Berlinische Nachrichten
von Staats- und gelehrten Sachen (Spenersche Zeitung), 15.
10. 1824, Nr. 243, unpag.
Ludwig Ferdinand Hubers Rezension der Familie
Schroffenstein; Franz v. Holbeins Bearbeitung
Königliches
Theater.
Die Familie von
Schroffenstein, romantisches Gemälde der Vorzeit in fünf
Abtheilungen von Heinrich von Kleist, für die Bühne bearbeitet
von H. von Holbein. So hat der Bearbeiter das Stück benannt,
nicht so der Verfas- </> ser selbst. Auf dem Titelblatte
des schon im Jahre 1803 im Druck erschienenen Originals heißt es ein Trauerspiel.
Es ist erlaubt dies zu rügen, obgleich der Bearbeiter durch
den veränderten Schluß den traurigen Ausgang aufgehoben hat.
Als wenn die Tragödie nur eine Tragödie wäre, weil sie tragisch
schließt. Aber hauptsächlich soll diese Titelveränderung
deshalb gerügt werden, um gleich anfangs im Kleinen einen
Beweis beizubringen, wie willkührlich der Bearbeiter mit dem
Stück umgegangen ist; hat er selbst des Titels nicht verschont,
was darf man für den Inhalt fürchten? Zwar hätte er mit der
Abänderung des Titels eben nicht gesündigt, wenn das Werk
in seiner Bearbeitung, das was es allerdings ist, ein romantisches
Gemälde der Vorzeit (bestimmter wäre das Wort Mittelalter
gewesen) geblieben wäre. Aber er hat die Zeichnung, er hat
die Composition in ihrem eigensten Zusammenhang, in den zartesten
Verbindungslinien und Punkten, er hat auch die Farben und
die Gestalten verändert. Was vor vierzig Jahren nach dem Namen
eines damaligen Bearbeiters der ersten Schillerschen und anderer
dramatischen Productionen, der auch ganze Stücke herausschnitt
und dafür seine Lappen hineinflickte, verplümiken
genannt wurde, das darf mit Fug nach dem Namen des sein Muster
bei weitem übertreffenden gegenwärtigen Bearbeiters geistvoller
Dichterwerke verhollbeinen genannt werden. Macht
das Wort die Sache nicht deutlich, so diene darauf zur Antwort,
daß die Sache keine Verdeutlichung verdient, doch soll der
Wille der Bearbeitung nicht mit der Bearbeitung
selbst verdammt werden. Refer. bekennt vielmehr, daß im allgemeinen
unsre deutschen Bühnen auf viel Großes und Gutes Verzicht
leisten müßten, wenn sie eine unüberwindliche Scheu vor allen
Bearbeitungen hätten. Ja wenn das Publikum aus lauter Kennern
des Schönen bestände, und wenn alle nur um Kunstgenuß
zu haben, das Theater besuchten. Das Theater ist auch als
eine Art Erziehung für die Menge zu betrachten; man
muß hier und da nachgeben, und wenn man auch just nicht mit
allen Moden und Capricen des Geschmacks capitulieren soll
(das hieße der Verderbniß die Hand bieten) so ist es doch
recht und gut, auf die Verschiedenheit der Fähigkeiten und
der Bildungsstufen Rücksicht zu nehmen, und nicht blos der
Kunstbeflissenheit derer, denen sie Lebensgeschäft ist, sondern
auch dem freundlich und bildsam geneigten Dilettantismus entgegenzukommen
und vielleicht belebendere Anerkennung von dem gebildeten,
aber nicht wissenschaftlich strenge urteilenden, geistige
Erhohlung suchenden Geschäftsmann, als dem Künstler
und Gelehrten im eigentlichen Sinne zu erwarten. Hier
ist es, wo der schon vorhandene und selbst von August Wilhelm
Schlegel, seinen früheren Protestationen entgegen, als gültig
aufgenommene Unterschied zwischen dramatischen und theatralischen
Productionen durch die That sich bewähren muß; und
wenn man nicht an Kleinigkeiten mäkelt, haben wir deren schon
treffliche Exemplare durch die Goetheschen Bearbeitungen der
Shakspearschen Tragödien Romeo und Julie und König Johann.
Niemals hat aber Refer. die engen Schranken,
unter denen er sich über Geisteswerke mittheilen soll, unangenehmer
empfunden, als im gegenwärtigen Fall, wo er das erste
dramatische Erzeugniß der Dichterkraft eines so eigen
organisirten Kopfs, wie Heinrich von Kleist war, anzuzeigen
hat. Indeß bedarf es der ausführlichen Würdigung nicht; das
Drama ist seit länger als zwanzig Jahren gedruckt und dadurch
die Gelegenheit gegeben jedem, der Sinn und Liebe zur Sache
genug besitzt, den originellen Kopf, der später so manches
geistreiche Werk erzeugt, in der ersten dramatischen
Gestaltung seiner Ideen aufzufassen und dadurch alle spätere
</> zu begreifen. Aber bemerkenswerth
ist es und die unverdächtigste Anerkennung der poetischen
Kraft, die in dem Frühvollendeten wohnte, daß ein zwar trefflicher,
aber ganz anders organisirter, auf ganz anderm Wege,
durch klassische und selbst durch französische Muster
gebildeter, so recht eigentlicher klarer Kopf, daß
der unvergeßliche Huber von der Familie Schroffenstein
so lebhaft angeregt wurde, daß er sich beeilte, der litterarischen
Welt die Geburt eines neuen Dichters, dessen Name damals ganz
unbekannt war, zu verkünden. Refer. erinnert sich genau, die
kritische Anzeige Hubers in dem
ersten Jahrgang des Freimüthigen vom Jahre 1803 mit heftiger
Erweckung des Verlangens nach dem Werk und dem Namen des Dichters
gelesen zu haben und bald angenehm überrascht zu sein, daß
ein junger von ihm persönlich gekannter Officier (Heinrich
von Kleist war bis zum Jahr 1801 Lieutenant bei der Garde
zu Potsdam) der Verfasser sei. Leider war seine Mühe vergebens,
den Jahrgang des Freimüthigen vom Jahre 1803 zu erhalten und
jene Hubersche Kritik wieder zu lesen. Genug,
der Gegenstand des vorliegenden dramatischen Gedichts, ein
alter Familienhaß, ist von der jugendlichen Phantasie
des Dichters in die ganze Eigenthümlichkeit seines nicht durch
herkömmliche Kunstregeln geengten, aber auch nicht durch klassische Muster geregelten, und
wenn nicht ganz unmittelbar durch die Natur, höchstens durch
Shakespear befruchteten Geistes aufgenommen und gestaltet
worden; bewußtlos, dürfte man sagen, ohne damit dem
Dichter zu nahe zu treten, denn in der Kunst wird nicht alles
mit Bewußtsein ausgerichtet und gerade das unabhängigste
Leben wird dem Produkt von der unbewußten Thätigkeit mitgetheilt.
Einem Erzeugniß dieser Art kann es dann freilich in
dem Angesicht des sogenannten guten Geschmacks an Schlacken
und Unschicklichkeiten nicht fehlen; hätte Heinrich von Kleist
diesem gefällig sein wollen, so hätte er aufhören müssen zu
sein, der, der er war. Leider hat er zu früh aufgehört um
von der eignen Reife seines Geistes sein Urtheil und
seine Richtung zum Gediegenen und Bleibenden
in der Kunst zu empfangen. Aber seine Dichterkraft im heiligsten
Sinn wird nie verkannt, und auch in diesem seinem ersten dramatischen
Erzeugniß der Geist erkannt werden, der in der sichtbaren
Welt sich eine unsichtbare schuf, und den tiefen Ernst des
Lebens und der Weltgeschichte in dem Microcosmus seiner Ideen
zu offenbaren wußte. Ueber die mimische Darstellung
nur zwey Worte, denn zerstückt wie das Dichtwerk, kann es
auch nur Stücke dem mimischen Talente bieten, und an
die Stücke wendeten auch fast alle der mit der Repräsentation
beschäftigten Schauspieler nach Vermögen ihr Bestes; doch
schien Herr Lemm und Frau v. Holtei von der Ahnung eines höhern
Sinnes des Ganzen vor den andern angehaucht zu seyn.
Mlle. Brandes gab die Bärbel in der Scene am Kessel höchst
lebendig und drollig.
erschienenen] erschienen J
kritische Anzeige Hubers
>> Der Freimüthige oder Berlinische Zeitung
für gebildete, unbefangene Leser (Berlin), 4. 3. 1803, Nr.
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