1. Vom Wesen der
Definitionen.
Unter mannichfaltigen
Klagen über das Unglück der Zeit, mag sich auch wohl
einmal eine Stimme zu ihrem Lobe vernehmen lassen. Der
Verfasser gegenwärtiger philosophischer Aufsätze möchte
seinen Lesern zuförderst als Philosoph von Profession
erscheinen, und so muß er sich denn als solcher freuen,
daß tausend unnütze Hände, die noch vor kurzem in dieses
würdige Gewerbe pfuschten, zur Ruhe gebracht sind, daß
die Zeit des Modephilosophirens wirklich zu Ende ist,
und nun endlich ein ruhiges, ernsthaftes und unabläßiges
Streben zu Worte kommen kann. Vor allen Dingen lobenswerth
an dieser Zeit ist es, daß der Reiz der Neuheit, dieser
leckerhafte, fieberartige Appetit nach gewissen unverhofften
Erscheinungen in Wissenschaft, Kunst und Leben abgestumpft,
und eine allgemeine Überraschung des Publikums schwerlich
zu bewirken ist. Alles Tüchtige und Große kann diesen
Reiz der Neuheit sowohl, als die allein dafür empfänglichen
Zuschauer sehr gut entbehren: es scheut vielmehr den
allzulebhaften und hinreißenden Beifall, mit dem seine
erste Erscheinung begleitet werden möchte, so wie ein
lebenskluger Mann bei einem ersten Eintritt in eine
Gesellschaft gern alles Geräusch, allen Glanz, ja alle
Erwartungen der Menschen von ihm vermeiden mag, um nur
recht still und natürlich durch sich selbst zu gelten
und zu bedeuten. Die menschliche Kraft versagt am Ende,
wenn es, wie vor einigen Jahren in der Philosophie darauf
ankommt, auf eine piquante Erscheinung eine immer piquantere
zu setzen, aber sie reicht vollkommen dazu hin, ein
großes Geschäft mit Ruhe und Anspruchslosigkeit zu beginnen,
und in jedem Moment der weiteren Ausbildung sich selbst
zu steigern und zu übertreffen. Und wirklich so günstig
ist der gegenwärtige Augenblick, daß endlich nur ein
Wirken in diesem Geiste edle Theilnehmer zu piquiren
und zu gewinnen vermag, und daß jetzt das Allerälteste
allein wahrhaft Neues zu heißen verdient.
Dergestalt
zufrieden mit meiner Zeit trete ich, der Autor, in den
Kreis eines gegen mein Geschäft sehr gleichgültigen,
keinesweges neugierigen oder gespannten Publikums: als
Philosoph von Profession habe ich mich angemeldet, weil
sich zur Zeit eben kein anspruchsloserer Titel auffinden
ließ; unter diesem unschuldigen Zeichen wird man mich
gern leben und sprechen lassen. Am Ende wird man vielleicht
entdecken, daß ich zugleich mehr und zugleich weniger
bin als das doppelsinnige Wort: Philosoph, ausdrückt,
und daß ich ungeachtet der anscheinenden Bescheidenheit,
dennoch mit Stolz und einiger Verwegenheit aufgetreten
bin.
Die
philosophischen Bewegungen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts,
waren nichts anders als Reactionen auf die Bewegungen
am Anfange desselbigen Jahrhunderts. Nennen wir die
von Newton und Leibnitz begründete Philosophie die atomistische,
so ist ihr Verhälniß zu der von Kant und Schelling errichteten
gut bestimmt, wenn wir die letztere die dynamische
nennen. Von allen schönen Unwesentlichkeiten abgesehn,
beruht der Unterschied beider Weltansichten darin, daß
in der atomistischen Philosophie die Natur des Menschen
und der Welt nach Maaß- <35:> gabe einer arithmetischen
Grundanschauung, hingegen in der dynamischen dieselbigen
zufolge einer geometrischen dargestellt worden. Die
atomistische Philosophie gründlich und tüchtig wie die
Zeiten und die Völker, in denen sie gebildet worden,
organisirte die Mathematik nach sich selbst, d. h.
auf atomistische Weise. Man betrachte das erste beste
mathematische Lehrbuch aus der Newton-Leibnitz-Wolfischen
Schule, so wird man finden, daß der Schwerpunkt des
Ganzen auf die Seite der Arithmetik hinfällt. Zuförderst
liebte diese Schule die Mathematik durch das höchst
unvollständige und einseitige Wort Größenlehre
zu bezeichnen; ganz uneingedenk der Begriffe: Stetigkeit,
Ähnlichkeit, kurz Qualität, welches im Gebiete der Geometrie
die eigentlich einheimischen sind, begnügte man sich
damit, alle mathematischen Anschauungen auf den Begriff
der Quantität (Größe) zu beziehen, und demnach ausschließend
die eine große Seite der Mathematik ans Licht
zu stellen, welche mit der atomistischen Philosophie
correspondirte, und ihr in die Hände arbeitete.
Die
dynamische Schule hat bis auf diesen Augenblick die
Mathematik noch nicht berührt; offenbar rührt die Scheu
ja die Geringschätzung, womit besonders die Naturphilosophie
selbige an die Seite stellt, her, aus einer dunkeln
Antipathie gegen diese einseitige atomistische Form,
in der die Mathematik von den unmittelbaren Vorältern
überliefert worden, – und aus einer gewissen Unfähigkeit
die Mathematik auf eine der dynamischen Philosophie
angemessene Weise zu organisiren. Bei Kant findet sich
zwar nirgends ein ausgesprochenes inneres Bedürfniß
mit dynamischen Waffen die Mathematik zu erobern, indeß
bestimmt er doch der bisherigen Ansicht entgegen, das
Wesen der Mathematik durch ein X, worin die Ahndung
zu erkennen ist, daß es eine durchaus dynamische Behandlung
der Mathematik gebe, welche indeß durch ihn selbst nicht
vollzogen werden mochte. Ich überlasse es dem Leser
dieses X, den Begriff der Construction aus meinem
Gesichtspuncte zu untersuchen.
Unter
allen wissenschaftlichen Partheien, die in Deutschland
noch existiren mögen, giebt es nicht weiter eine ähnliche
Zwietracht, ein ähnliches gegenseitiges Abstoßen vielmehr
(da zwischen ihnen sogar die Möglichkeit einer Berührung
oder einer Opposition geläugnet werden muß) als zwischen
den Mathematikern und Naturphilosophen: eine sehr erklärliche
Erscheinung, da in der gegenwärtigen Lage der Sachen
grade die positive, arithmetische Seite der Mathematik
der negativen, geometrischen oder dynamischen Seite
der Philosophie zugewendet ist. Eben so zeugt das gegenseitige
Anziehen der Mathematik und Philosophie bei Leibnitz
und Newton, daß die beiden positiven Seiten sowohl der
mathematischen als der philosophischen Sphäre, nemlich
die arithmetische Philosophie und die atomistische Mathematik
damals einander gegenüber liegen mußten. Die atomistische
Philosophie, wie sie sich in den Formen aller Wissenschaften
in der Mathematik und Physik, in der Moral, in der Logik,
in der Grammatik, und – für den, der eine philosophische
Grundform in allen Offenbarungen des Zeitgeistes zu
erkennen weiß – auch in den Künsten, den Sitten,
den Staatsverfassungen, ja in den religiösen Ansichten
jener Zeit ausdrückte, <36:> mag durch ihre Einseitigkeit
zurückschrecken, dennoch wird in der Vollständigkeit
und Gründlichkeit mit der jene Weltsicht überall hindurchdrang,
den dynamischen Philosophen unsrer Tage ein ehrwürdiges
Beispiel vorleuchten.
Die
Kritik, welche die Philosophie ins Unendliche begleiten
soll, ist mit Kant wieder ausgestorben, und so behilft
sich die dynamische Philosophie, wo sie der Mathematik
und der Logik bedarf, immer noch mit den ihr durchaus
widersprechenden, alten atomistischen Formen dieser
Wissenschaften. Freilich geht es nicht ohne eine gewisse
Corruption dieser Formen ab, und daher sind die Begriffe
des Negativen, der Potenzen, und der Dimensionen, wie
sie von den Naturphilosophen voraus gesetzt werden,
durchaus verworren und unbestimmt. Indeß hat bis jetzt
auch niemand das Bedürfniß gefühlt, diesem Grundmangel
aller dynamischen Theorien mit Klarheit abzuhelfen.
Um nun denselben und mit ihm zugleich das Verhältniß
der atomistischen und dynamischen Philosophie in gehöriges
Licht zu setzen, wollen wir das Wesen der Definitionen,
von denen nach einer beliebten Methode alle wissenschaftliche
Darstellung ausgehen soll, einer Kritik unterwerfen.
In
guten Sprachwörterbüchern pflegt man, wo es angehen
will, das zu erklärende Wort auf doppelte Weise zu bestimmen,
zuerst, indem man die abgesonderte Natur des
bezeichneten Dinges, seine Eigenheiten, die Theile aus
denen es besteht, die Zeichen, an denen es erkannt wird,
beschreibt, und zweitens, indem man ein andres
bekanntes Wesen nennt, welches mit dem zu
erklärenden in direkter Opposition steht; indem man
z. B. die Hitze durch die Kälte, die Liebe durch
den Haß, den Begriff der Männlichkeit durch den der
Weiblichkeit erklärt. Auf den ersten Blick sollte man
meinen, daß die erste Gattung der Definitionen, wegen
allgemeinerer Anwendbarkeit den Vorzug verdiene, und
daß die letztere bei unzählig vielen Begriffe, z. B.
bei allen absoluten oder geschlechtslosen Wesen unmöglich
sei. Indeß hat die Naturphilosophie gezeigt, daß das
Wesen der Dinge und ihrer Grundstoffe, wie ihrer Grundzustände
vornehmlich dadurch bestimmt wird, daß man sie in eine
Opposition zu bringen, oder daß man in ihnen eine dynamische
Opposition, eine Polarität u. s. f. wahrzunehmen
wisse, und also mit großer Allgemeinheit dargethan,
daß die Natur eben sowohl wie ein aus unendlichen Oppositionen
sich bildendes Ganzes (Organismus), als wie ein Aggregat
unendlich vieler freien, für sich bestehenden Individuen,
Eigenheiten und Kräfte betrachtet werden könne. –
In der Voraussetzung also, daß es für jeden Begriff
einen ihm entgegengesetzten gebe, wollen wir also dreist
behaupten, daß jedes mögliche Wesen oder Ding auf doppelte
Weise definirt werden könne, 1) als Wesen für sich,
und 2) als Wesen das mit einem andern in Opposition
steht. Die erste Gattung der Definitionen wollen wir
nach der philosophischen Weltansicht, in welcher sie
vornehmlich gäng und gäbe war, atomistische,
die andre Gattung aber nach der andern Weltansicht,
welche, wenn sie consequent gewesen wäre, sie vornehmlich
hätte gebrauchen sollen, dynamische Definitionen
nennen. Unsre Bezeichnung wird der Erfolg rechtfertigen.
<37:>
Wörterbücher
sind allgemeine Sammlungen von Definitionen: es ließe
sich also von einem solchen philosophischen Wörterbuch
auch eine Definition des Begriffes Definition
fordern, und diese würde unsrer Aueinandersetzung gemäß
auch wieder eine doppelte sein müssen, der Begriff Definition
müßte sowohl an und für sich, als auch durch einen andern
ihm entgegenstehenden Begriff erläutert werden. So würden
wir erhalten 1) die atomistische Definition des
Wortes Definition: Gränzbestimmung und Eigenschaftsbeschreibung
eines Wesens, in wiefern dieses in Ruhe, Freiheit und
Unabhängigkeit gedacht wird; und die dynamische
Definition: Definition ist die Erklärung eines Wesens,
durch ein andres mit ihm in Bewegung und Opposition
gedachtes Wesen, oder Definition ist dasjenige, welches
mit einer Antidefinition in Opposition steht. –
Das Wort Definition, wenn man es etymologisch betrachtet,
kann seinen atomistischen Ursprung nicht verläugnen:
Gränzbestimmung, Größenbestimmung, Umfangsbestimmung;
da aber ein einzelnes Wesen absolut, an und für sich
nicht begränzt werden kann, vielmehr jede Gränze zwei
einander begränzende, oder in gewisser Opposition stehende
Wesen voraussetzt, so können wir uns für unsren Zweck
die alte Bezeichnung sehr wohl gefallen lassen. Es war
im Jahre 1803, als mir der Hauptschritt zur Bildung
einer dynamischen Logik, deren Bedürfniß ich im Namen
der Naturphilosophen gefühlt hatte, gelang: ich stellte
nemlich, einem Extrem das andre entgegensetzend, den
Satz auf, es gäbe keine andre als die hier beschriebene
zweite Gattung der dynamischen Definitionen, und jedes
Wesen könne nur durch das ihm entgegengesetzte
erklärt werden. Glücklicherweise fiel der philosophische
Versuch, worin dieses geschah, mit Hume zu reden, todtgeboren
aus der Presse, und es ward mir vergönnt, das falsche
Element, welches mein höheres Streben zerstört haben
würde, in der Stille und ohne Beschämung zu vernichten.
Nichts destoweniger wird die Naturphilosophie, um die
erhabene Einseitigkeit ihres Bestrebens vollständig
zu erkennen, trotz allem Widerstreben endlich an die
Dynamisirung der mathematischen wie der Denk-Formen
gehn müssen. Da es ihr alsdann möglich sein wird, die
Philosophie auch in Doppelgestalt, in der Opposition
zweier großen vollständig durchgeführten Weltansichten
zu übersehn, so kann es ihr gelingen, die Philosophie
in der Antiphilosophie dynamisch anzuschauen, und dann
wieder aus beiden eine höhere atomistische Gestalt und
Definition der einen ewigen Philosophie zu erzeugen,
und so in schönem, rythmischen Wechsel zwischen dem
Einfachen und Mannichfaltigen ohne Ende fort.
Es
fällt leicht in die Augen, daß die atomistischen Definitionen,
oder Umschreibungen für sich ewig nicht befriedigen
können. Wenn man die peinlichen Versuche der Deutschen
des vorigen Jahrhunderts betrachtet, die Begriffe der
Schönheit, der Wahrheit, der Tugend, des Rechts u. s. w.
auf erschöpfende Weise, wie sie sich auszudrücken pflegten,
zu definiren, wenn man erwägt, wie jeder Nachfolger
von den ängstlich-willkührlichen Bestimmungen seines
Vorgängers hinwegnahm und neue hinzufügte, und jeder
in dem Wahne stand, das Werk vollendet zu haben, und
nun <38:> sieht, wie dieser bloße Wahn der absoluten
Vollständigkeit schon für sich über die Einseitigkeit
der auf solchen Definitionen erbauten Werke entschieden
hatte – so ahndet man billig eine innre Unvollständigkeit
in der Definitions- und Behandlungs-Form jener Begriffe. –
Jedermann giebt zu, daß es bei unzähligen Begriffen
außer diesen umschreibenden Erklärungen, noch die andre
Gattung der Erklärung durch Opposition gebe; daß also
bei allen diesen wenigstens die bloße Periphrase einseitiges
und unvollständiges Resultat geben müsse; dieser Fall
tritt insbesondre bei den s. g. abstracten Begriffen,
Schönheit, Wahrheit, Tugend, Recht ein, deren Oppositionen,
Häßlichkeit, Irrthum, Laster, Unrecht handgreiflich
einleuchten: Sollte nun nicht ein kluger Wechselgebrauch
jener atomistischen, und dieser dynamischen Definitionen
kunstreich fortgesetzt, zu andrer und höherer Erkenntniß
des Gegenstandes führen, als der einseitige Gebrauch
einer von beiden für sich. Sollte nicht in diesem Verfahren,
dafern es nicht mechanisch sondern lebendig verstanden
wird, das Geheimniß des philosophischen Lebens liegen?
Sollten die unendlichen Reihen, die sich dort entwickeln,
nicht dem unendlichen Geiste und seiner Kraft, die wahre
Laufbahn eröffnen? Sollte die Philosophie, die Wissenschaft,
die Historie des Bewußtseins wirklich verschieden sein
von der Kunst diese Reihen zu bilden? – In erschöpfenden
Definitionen der Dinge und Begriffe, liegt eben ihre
Erschöpfung und ihr Tod. In den Ideen ist das Leben!
Wer sagt mir, wer erzählt mir die Geschichte, wie der
Begriff zur Idee wird?
Emendation:
zu]
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