schwäche und Lastern uns alle empört hat? warum denn einen solchen zum Propheten und Heiligen erheben? – Grade einen solchen, antwortet Shakespear! Nicht kömmt es darauf an, ihn, seine Person, sondern die heilige Idee der königlichen Würde zu erheben, deren einmalige Verletzung alle Verbrechen der Folgezeit, die ihr künftig dargestellt sehen sollt, nach sich zog. Gab ich Euch einen König, der zugleich ein tadelloser, großmüthiger Mensch war, so nahmt ihr den Menschen, schloßt Euch an seine Brust und übersaht, vergaßt mir den König. In seiner Heiligkeit und Ehrwürdigkeit wollt’ ich das Recht der königlichen Erstgeburt verklären: die goldne Kette, die durch alle Generationen eines Volkes greift und sie mächtig zusammen bindet; ein Gesetz, welches die Natur gegeben, damit Kleine und Große, Mächtige und Geringe ihr gemeinsames Leben und Treiben daran anschließen sollen. Es kann gebrochen werden dieses Gesetz; <68:> empfangt ihr Könige, wenn ihr den Richard bis zum Wahnsinn herabsinken seht, meine Lehre: das Gesetz selbst als Idee bleibt und erschüttert aus dem einzigen, unglücklichen Munde des verlaßnen Richard die triumphirenden Urheber des Bruchs bis in die Tiefe des Herzens, zwingt alle Hörer zu ehrfurchtsvollem Mitleiden; diese Lehre empfangt ihr Völker von mir. – Als Prüfstein des dramatischen Interesses lege ich das Drama Richard II. vor dieser verehrungswürdigen Versammlung nieder, mit dem besondern Anliegen, es nach dieser Darstellung noch einmal in allen seinen wunderbaren Theilen zu betrachten, und nach der Lectüre sich zu fragen, ob irgend etwas der Nichtbefriedigung ähnliches noch in Ihnen zurückbleibt, oder ob das große nur der unergründlichen Natur und unendlichen Ideen der Kunst getreue, keinem Zeitgeiste schmeichelnde, und doch allen Zeitaltern gewachsene Gemüth des Dichters sich Ihnen befreundet und nahe zeigen will. Ist das Letztere der Fall, so mögen wir in der nächsten Stunde getrost zur Betrachtung der andern Theile dieses großen Dramas fortschreiten.

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Letzte Aktualisierung 30-Mär-2003
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