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Morgenblatt für gebildete Stände (Tübingen), 3. 6. 1807, Nr. 132, 526

„Amphitryon“, „Die Familie Schroffenstein“

Heinrich von Kleist’s Amphitryon, ein Lustspiel nach Moliere. Herausgegeben vonAdam Müller. Dresden.Arnold, 1807. VII. et 184 S. 8.
Mit innigem Vergnügen erwähnen wir dieses Lustspiels, das würdig ist, aller Augen auf sich zu ziehen, und unter den Kunstschöpfungen der neuesten Zeit nächstOehlenschlägers Aladdin den leserlichen Schriftzug ächter Genialität an der Stirn trägt.
Willkommen sey, wer einen solchen Freyheitsbrief, eine solche magna charta aus den Händen seiner geliebten Mutter Natur empfangen, willkommen, werso den göttlichen Beruf des Dichters beurkunden kann. Denn dies ist wohl die wahre Genialität oder Schöpferkraft, die Leben aus dem Steine rufen, die dem abgestorbenen Leibe der Fabel eine gottähnliche Seele einblasen kann: die zwischen dem Zuviel und Zuwenig hindurch mit kühner und sicherer Hand die zarte, leichtverletzliche Linie der Schönheit richtig zu ziehen weis: und dies ist geschehen. Die bekannte Fabel, die in des Plautus Behandlung schon eine leise Spur von Geringschätzung gegen die Götter verräth, die in ungeweihtem Munde so leicht obszön werden kann, die unter Moliere’s Händen, des komischen Reichthums ungeachtet, zu einer ächt nationellen Hahnreyschaft geworden, ist vonKleist mit solcher Keuschheit und Heiligkeit wieder gebohren, daß uns bis auf den heutigen Tag kein Werk bekannt ist, in welchem eine vielsinnige Mythe der Griechen auf so überaschende, übermenschliche und edle Weise gedeutet worden: ja, der Sinn ist bey seiner herrlichen Tiefe so rein, daß man selbst die schönste und geheimnißreichste Mythe der christlichen Religion ohne allen Zwang darinnen finden mag. Es ist eine Ansicht, deren außer dem Griechen nur der Deutsche fähig ist, die dem Römer fremd bleiben mußte, und zu deren Ahndung der Franzos sich nie erheben wird. Hieraus wird sich ergeben, wiefern esnach Moliere sey, und es ist in der That wohl gethan, diesesnach lediglich von der Zeit zu verstehen. Denn sind auch die Personen beybehalten, der Gang des Ganzen im Äußern so ziemlich gleich entwickelt, und komische Züge aufgenommen worden, so hat doch der Dichter nichts verwandelt oder hinzugesetzt, was nicht verschönte und veredelte, und in der Umbildung ist der Witz so ächt kerndeutsch, der Scherz so zart und vielsinnig, ist im Ernsten, wie im Komischen , alles Französische so ins Deutsche verklärt worden, daß eine vergleichende LectüreKleist’s und Moliere’s zugleich den richtigsten Maßstab für den poetischen Gehalt beyder Nationen abgibt.
Hier ist freylich kein ionischer, noch äolischer Dialekt, keine seltsam zusammengeleimten Worte, kein antikisches Sylbenmaß, ja der verwünschte Dichter hat sogar höchst moderne Gedanken hineingewebt: aber demungeachtet ist es antik im edelsten Sinne; denn eine ungezwungene Sprache (der wir im Einzelnen noch eine schärfere Feile wünschten), ein gesunder, natürlicher Wohllaut, freyer Wechsel des Dialogs, und ein weises Maß in allen Dingen, vor allem aberGenie, sind zwar nicht derForm, aber demWesen nach, höchst antik, und besonders ist es der tiefste Grundton des Ganzen in so eigenthümlichem Grade, daß man unmöglich noch nach Winkelmaß und Hammer der Schule greifen kann, um einige seiner gesunden Glieder einzuzwängen und zu behämmern.
Ein früheres Drama von Kleist, die Familie Schroffenstein, ist uns nicht mehr gegenwärtig genug, um die höhere Vollendung des Dichters durch die Vergleichung beyder zu zeigen: zudem soll es von unberufenen Herausgebern, wo nicht seiner besten Reitze beraubt, doch so ausstaffirt worden seyn, daß von der ursprünglichen Gestalt wenig oder nichts zu erkennen ist: desto herzlicher freuen wir uns, daß bey so ungünstigen Umständen, in welchen der Dichter lebt, dies sein schönes Werk einen würdigern und gewißenhaftern Herausgeber gefunden hat, der gewiß nichts verabsäumen wird, was auf die Erscheinung der übrigen Dramen von Kleist Einfluß haben kann. –

H. K. D.

Cf. >> Archives littéraires de l’Europe, ou Mélanges de Littérature, d’Histoire et de Philosophie, Gazette littéraire (Paris, Tübingen), Juillet 1807, 8-13: Allemagne (S. 10-13: Annonces; 107 Zeilen);   (a:) 11 (Z. 36-52); (b:) 12 (Z. 85-91) (Antiqua)
>> Journal de Paris, 7. 8. 1807, Nr. 219, 1546: Nouvelles des sciences, des lettres et des arts. (53 Zeilen; Antiqua); darin: (bis Z. 26)

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