III. Anatomie
des Dramas.
Sollte es uns, da wir ins Innere
der Werke Shakespears einzugehen unternehmen, nicht
vielleicht gehen wie dem Zergliederer seiner Freuden
in der herrlichen Götheschen Fabel. Dieser sah im
Sonnenschein über dem Bache eine Libelle flattern,
und ihren Leib und Flügel in tausend Farben spielen.
Er verfolgte, er haschte sie, und da er sich nun recht
dem Genusse dieses Glanzes überlassen will, sieht
er – ein traurig dunkles Grau. – Sollte es also überhaupt
nicht gerathner sein, der Poesie ihr <58:> freies
Leben zu lassen, dem Spiel ihrer Farben und Bewegungen
zu folgen, nie sie haschen, sie festhalten zu wollen,
sondern lieber sich selbst von der allgemeinen Bewegung
ergreifen zu lassen, und als Libelle mit ihr fortzuflattern?
– Worin versah es denn wohl jener Zergliederer seiner
Freuden? – Daß er die Libelle festhielt, und da er
die Farben vermißte, die ihn vorher bezaubert hatten,
sie wegwarf. – Wie aber, wenn er die netzförmigen
Flügel, den spiegelnden Körper in leisen Fingern vorsichtig
betrachtete, ihr dann die Freiheit gab und das Farbenspiel
von neuem verfolgte! würde sie ihn dann nicht noch
mehr ergötzt haben als vorher? – Das eben ist der
Tod aller Freude überhaupt, daß man sie irdisch
festhalten, besitzen, verschlingen will. Der Reisende
sieht an einem Frühlingsabende zuerst den Golf von
Neapel, und sicher ist die erste Wirkung der Zauberei
dieser Gegend auf ihn, der Wunsch, sich dort anbauen
zu können, dort zu leben, und sein Leben zu beschließen
vielleicht. Setzen wir, sein Wunsch würde gewährt,
und diese größere Libelle erhascht, so würde kaum
der Sommer gekommen sein, als vom Vesuv und von Capri,
vom Posilipo und vom Meere auch nichts mehr übrig
sein, als ein traurig dunkles Grau, und die Sehnsucht
anders wohin. – Wie oft flattern gleichergestalt Erinnerungen
der Kindheit oder einer bessern Zeit im schönsten
Farbenspiele vor unsrer Seele! wir möchten das alles
erneuern, noch einmal, und es drängt uns nach der
Gegend hin, oder zu den Personen zurück, an welche
die Erinnerung sich so innig befestigte. Wir sind
bei ihnen, wir glauben das alte Glück erhascht zu
haben, wir pressen unserm Herzen einige künstliche
Gefühle ab, aber finden nicht, was wir suchten, die
Farben sind verschwunden, nichts bleibt als wieder
– ein traurig dunkles Grau! was uns damals bezauberte,
war ein schöner Accord: wir mögen einen einzelnen
hervorklingenden Ton uns noch so oft wiederholen;
die andern Töne, also die ganzen harmonischen Zaubereien
jener Stunde wollen nicht zurückkehren; entweder ist
unser Herz nicht in freier Bewegung und Klange wie
damals, oder aus der Umgebung ist irgend eine Person,
ein Wort, ein Lichtstrahl vielleicht verschwunden,
der wesentlich zum Ganzen gehörte. – Sollen wir aller
Erinnerung aber deshalb entsagen, nie bei schönen
Stellen der Vergangenheit verweilen? Und wird auch
der Landschaftsmaler zu tadeln sein, der die Ufer
des Golfs von Neapel nach allen Richtungen durchstreift,
und alle verborgenen Stellen jenes Paradieses erforscht?
– Untersuchen – ist noch nicht festhalten, in Besitz
nehmen und unterjochen. – So geht es uns in der Betrachtung
der Werke des Shakespear: hundert sogenannte Kritiker
sind vor uns hergegangen, denen wir nicht folgen möchten,
weil sie die Dramen des Shakespear wie Libellen gejagt
und eingefangen haben, gleichsam wie Schmetterlinge
und Käfer, in einer Naturaliensammlung an die Nadel
gesteckt, und aufs höchste nach Gattungen und Classen
geordnet haben: Macbeth? so heißt es – gebt den Kasten
her mit den Usurpatoren und den Verbrechern aus Ehrsucht,
Wallenstein, Richard und Clavigo warten schon auf
seine Gesellschaft. König Lear? das Mikroscop her:
Undankbarkeit, nichts als Undankbarkeit. Othello?
Eifersucht u. s. f. Und so wird höchstens
an den einzelnen Objecten die Weisheit Shakespears
ihres Schöpfers bewun- <59:> dert und seine
Zweckmäßigkeit; hie und da die Ähnlichkeit eines Flügels,
eines Beins, aus Homer, Sophokles, Virgil und Ovid
herbeigeholt, aber vom ehemaligen hohen und stolzen
Leben bleibt nichts zurück, als verwitternde Farben
und der Geruch der Verwesung. – Ich fordre Sie auf
die erste beste Ausgabe des Shakespear zu fragen,
ob ich übertreiben, und ob Johnson, Steevens, und
besonders der unglückliche, bemitleidenswürdige Warburton,
außer nützlichen Bemerkungen über Sprache und Geschichte,
für den Dichter Shakespear je etwas mehreres, als
das hier beschriebene gethan haben. – Auch wir wollen
die Libelle erhaschen, das Gewebe der Adern und den
gemeimnißvollen Bau betrachten; sie dann ihrer ewigen
Freiheit zurückgeben, und mit höherem Genuß ihrem
Farbenspiel folgen, so weit unsre Augen tragen. –