V. Historische
Einleitung zu der Tragödie vom Untergange der Ritterzeit.
Es eröffnet sich eine von der bisher
betrachteten durchaus verschiedene Welt, indem wir
uns dem historischen Drama des Shakespear nähern.
Unter historischem <65:> Drama nemlich verstehn
wir hier insbesondre acht unermeßlich große Darstellungen
aus der brittischen Geschichte, die ein einziges zusammenhängendes
Trauerspiel bilden. Richard II. Heinrich IV.
(2 Theile,) Heinrich V. Heinrich VI.
(3 Theile,) und Richard III. – Ich
möchte diesen Dramen den gemeinschaftlichen Namen
geben: vom Untergange der brittischen Ritterzeit.
Es existiren freilich noch zwei Tragödien, deren Stoff
aus der brittischen Geschichte genommen, und die mit
nicht minder tiefsinniger Kraft erzeugt worden, König
Johann, und König Heinrich VIII. Diese
haben indeß eine mehr abgesonderte und eigenthümliche
Bedeutung, sind auch offenbar in ganz verschiedner
Manier behandelt. – Lassen Sie uns demnach die oben
genannten achte betrachten:
Die
brittische Geschichte hat den ganz eignen Character,
daß sich in ihr die Geschichte des übrigen Europa
concentrirt darstellt. Friedrich Schlegel hat bereits
scharfsinnig bemerkt, daß alle Revolutionen, die Europa
im Ganzen hat erfahren müssen, England gewissermaßen
im voraus, auf seine eigne Hand abgemacht hat: so
gieng die Kirchenreformation in England, der Reformation
des Continents von Europa lange voraus; eben so auch
die politische Revolution, die in England schon seit
einem Jahrhundert beendigt war, als erst das übrige
Europa die gleiche Bewegung in seinem Innern verspürte.
Es ist als wenn auf jener Insel, eben durch die Trennung
von der übrigen Welt, und durch die übrigens ganz
gleichen Einflüsse der Bildung und des öffentlichen
Lebens, alle Wesenheiten des europäischen Characters
viel reiner und anschaulicher hervorträten; es ist
als wenn die brittische Geschichte ein Drama für sich
wäre, worin Europa den Gedanken und das Ideal seiner
Geschichte wiederzufinden vermöchte. Ich brauche Sie
nicht an den dramatischen Character der brittischen
Verfassung zu erinnern, die von jeher deshalb gepriesen
worden, weil sie eben so wenig despotisch, das heißt
monologisch, als demokratisch, d. h. dialogisch
genannt werden kann, sondern vielmehr das monologische
Element unter der Gestalt von König, Geistlichkeit
und Adel, und das Dialogische, unter der Gestalt des
Unterhauses in ein einziges, schönes und dramatisches
Ganze vereinigt. Diese Verfassung ist nicht etwa die
Erfindung eines Einzelnen, sondern sie ist eben die
Idee, die nach der Betrachtung des großen Dramas der
brittischen Geschichte zurückbleibt. Eben weil wir
durch diese ganze Geschichte hindurch ein immer reges
Gleichgewicht der Kräfte wahrnehmen, weil wir uns
in die Betrachtung keines einzelnen Helden ausschließend
und monologisch vertiefen dürfen, sondern immer wieder
hingerissen werden zu einem neuen oder zu irgend einer
unerwarteten Wendung des Schicksals, so erzeugt sich
in uns ein wahrhaft dramatisches Interesse am Ganzen,
an der Idee; eben deshalb ist das Studium der brittischen
Geschichte schöne Vorübung für den dramatischen Dichter.
Diese Geschichte ist bis jetzt nur beschrieben worden
von Shakespear in den obenerwähnten acht Tragödien,
die eine einzige bilden. Was Hume und die andern s. g.
Geschichtschreiber erzählen, ist eine bloße Ubersicht
der Facta, entblößt vom Geiste ihres Lebens, um der
moralischen und politischen Nutzanwendungen willen
geschrieben, leer, ohnmächtig und kalt. – Shakespears
Tragödie umfaßt die <66:> Kriege der rothen
und weißen Rose, oder den erhabenen Kampf zweier Linien
des königlichen Stammes um die Krone. König Eduard III.,
der gemeinschaftliche Ahnherr des ganzen Geschlechtes,
das hier in seinem eignen Fleische wüthet, und sein
ältester Sohn, die Blume der brittischen Ritterschaft,
der Held aller Helden, die die Geschichte von England
zeigt, der s. g. schwarze Prinz, unvergeßlich
in seinen Thaten bei Poitiers und Crecy – sind beide
todt, als das Drama beginnt. Das Gedächtniß ihrer
und ihres Zeitalters greift durch die ganze Tragödie
hindurch: je tiefer der Dichter die unglücklichen
Nachkommen in sich selbst versinken läßt, um desto
heller treten jener Ahnherr und der unvergleichliche
Prinz, den Shakespear nicht darstellen wollte, um
ihn lieber durch die Erinnerung eines ganzen königlichen
Geschlechts verklären zu lassen, aus ihren Gräbern
heraus. Bis auf Eduard den III. war das Erbfolgerecht
der Könige von England mit wenigen Ausnahmen ungekränkt
geblieben: der schwarze Prinz war in der Blüthe seiner
Jahre gefallen, daher folgte Eduard dem dritten, sein
Enkel, der schwache und unwürdige Sohn des schwarzen
Prinzen, König Richard II. England war gewöhnt
an kräftige Könige: persönliche Größe und die Krone
hatten sich geraume Zeit mit einander verbunden gezeigt.
Richards Character entsprach dem Throne zu wenig,
wich von der Größe der Vorältern zu beträchtlich ab;
Eduard III. hatte andre beßre Enkel von seinen
übrigen sechs Söhnen; diese, im Gefühl ihrer Kraft
stürzen den schwachen Richard vom Throne – und dies
eine vom Schicksal herbeigeführte Verbrechen zieht
Schandthaten über Schandthaten nach sich: Ströme königlichen
Bluts fließen über England: das Recht der Krone ist
einmal zweifelhaft, und so greift jedes Glied der
großen Familie nach ihrem reizenden Besitz; es entsteht
ein Wettlauf der Verbrechen, bis aus königlichem Geblüt
endlich ein Scheusal erzeugt wird, hinkend, häßlich,
innerlich verworfen, das allen andern voranläuft,
alle Flüche und allen Mord seiner Zeit über sein Haupt
häuft, und mit dessen Fall das Schicksal sich wieder
besänftigt: König Richard der III. – Im
gereinigten Glanz geht die Krone über auf Heinrich VII.,
Großvater der Elizabeth. – Solche Prüfungen mußte
England bestehn, um die unerschütterliche Festigkeit
seines Thrones, das eine große Heiligthum christlicher
Staaten zu erwerben. In folgenden Jahrhunderten ward
das andre eben so wesentliche Palladium des
öffentlichen Glücks, die Freiheit des Volks in eben
so heftigen, erbitterten Kämpfen erobert: der Dichter
dieser zweiten Tragödie, die bald nach Shakespears
Tode sich zu spielen anfieng, ist noch nicht gekommen;
möge ihn unsre Zeit noch herbei führen, und mögen
Carl der Erste, Cromwell, Jacob der Zweite und Wilhelm
der Dritte, in eben so würdiger Gestalt, als die Richarde
und Heinriche die Bühne besteigen.