VI. Richard 2.
oder
von der dramatischen Gerechtigkeit.
Betrachten wir demnach zuvörderst
Richard II. Dieses Drama steht am Eingange als
eine Art von harter Prüfung für den Leser: was in
diesem von monologischem <67:> Interesse noch
übrig geblieben ist, muß sich hier schlechterdings
melden. Der schwache König empört uns in den beiden
ersten Acten durch die schmachvolle Behandlung seiner
Oheime und Vettern; noch mehr, er verpachtet sein
Königreich England. Verdient ein solcher zu herrschen,
er, der Stiefvater seines Volks, er, der mit dem Herzen
und dem Eigenthum seines Volkes verwachsen sein sollte,
versetzt Volk und Land für Summen Geldes, verpachtet
es wie eine armselige Meierei. In den Leserinnen erzeugt
sich schon die Hoffnung den Unwürdigen bestraft zu
sehn: er wird es: sein Vetter Hereford stürzt ihn
vom Throne, den er als König Heinrich IV. besteigt.
Richard wird wahnsinnig und stirbt. Sollte Shakespear
wirklich so ordinaire, handgreifliche Gerechtigkeit
vollzogen haben? Betrachten wir das Schauspiel näher.
Richard geht mit dem aus der Pacht gewonnenen Gelde
nach Ireland, um neue ausgebrochene Unruhen zu dämpfen:
indeß landet Hereford als Rebell in England, und allgemeiner
Aufruhr bricht zu seiner Unterstützung aus. Mit der
Nachricht erwacht in Richard das ganze Gefühl seines
königlichen Rechtes: er fühlt die Salbung durch sein
ganzes Wesen: jeder Tropfen Bluts in seinem Innern
ruft ihm zu: Du bist König, der Gesalbte des Herrn;
das Recht der Erstgeburt ist unerschütterlich in dir.
Er fliegt nach England, küßt den Boden da er landet:
nur da die Sonne bei den Antipoden weilte, konnten
Meuter und Rebellen es wagen, unter dem Schutze der
Nacht Englands Ruhe zu stören, so spricht er: sobald
sie in Osten wieder aufsteigt, werden die Söhne der
Nacht sich wieder in ihre Schlupfwinkel zurückziehn.
– Richard pocht auf sein heiliges Recht, immer begeisterter
durch die unsichtbare Heiligkeit seiner Bestimmung,
jemehr seine Getreuen abfallen von ihm. Er versäumt
die irdischen Vertheidigungs-Anstalten, und harrt
noch auf die Engel Gottes, die ihm zu Hülfe kommen
müßten, als schon sein Thron gesunken ist, und Heinrich
über ihm, getragen von der Volksgunst, sich erhoben
hat. Da geht sein religiöser Glaube in zerschmetternden
Wahnsinn über: der Zuschauer, hingerissen von seinen
unwiderstehlichen, prophetischen Worten, von seinem
beweinenswerthen Schicksal zu Boden gedrückt, frägt,
da der Vorhang fällt: aber, warum denn die Majestät
Gottes und seiner Stellvertreter, der Großen auf Erden,
offenbaren in dem Munde desselbigen, der so viel Ungerechtes
gethan, der durch zwei Acte hindurch mit Schwäche
und Lastern uns alle empört hat? warum denn einen
solchen zum Propheten und Heiligen erheben? – Grade
einen solchen, antwortet Shakespear! Nicht kömmt es
darauf an, ihn, seine Person, sondern die heilige
Idee der königlichen Würde zu erheben, deren einmalige
Verletzung alle Verbrechen der Folgezeit, die ihr
künftig dargestellt sehen sollt, nach sich zog. Gab
ich Euch einen König, der zugleich ein tadelloser,
großmüthiger Mensch war, so nahmt ihr den Menschen,
schloßt Euch an seine Brust und übersaht, vergaßt
mir den König. In seiner Heiligkeit und Ehrwürdigkeit
wollt’ ich das Recht der königlichen Erstgeburt verklären:
die goldne Kette, die durch alle Generationen eines
Volkes greift und sie mächtig zusammen bindet; ein
Gesetz, welches die Natur gegeben, damit Kleine und
Große, Mächtige und Geringe ihr gemeinsames Leben
und Treiben daran anschließen sollen. Es kann gebrochen
werden dieses Gesetz; <68:> empfangt ihr
Könige, wenn ihr den Richard bis zum Wahnsinn
herabsinken seht, meine Lehre: das Gesetz selbst
als Idee bleibt und erschüttert aus dem einzigen,
unglücklichen Munde des verlaßnen Richard die triumphirenden
Urheber des Bruchs bis in die Tiefe des Herzens, zwingt
alle Hörer zu ehrfurchtsvollem Mitleiden; diese
Lehre empfangt ihr Völker von mir. – Als Prüfstein
des dramatischen Interesses lege ich das Drama Richard II.
vor dieser verehrungswürdigen Versammlung nieder,
mit dem besondern Anliegen, es nach dieser Darstellung
noch einmal in allen seinen wunderbaren Theilen zu
betrachten, und nach der Lectüre sich zu fragen, ob
irgend etwas der Nichtbefriedigung ähnliches noch
in Ihnen zurückbleibt, oder ob das große nur der unergründlichen
Natur und unendlichen Ideen der Kunst getreue, keinem
Zeitgeiste schmeichelnde, und doch allen Zeitaltern
gewachsene Gemüth des Dichters sich Ihnen befreundet
und nahe zeigen will. Ist das Letztere der Fall, so
mögen wir in der nächsten Stunde getrost zur Betrachtung
der andern Theile dieses großen Dramas fortschreiten.