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Adam Müller, Fragmente über William Shakespear, 55-87; darin: III. Anatomie des Dramas, 57-59

III. Anatomie des Dramas.

Sollte es uns, da wir ins Innere der Werke Shakespears einzugehen unternehmen, nicht vielleicht gehen wie dem Zergliederer seiner Freuden in der herrlichen Götheschen Fabel. Dieser sah im Sonnenschein über dem Bache eine Libelle flattern, und ihren Leib und Flügel in tausend Farben spielen. Er verfolgte, er haschte sie, und da er sich nun recht dem Genusse dieses Glanzes überlassen will, sieht er – ein traurig dunkles Grau. – Sollte es also überhaupt nicht gerathner sein, der Poesie ihr <58:> freies Leben zu lassen, dem Spiel ihrer Farben und Bewegungen zu folgen, nie sie haschen, sie festhalten zu wollen, sondern lieber sich selbst von der allgemeinen Bewegung ergreifen zu lassen, und als Libelle mit ihr fortzuflattern? – Worin versah es denn wohl jener Zergliederer seiner Freuden? – Daß er die Libelle festhielt, und da er die Farben vermißte, die ihn vorher bezaubert hatten, sie wegwarf. – Wie aber, wenn er die netzförmigen Flügel, den spiegelnden Körper in leisen Fingern vorsichtig betrachtete, ihr dann die Freiheit gab und das Farbenspiel von neuem verfolgte! würde sie ihn dann nicht noch mehr ergötzt haben als vorher? – Das eben ist der Tod aller Freude überhaupt, daß man sie irdisch festhalten, besitzen, verschlingen will. Der Reisende sieht an einem Frühlingsabende zuerst den Golf von Neapel, und sicher ist die erste Wirkung der Zauberei dieser Gegend auf ihn, der Wunsch, sich dort anbauen zu können, dort zu leben, und sein Leben zu beschließen vielleicht. Setzen wir, sein Wunsch würde gewährt, und diese größere Libelle erhascht, so würde kaum der Sommer gekommen sein, als vom Vesuv und von Capri, vom Posilipo und vom Meere auch nichts mehr übrig sein, als ein traurig dunkles Grau, und die Sehnsucht anders wohin. – Wie oft flattern gleichergestalt Erinnerungen der Kindheit oder einer bessern Zeit im schönsten Farbenspiele vor unsrer Seele! wir möchten das alles erneuern, noch einmal, und es drängt uns nach der Gegend hin, oder zu den Personen zurück, an welche die Erinnerung sich so innig befestigte. Wir sind bei ihnen, wir glauben das alte Glück erhascht zu haben, wir pressen unserm Herzen einige künstliche Gefühle ab, aber finden nicht, was wir suchten, die Farben sind verschwunden, nichts bleibt als wieder – ein traurig dunkles Grau! was uns damals bezauberte, war ein schöner Accord: wir mögen einen einzelnen hervorklingenden Ton uns noch so oft wiederholen; die andern Töne, also die ganzen harmonischen Zaubereien jener Stunde wollen nicht zurückkehren; entweder ist unser Herz nicht in freier Bewegung und Klange wie damals, oder aus der Umgebung ist irgend eine Person, ein Wort, ein Lichtstrahl vielleicht verschwunden, der wesentlich zum Ganzen gehörte. – Sollen wir aller Erinnerung aber deshalb entsagen, nie bei schönen Stellen der Vergangenheit verweilen? Und wird auch der Landschaftsmaler zu tadeln sein, der die Ufer des Golfs von Neapel nach allen Richtungen durchstreift, und alle verborgenen Stellen jenes Paradieses erforscht? – Untersuchen – ist noch nicht festhalten, in Besitz nehmen und unterjochen. – So geht es uns in der Betrachtung der Werke des Shakespear: hundert sogenannte Kritiker sind vor uns hergegangen, denen wir nicht folgen möchten, weil sie die Dramen des Shakespear wie Libellen gejagt und eingefangen haben, gleichsam wie Schmetterlinge und Käfer, in einer Naturaliensammlung an die Nadel gesteckt, und aufs höchste nach Gattungen und Classen geordnet haben: Macbeth? so heißt es – gebt den Kasten her mit den Usurpatoren und den Verbrechern aus Ehrsucht, Wallenstein, Richard und Clavigo warten schon auf seine Gesellschaft. König Lear? das Mikroscop her: Undankbarkeit, nichts als Undankbarkeit. Othello? Eifersucht u. s. f. Und so wird höchstens an den einzelnen Objecten die Weisheit Shakespears ihres Schöpfers bewun- <59:> dert und seine Zweckmäßigkeit; hie und da die Ähnlichkeit eines Flügels, eines Beins, aus Homer, Sophokles, Virgil und Ovid herbeigeholt, aber vom ehemaligen hohen und stolzen Leben bleibt nichts zurück, als verwitternde Farben und der Geruch der Verwesung. – Ich fordre Sie auf die erste beste Ausgabe des Shakespear zu fragen, ob ich übertreiben, und ob Johnson, Steevens, und besonders der unglückliche, bemitleidenswürdige Warburton, außer nützlichen Bemerkungen über Sprache und Geschichte, für den Dichter Shakespear je etwas mehreres, als das hier beschriebene gethan haben. – Auch wir wollen die Libelle erhaschen, das Gewebe der Adern und den gemeimnißvollen Bau betrachten; sie dann ihrer ewigen Freiheit zurückgeben, und mit höherem Genuß ihrem Farbenspiel folgen, so weit unsre Augen tragen. –

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Letzte Aktualisierung 29-Mär-2003
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