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Philosophische und kritische Miscellen, 32-46; darin: <Adam Müller>, 1. Vom Wesen der Definitionen, 34-38

1. Vom Wesen der Definitionen.

Unter mannichfaltigen Klagen über das Unglück der Zeit, mag sich auch wohl einmal eine Stimme zu ihrem Lobe vernehmen lassen. Der Verfasser gegenwärtiger philosophischer Aufsätze möchte seinen Lesern zuförderst als Philosoph von Profession erscheinen, und so muß er sich denn als solcher freuen, daß tausend unnütze Hände, die noch vor kurzem in dieses würdige Gewerbe pfuschten, zur Ruhe gebracht sind, daß die Zeit des Modephilosophirens wirklich zu Ende ist, und nun endlich ein ruhiges, ernsthaftes und unabläßiges Streben zu Worte kommen kann. Vor allen Dingen lobenswerth an dieser Zeit ist es, daß der Reiz der Neuheit, dieser leckerhafte, fieberartige Appetit nach gewissen unverhofften Erscheinungen in Wissenschaft, Kunst und Leben abgestumpft, und eine allgemeine Überraschung des Publikums schwerlich zu bewirken ist. Alles Tüchtige und Große kann diesen Reiz der Neuheit sowohl, als die allein dafür empfänglichen Zuschauer sehr gut entbehren: es scheut vielmehr den allzulebhaften und hinreißenden Beifall, mit dem seine erste Erscheinung begleitet werden möchte, so wie ein lebenskluger Mann bei einem ersten Eintritt in eine Gesellschaft gern alles Geräusch, allen Glanz, ja alle Erwartungen der Menschen von ihm vermeiden mag, um nur recht still und natürlich durch sich selbst zu gelten und zu bedeuten. Die menschliche Kraft versagt am Ende, wenn es, wie vor einigen Jahren in der Philosophie darauf ankommt, auf eine piquante Erscheinung eine immer piquantere zu setzen, aber sie reicht vollkommen dazu hin, ein großes Geschäft mit Ruhe und Anspruchslosigkeit zu beginnen, und in jedem Moment der weiteren Ausbildung sich selbst zu steigern und zu übertreffen. Und wirklich so günstig ist der gegenwärtige Augenblick, daß endlich nur ein Wirken in diesem Geiste edle Theilnehmer zu piquiren und zu gewinnen vermag, und daß jetzt das Allerälteste allein wahrhaft Neues zu heißen verdient.
Dergestalt zufrieden mit meiner Zeit trete ich, der Autor, in den Kreis eines gegen mein Geschäft sehr gleichgültigen, keinesweges neugierigen oder gespannten Publikums: als Philosoph von Profession habe ich mich angemeldet, weil sich zur Zeit eben kein anspruchsloserer Titel auffinden ließ; unter diesem unschuldigen Zeichen wird man mich gern leben und sprechen lassen. Am Ende wird man vielleicht entdecken, daß ich zugleich mehr und zugleich weniger bin als das doppelsinnige Wort: Philosoph, ausdrückt, und daß ich ungeachtet der anscheinenden Bescheidenheit, dennoch mit Stolz und einiger Verwegenheit aufgetreten bin.
Die philosophischen Bewegungen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, waren nichts anders als Reactionen auf die Bewegungen am Anfange desselbigen Jahrhunderts. Nennen wir die von Newton und Leibnitz begründete Philosophie die atomistische, so ist ihr Verhälniß zu der von Kant und Schelling errichteten gut bestimmt, wenn wir die letztere die dynamische nennen. Von allen schönen Unwesentlichkeiten abgesehn, beruht der Unterschied beider Weltansichten darin, daß in der atomistischen Philosophie die Natur des Menschen und der Welt nach Maaß- <35:> gabe einer arithmetischen Grundanschauung, hingegen in der dynamischen dieselbigen zufolge einer geometrischen dargestellt worden. Die atomistische Philosophie gründlich und tüchtig wie die Zeiten und die Völker, in denen sie gebildet worden, organisirte die Mathematik nach sich selbst, d. h. auf atomistische Weise. Man betrachte das erste beste mathematische Lehrbuch aus der Newton-Leibnitz-Wolfischen Schule, so wird man finden, daß der Schwerpunkt des Ganzen auf die Seite der Arithmetik hinfällt. Zuförderst liebte diese Schule die Mathematik durch das höchst unvollständige und einseitige Wort Größenlehre zu bezeichnen; ganz uneingedenk der Begriffe: Stetigkeit, Ähnlichkeit, kurz Qualität, welches im Gebiete der Geometrie die eigentlich einheimischen sind, begnügte man sich damit, alle mathematischen Anschauungen auf den Begriff der Quantität (Größe) zu beziehen, und demnach ausschließend die eine große Seite der Mathematik ans Licht zu stellen, welche mit der atomistischen Philosophie correspondirte, und ihr in die Hände arbeitete.
Die dynamische Schule hat bis auf diesen Augenblick die Mathematik noch nicht berührt; offenbar rührt die Scheu ja die Geringschätzung, womit besonders die Naturphilosophie selbige an die Seite stellt, her, aus einer dunkeln Antipathie gegen diese einseitige atomistische Form, in der die Mathematik von den unmittelbaren Vorältern überliefert worden, – und aus einer gewissen Unfähigkeit die Mathematik auf eine der dynamischen Philosophie angemessene Weise zu organisiren. Bei Kant findet sich zwar nirgends ein ausgesprochenes inneres Bedürfniß mit dynamischen Waffen die Mathematik zu erobern, indeß bestimmt er doch der bisherigen Ansicht entgegen, das Wesen der Mathematik durch ein X, worin die Ahndung zu erkennen ist, daß es eine durchaus dynamische Behandlung der Mathematik gebe, welche indeß durch ihn selbst nicht vollzogen werden mochte. Ich überlasse es dem Leser dieses X, den Begriff der Construction aus meinem Gesichtspuncte zu untersuchen.
Unter allen wissenschaftlichen Partheien, die in Deutschland noch existiren mögen, giebt es nicht weiter eine ähnliche Zwietracht, ein ähnliches gegenseitiges Abstoßen vielmehr (da zwischen ihnen sogar die Möglichkeit einer Berührung oder einer Opposition geläugnet werden muß) als zwischen den Mathematikern und Naturphilosophen: eine sehr erklärliche Erscheinung, da in der gegenwärtigen Lage der Sachen grade die positive, arithmetische Seite der Mathematik der negativen, geometrischen oder dynamischen Seite der Philosophie zugewendet ist. Eben so zeugt das gegenseitige Anziehen der Mathematik und Philosophie bei Leibnitz und Newton, daß die beiden positiven Seiten sowohl der mathematischen als der philosophischen Sphäre, nemlich die arithmetische Philosophie und die atomistische Mathematik damals einander gegenüber liegen mußten. Die atomistische Philosophie, wie sie sich in den Formen aller Wissenschaften in der Mathematik und Physik, in der Moral, in der Logik, in der Grammatik, und – für den, der eine philosophische Grundform in allen Offenbarungen des Zeitgeistes zu erkennen weiß – auch in den Künsten, den Sitten, den Staatsverfassungen, ja in den religiösen Ansichten jener Zeit ausdrückte, <36:> mag durch ihre Einseitigkeit zurückschrecken, dennoch wird in der Vollständigkeit und Gründlichkeit mit der jene Weltsicht überall hindurchdrang, den dynamischen Philosophen unsrer Tage ein ehrwürdiges Beispiel vorleuchten.
Die Kritik, welche die Philosophie ins Unendliche begleiten soll, ist mit Kant wieder ausgestorben, und so behilft sich die dynamische Philosophie, wo sie der Mathematik und der Logik bedarf, immer noch mit den ihr durchaus widersprechenden, alten atomistischen Formen dieser Wissenschaften. Freilich geht es nicht ohne eine gewisse Corruption dieser Formen ab, und daher sind die Begriffe des Negativen, der Potenzen, und der Dimensionen, wie sie von den Naturphilosophen voraus gesetzt werden, durchaus verworren und unbestimmt. Indeß hat bis jetzt auch niemand das Bedürfniß gefühlt, diesem Grundmangel aller dynamischen Theorien mit Klarheit abzuhelfen. Um nun denselben und mit ihm zugleich das Verhältniß der atomistischen und dynamischen Philosophie in gehöriges Licht zu setzen, wollen wir das Wesen der Definitionen, von denen nach einer beliebten Methode alle wissenschaftliche Darstellung ausgehen soll, einer Kritik unterwerfen.
In guten Sprachwörterbüchern pflegt man, wo es angehen will, das zu erklärende Wort auf doppelte Weise zu bestimmen, zuerst, indem man die abgesonderte Natur des bezeichneten Dinges, seine Eigenheiten, die Theile aus denen es besteht, die Zeichen, an denen es erkannt wird, beschreibt, und zweitens, indem man ein andres bekanntes Wesen nennt, welches mit dem zu erklärenden in direkter Opposition steht; indem man z. B. die Hitze durch die Kälte, die Liebe durch den Haß, den Begriff der Männlichkeit durch den der Weiblichkeit erklärt. Auf den ersten Blick sollte man meinen, daß die erste Gattung der Definitionen, wegen allgemeinerer Anwendbarkeit den Vorzug verdiene, und daß die letztere bei unzählig vielen Begriffe, z. B. bei allen absoluten oder geschlechtslosen Wesen unmöglich sei. Indeß hat die Naturphilosophie gezeigt, daß das Wesen der Dinge und ihrer Grundstoffe, wie ihrer Grundzustände vornehmlich dadurch bestimmt wird, daß man sie in eine Opposition zu bringen, oder daß man in ihnen eine dynamische Opposition, eine Polarität u. s. f. wahrzunehmen wisse, und also mit großer Allgemeinheit dargethan, daß die Natur eben sowohl wie ein aus unendlichen Oppositionen sich bildendes Ganzes (Organismus), als wie ein Aggregat unendlich vieler freien, für sich bestehenden Individuen, Eigenheiten und Kräfte betrachtet werden könne. – In der Voraussetzung also, daß es für jeden Begriff einen ihm entgegengesetzten gebe, wollen wir also dreist behaupten, daß jedes mögliche Wesen oder Ding auf doppelte Weise definirt werden könne, 1) als Wesen für sich, und 2) als Wesen das mit einem andern in Opposition steht. Die erste Gattung der Definitionen wollen wir nach der philosophischen Weltansicht, in welcher sie vornehmlich gäng und gäbe war, atomistische, die andre Gattung aber nach der andern Weltansicht, welche, wenn sie consequent gewesen wäre, sie vornehmlich hätte gebrauchen sollen, dynamische Definitionen nennen. Unsre Bezeichnung wird der Erfolg rechtfertigen. <37:>
Wörterbücher sind allgemeine Sammlungen von Definitionen: es ließe sich also von einem solchen philosophischen Wörterbuch auch eine Definition des Begriffes Definition fordern, und diese würde unsrer Aueinandersetzung gemäß auch wieder eine doppelte sein müssen, der Begriff Definition müßte sowohl an und für sich, als auch durch einen andern ihm entgegenstehenden Begriff erläutert werden. So würden wir erhalten 1) die atomistische Definition des Wortes Definition: Gränzbestimmung und Eigenschaftsbeschreibung eines Wesens, in wiefern dieses in Ruhe, Freiheit und Unabhängigkeit gedacht wird; und die dynamische Definition: Definition ist die Erklärung eines Wesens, durch ein andres mit ihm in Bewegung und Opposition gedachtes Wesen, oder Definition ist dasjenige, welches mit einer Antidefinition in Opposition steht. – Das Wort Definition, wenn man es etymologisch betrachtet, kann seinen atomistischen Ursprung nicht verläugnen: Gränzbestimmung, Größenbestimmung, Umfangsbestimmung; da aber ein einzelnes Wesen absolut, an und für sich nicht begränzt werden kann, vielmehr jede Gränze zwei einander begränzende, oder in gewisser Opposition stehende Wesen voraussetzt, so können wir uns für unsren Zweck die alte Bezeichnung sehr wohl gefallen lassen. Es war im Jahre 1803, als mir der Hauptschritt zur Bildung einer dynamischen Logik, deren Bedürfniß ich im Namen der Naturphilosophen gefühlt hatte, gelang: ich stellte nemlich, einem Extrem das andre entgegensetzend, den Satz auf, es gäbe keine andre als die hier beschriebene zweite Gattung der dynamischen Definitionen, und jedes Wesen könne nur durch das ihm entgegengesetzte erklärt werden. Glücklicherweise fiel der philosophische Versuch, worin dieses geschah, mit Hume zu reden, todtgeboren aus der Presse, und es ward mir vergönnt, das falsche Element, welches mein höheres Streben zerstört haben würde, in der Stille und ohne Beschämung zu vernichten. Nichts destoweniger wird die Naturphilosophie, um die erhabene Einseitigkeit ihres Bestrebens vollständig zu erkennen, trotz allem Widerstreben endlich an die Dynamisirung der mathematischen wie der Denk-Formen gehn müssen. Da es ihr alsdann möglich sein wird, die Philosophie auch in Doppelgestalt, in der Opposition zweier großen vollständig durchgeführten Weltansichten zu übersehn, so kann es ihr gelingen, die Philosophie in der Antiphilosophie dynamisch anzuschauen, und dann wieder aus beiden eine höhere atomistische Gestalt und Definition der einen ewigen Philosophie zu erzeugen, und so in schönem, rythmischen Wechsel zwischen dem Einfachen und Mannichfaltigen ohne Ende fort.
Es fällt leicht in die Augen, daß die atomistischen Definitionen, oder Umschreibungen für sich ewig nicht befriedigen können. Wenn man die peinlichen Versuche der Deutschen des vorigen Jahrhunderts betrachtet, die Begriffe der Schönheit, der Wahrheit, der Tugend, des Rechts u. s. w. auf erschöpfende Weise, wie sie sich auszudrücken pflegten, zu definiren, wenn man erwägt, wie jeder Nachfolger von den ängstlich-willkührlichen Bestimmungen seines Vorgängers hinwegnahm und neue hinzufügte, und jeder in dem Wahne stand, das Werk vollendet zu haben, und nun <38:> sieht, wie dieser bloße Wahn der absoluten Vollständigkeit schon für sich über die Einseitigkeit der auf solchen Definitionen erbauten Werke entschieden hatte – so ahndet man billig eine innre Unvollständigkeit in der Definitions- und Behandlungs-Form jener Begriffe. – Jedermann giebt zu, daß es bei unzähligen Begriffen außer diesen umschreibenden Erklärungen, noch die andre Gattung der Erklärung durch Opposition gebe; daß also bei allen diesen wenigstens die bloße Periphrase einseitiges und unvollständiges Resultat geben müsse; dieser Fall tritt insbesondre bei den s. g. abstracten Begriffen, Schönheit, Wahrheit, Tugend, Recht ein, deren Oppositionen, Häßlichkeit, Irrthum, Laster, Unrecht handgreiflich einleuchten: Sollte nun nicht ein kluger Wechselgebrauch jener atomistischen, und dieser dynamischen Definitionen kunstreich fortgesetzt, zu andrer und höherer Erkenntniß des Gegenstandes führen, als der einseitige Gebrauch einer von beiden für sich. Sollte nicht in diesem Verfahren, dafern es nicht mechanisch sondern lebendig verstanden wird, das Geheimniß des philosophischen Lebens liegen? Sollten die unendlichen Reihen, die sich dort entwickeln, nicht dem unendlichen Geiste und seiner Kraft, die wahre Laufbahn eröffnen? Sollte die Philosophie, die Wissenschaft, die Historie des Bewußtseins wirklich verschieden sein von der Kunst diese Reihen zu bilden? – In erschöpfenden Definitionen der Dinge und Begriffe, liegt eben ihre Erschöpfung und ihr Tod. In den Ideen ist das Leben! Wer sagt mir, wer erzählt mir die Geschichte, wie der Begriff zur Idee wird?

Emendation:
zu] su D


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Letzte Aktualisierung 29-Mär-2003
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