Der Freimüthige oder
Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser (Berlin), 4. 3. 1803, Nr. 36, 141f.\1\
Die Familie Schroffenstein Erscheinung
eines neuen Dichters.
Eine gute Kunde hat der Freimüthige heute einem jeden zu geben, der die
jetzigen Konjunkturen der Deutschen Litteratur beherzigt die Erscheinung eines
neuen Dichters hat er zu melden, eines unbekannten und ungenannten, aber wirklich
eines Dichters!
Ich nahm die Familie Schroffenstein, ein Trauerspiel in
fünf Aufzügen, mit allen den traurigen Erwartungen in die Hand, zu denen man bei einem
Ritterschauspiel als ein solches kündigt es das Verzeichnis der Personen gleich an
in der Regel berechtigt seyn mag. Ich las einen Bogen, den zweiten, den dritten,
ohne recht zu wissen, woran ich war. Hatten Shakespear, Göthe, Schiller, hier
wieder einmal Unheil angerichtet? war es eine unberufene Nachahmung, mit etwas eigener
Verkehrtheit, und mit den Schellen der neuen ästhetischen Schule ausgestattet? Nun, man
muß doch sehen, dachte ich, und las weiter. Und siehe, es entfaltete sich, zu meinem
immer steigenden Erstaunen, aus einer harten, ungleichen Sprache, aus unbestimmten,
dunkeln Andeutungen, aus manchen Elementen zu einem grundschlechten Stück, eine
stattliche poetische Welt vor mir, die mir die begeisterte Hoffnung zurückließ, daß
endlich doch wieder ein rüstiger Kämpfer um den poetischen Lorbeer aufstehe, wie ihn
unser Parnaß gerade jetzt so sehr braucht.
In dieser kurzen und treuen Erzählung ist das Meiste begriffen, was
an diesem Orte, und innerhalb der Grenzen dieses Blattes, von der Familie
Schroffenstein gesagt werden kann. Zuverlässig wird kein Freund der Kunst
unvorbereitet auf dieses merkwürdige Produkt stoßen, ohne die nehmlichen Empfindungen zu
erfahren, die ich eben beschrieben habe. Das Treffliche Göthens
und Schillers hat wirklich dieses Genie genährt; ja, so wenig der seltsame
Stoff, den der Verfasser hier gewählt hat, und die vielen Lücken der Bearbeitung, eine
Vergleichung dieses Dramas mit den Meisterstücken jener Dichter zulassen, so ist es
doch sehr die Frage, ob die Details in Göthens und Schillers
dramatischen Werken von eben dem wahrhaft shakespearischen Geiste zeugen, wie
manche Details des Ausdrucks und der Darstellung in dieser Familie Schroffenstein.
In den Liebesscenen besonders ist es nicht Nachahmung, sondern eigenthümliche,
naiv-erhabene Grazie, was an die erotischen Partieen im Sturm und in Romeo
und Julie erinnert. Der Gedanke der letzten Scene zwischen Ottokar
und Agnes ist von einer genialischen Kühnheit, die das ganze Stück
allerdings von der Bühne ausschließt, und die allen den Kunstrichtern, welche ein
dreifaches, moralisch-kritisches Erz gegen den Zauber der Poesie waffnet, einen scharfen
Tadel sehr leicht machen kann; aber welche Wärme, welche Zartheit in der Ausführung,
welche tragische Poesie in der wollüstig-schauderhaften Situation!
Dieses Stück ist eine Wiege des Genies, über der ich mit Zuversicht
der schönen Litteratur unsers Vaterlandes einen sehr bedeutenden Zuwachs weissage. Der
Verfasser mag vielleicht zu den außerordentlichen Geistern gehören, deren Entwickelung
bis zur Reife selten ohne einige Bizarrerieen und Unarten abläuft. Doch eben, weil er zu
diesen gehört, ist unmöglich zu besorgen, daß es der leidigen Sekte, die durch ihre
Proselytenmacherei die Blüthe unsrer Jugend zu vergiften droht, je gelingen werde, ihn an
sich zu ziehen. Er muß, um seine Bestimmung zu erfüllen, einst etwas viel Besseres
machen, als seine Familie Schroffenstein; unmöglich aber hätte er auch diese
hervorbringen können, wenn ein gerechtes Selbstgefühl ihn nicht jetzt schon vor der
Schule schützte, in welcher ein Alarcos
ausgebrütet wurde.
Bei manchen Dunkelheiten der Manier des Dichters ist der höchst
inkorrekte Druck doppelt unangenehm.
Da dieses Stück in keiner Deutschen Buchhandlung \1\ herausgekommen ist, so könnte es vielleicht erst spät, und
überhaupt weniger, als zu wünschen wäre, in Cirkulation kommen; überdem hat die
Erscheinung einen solchen Werth, daß der Freimüthige es nicht darauf wagen
soll, ob das Publikum sie sich auf sein bloßes Wort empfohlen seyn lasse. Es mögen also
ein Paar Proben den Kennern sein Urtheil bewähren:
1.
Freilich mag
Wohl mancher sinken, weil er stark ist. Denn
Die kranke abgestorbne Eiche steht
Dem Sturm; doch die gesunde stürzt er nieder,
Weil er in ihre Krone greifen kann.
Nicht jeden Schlag ertragen soll der Mensch,
Und welchen Gott faßt, denk ich, der darf sinken
Auch seufzen! Denn der Gleichmuth ist die Tugend
Nur der Athleten. Wir, wir Menschen fallen
Ja nicht für Geld, auch nicht zur Schau doch sollen
Wir stets des Anschauns würdig aufstehn.
2.
(Gegend im Gebirge. Im Vordergrunde eine Höhle. Agnes sitzt an der Erde, und
knüpft Kränze. Ottokar tritt auf, und betrachtet sie mit Wehmuth. Dann
wendet er sich mit einer schmerzvollen Bewegung, während welcher Agnes ihn
wahrnimmt, welche indeß zu knüpfen fortfährt, als hätte sie ihn nicht gesehen.)
Agnes.
s ist doch ein häßliches Geschäft, belauschen;
Und weil ein rein Gemüth es stets verschmäht,
So wird nur dieses grade stets belauscht.
Dann ist das Schlimmste noch, daß es den Lauscher,
Statt ihn zu strafen, lohnt. Denn statt des Bösen,
Das er verdiente zu entdecken, findet
Er wohl sogar ein still Bemühen noch
Für sein Bedürfniß oder seine Laune.
Da ist zum Beispiel heimlich jetzt ein Jüngling
Wie heißt er doch? Ich kenn ihn wohl. Sein Antlitz
Gleicht einem milden Morgen-Ungewitter,
Sein Aug dem Wetterleuchten auf den Höhn,
Sein Haar den Wolken, welche Blitze bergen,
Sein Nahen ist ein Wehen aus der Ferne,
Sein Reden, wie ein Strömen von den Bergen,
Und sein Umarmen Aber still! Was wollt
Ich schon? Ja, dieser Jüngling, wollt ich sagen,
Ist heimlich nun herangeschlichen, plötzlich,
Unangekündigt, wie die Sommersonne,
Will sie ein nächtlich Liebesfest belauschen.
Nun wär mirs recht, er hätte, was er sucht,
Bei mir gefunden, und die Eifersucht,
Der Liebe Jugendstachel, hätte, selbst
Sich stumpfend, ihn hinausgejagt ins Feld,
Gleich einem jungen Rosse, das zuletzt
Doch heimkehrt in den Stall, der es ernährt.
Statt dessen ist kein andrer Nebenbuhler
Jetzt gerade um mich, als sein Geist. Und der
Singt mir sein Lied zur Zither vor, wofür
Ich diesen Kranz ihm winde. (Sie sieht sich um.) Fehlt dir was?
Ottokar.
Jetzt nichts.
Agnes.
So setz dich nieder,
daß ich sehe,
Wie dir der Kranz steht. Ist er hübsch?
Ottokar.
Recht hübsch.
Agnes.
Wahrhaftig? Sieh einmal die Finger an.
Ottokar.
Sie bluten.
Agnes.
Das bekam ich, als ich aus
den Dornen
Die Blumen pflückte.
Ottokar.
Armes Kind!
Agnes.
Ein Weib
Scheut keine Mühe. Stundenlang hab ich
Gesonnen, wie ein jedes einzeln Blümchen
Zu stellen, wie das unscheinbarste selbst
Zu nutzen sey, damit Gestalt und Farbe
Des Ganzen eine Wirkung thue. Nun,
Der Kranz ist ein vollendet Weib. Da, nimm
Ihn hin. Sprich: er gefällt mir so ist er
Bezahlt, u. s. w.
b
\1\ Bern und Zürich, bei H. Geßner.
\1\ Verfasser des Artikels
ist Ludwig Ferdinand Huber; Text auch in: ders., Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802,
Zweiter Theil (Tübingen 1810), 209-216. Vgl. ferner den anonymen Bericht einer
Aufführung der Familie Schroffenstein im Königlichen Theater Berlin, in:
Berlinische Nachrichten von Staat- und gelehrten Sachen (Spenersche Zeitung), 15. 10.
1824, Nr. 243
Cf. >> Allgemeine Zeitung (Ulm), 13. 6. 1804, Nr. 165, 660
Alarcos Trauerspiel in zwei Aufzügen
v. Friedrich Schlegel; Uraufführung am 29. 5. 1802 in Weimar
|