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Adam Müller, Fragmente über William Shakespear, 55-87; darin: V. Historische Einleitung zu der Tragödie vom Untergange der Ritterzeit, 64-66

V. Historische Einleitung zu der Tragödie vom Untergange der Ritterzeit.

Es eröffnet sich eine von der bisher betrachteten durchaus verschiedene Welt, indem wir uns dem historischen Drama des Shakespear nähern. Unter historischem <65:> Drama nemlich verstehn wir hier insbesondre acht unermeßlich große Darstellungen aus der brittischen Geschichte, die ein einziges zusammenhängendes Trauerspiel bilden. Richard II. Heinrich IV. (2 Theile,) Heinrich V. Heinrich VI. (3 Theile,) und Richard III. – Ich möchte diesen Dramen den gemeinschaftlichen Namen geben: vom Untergange der brittischen Ritterzeit. Es existiren freilich noch zwei Tragödien, deren Stoff aus der brittischen Geschichte genommen, und die mit nicht minder tiefsinniger Kraft erzeugt worden, König Johann, und König Heinrich VIII. Diese haben indeß eine mehr abgesonderte und eigenthümliche Bedeutung, sind auch offenbar in ganz verschiedner Manier behandelt. – Lassen Sie uns demnach die oben genannten achte betrachten:
Die brittische Geschichte hat den ganz eignen Character, daß sich in ihr die Geschichte des übrigen Europa concentrirt darstellt. Friedrich Schlegel hat bereits scharfsinnig bemerkt, daß alle Revolutionen, die Europa im Ganzen hat erfahren müssen, England gewissermaßen im voraus, auf seine eigne Hand abgemacht hat: so gieng die Kirchenreformation in England, der Reformation des Continents von Europa lange voraus; eben so auch die politische Revolution, die in England schon seit einem Jahrhundert beendigt war, als erst das übrige Europa die gleiche Bewegung in seinem Innern verspürte. Es ist als wenn auf jener Insel, eben durch die Trennung von der übrigen Welt, und durch die übrigens ganz gleichen Einflüsse der Bildung und des öffentlichen Lebens, alle Wesenheiten des europäischen Characters viel reiner und anschaulicher hervorträten; es ist als wenn die brittische Geschichte ein Drama für sich wäre, worin Europa den Gedanken und das Ideal seiner Geschichte wiederzufinden vermöchte. Ich brauche Sie nicht an den dramatischen Character der brittischen Verfassung zu erinnern, die von jeher deshalb gepriesen worden, weil sie eben so wenig despotisch, das heißt monologisch, als demokratisch, d. h. dialogisch genannt werden kann, sondern vielmehr das monologische Element unter der Gestalt von König, Geistlichkeit und Adel, und das Dialogische, unter der Gestalt des Unterhauses in ein einziges, schönes und dramatisches Ganze vereinigt. Diese Verfassung ist nicht etwa die Erfindung eines Einzelnen, sondern sie ist eben die Idee, die nach der Betrachtung des großen Dramas der brittischen Geschichte zurückbleibt. Eben weil wir durch diese ganze Geschichte hindurch ein immer reges Gleichgewicht der Kräfte wahrnehmen, weil wir uns in die Betrachtung keines einzelnen Helden ausschließend und monologisch vertiefen dürfen, sondern immer wieder hingerissen werden zu einem neuen oder zu irgend einer unerwarteten Wendung des Schicksals, so erzeugt sich in uns ein wahrhaft dramatisches Interesse am Ganzen, an der Idee; eben deshalb ist das Studium der brittischen Geschichte schöne Vorübung für den dramatischen Dichter. Diese Geschichte ist bis jetzt nur beschrieben worden von Shakespear in den obenerwähnten acht Tragödien, die eine einzige bilden. Was Hume und die andern s. g. Geschichtschreiber erzählen, ist eine bloße Ubersicht der Facta, entblößt vom Geiste ihres Lebens, um der moralischen und politischen Nutzanwendungen willen geschrieben, leer, ohnmächtig und kalt. – Shakespears Tragödie umfaßt die <66:> Kriege der rothen und weißen Rose, oder den erhabenen Kampf zweier Linien des königlichen Stammes um die Krone. König Eduard III.,  der gemeinschaftliche Ahnherr des ganzen Geschlechtes, das hier in seinem eignen Fleische wüthet, und sein ältester Sohn, die Blume der brittischen Ritterschaft, der Held aller Helden, die die Geschichte von England zeigt, der s. g. schwarze Prinz, unvergeßlich in seinen Thaten bei Poitiers und Crecy – sind beide todt, als das Drama beginnt. Das Gedächtniß ihrer und ihres Zeitalters greift durch die ganze Tragödie hindurch: je tiefer der Dichter die unglücklichen Nachkommen in sich selbst versinken läßt, um desto heller treten jener Ahnherr und der unvergleichliche Prinz, den Shakespear nicht darstellen wollte, um ihn lieber durch die Erinnerung eines ganzen königlichen Geschlechts verklären zu lassen, aus ihren Gräbern heraus. Bis auf Eduard den III. war das Erbfolgerecht der Könige von England mit wenigen Ausnahmen ungekränkt geblieben: der schwarze Prinz war in der Blüthe seiner Jahre gefallen, daher folgte Eduard dem dritten, sein Enkel, der schwache und unwürdige Sohn des schwarzen Prinzen, König Richard II. England war gewöhnt an kräftige Könige: persönliche Größe und die Krone hatten sich geraume Zeit mit einander verbunden gezeigt. Richards Character entsprach dem Throne zu wenig, wich von der Größe der Vorältern zu beträchtlich ab; Eduard III. hatte andre beßre Enkel von seinen übrigen sechs Söhnen; diese, im Gefühl ihrer Kraft stürzen den schwachen Richard vom Throne – und dies eine vom Schicksal herbeigeführte Verbrechen zieht Schandthaten über Schandthaten nach sich: Ströme königlichen Bluts fließen über England: das Recht der Krone ist einmal zweifelhaft, und so greift jedes Glied der großen Familie nach ihrem reizenden Besitz; es entsteht ein Wettlauf der Verbrechen, bis aus königlichem Geblüt endlich ein Scheusal erzeugt wird, hinkend, häßlich, innerlich verworfen, das allen andern voranläuft, alle Flüche und allen Mord seiner Zeit über sein Haupt häuft, und mit dessen Fall das Schicksal sich wieder besänftigt: König Richard der III. – Im gereinigten Glanz geht die Krone über auf Heinrich VII., Großvater der Elizabeth. – Solche Prüfungen mußte England bestehn, um die unerschütterliche Festigkeit seines Thrones, das eine große Heiligthum christlicher Staaten zu erwerben. In folgenden Jahrhunderten ward das andre eben so wesentliche Palladium des öffentlichen Glücks, die Freiheit des Volks in eben so heftigen, erbitterten Kämpfen erobert: der Dichter dieser zweiten Tragödie, die bald nach Shakespears Tode sich zu spielen anfieng, ist noch nicht gekommen; möge ihn unsre Zeit noch herbei führen, und mögen Carl der Erste, Cromwell, Jacob der Zweite und Wilhelm der Dritte, in eben so würdiger Gestalt, als die Richarde und Heinriche die Bühne besteigen.

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Letzte Aktualisierung 30-Mär-2003
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