Theophil
Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke.
Erster Teil. Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart:
Spemann [1885]) (Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, XXIII-XXVII
Pariser Reise
In dieser schweren Zeit, wo der Zweifel an der Natur des Bestehenden auch das in ihm
Entstehende bedrohte, schmiedet er einen neuen Plan um den andern. Ein freies
Künstlerleben, recht ferne von seiner drückenden Umgebung, erscheint ihm jetzt als
Ideal. Im November schreibt er an seine Braut, ob sie nicht vielleicht in der Fremde, etwa
in Südfrankreich, in der durch Rousseau geweihten französischen Schweiz, in dem
schönsten Erdstriche von Zürich, ein bescheidenes Glück mit einander aufsuchen wollten.
Wenn ihr beiderseitiges Vermögen nicht ausreichte, sie zu ernähren, so könnte er durch
Unterricht in der deutschen Sprache den nötigen Zuschuß erwerben; und für die Folge,
bei einiger Geduld, sollte es an Verbesserung ihrer Lage nicht fehlen. Ich bilde mir
ein, daß ich Fähigkeiten habe, seltene Fähigkeiten, meine ich.
Ich glaube es, weil mir keine Wissenschaft zu schwer wird, weil ich rasch darin vorrücke,
weil ich so Manches schon aus eigener Erfindung hinzugethan habe
und am Ende glaube ich es auch darum, weil alle Leute es mir sagen
Da
stände mir nun für die Zukunft das ganze schriftstellerische Fach
offen
Da ist die Aussicht auf Erwerb äußerst vielseitig. Ich könnte
nach Paris gehn und die neueste Philosophie in dieses neugierige Land verpflanzen.
Schließlich verrät er auch, warum die Fremde ihn lockt. Erstlich, weil es
mir in dieser Entfernung leicht werden würde, ganz nach meiner Meinung zu leben, ohne
die Rathschläge guter Freunde zu hören, die mich, und was ich eigentlich begehre, ganz
und gar nicht verstehn; zweitens weil ich so ein paar Jahre lang ganz unbekannt leben
könnte und ganz vergessen werden würde, welches ich recht eigentlich wünsche. Er
möchte sich aller Fesseln entledigen und liebt es, sich nicht ohne Absicht schlechtweg
Heinrich Kleist zu schreiben. Weg mit allen Vorurtheilen, weg mit dem
Adel, weg mit dem Stande, ruft er aus. Ich bin sehr fest entschlossen, den
ganzen Adel von mir abzuwerfen. Viele Männer haben geringfügig angefangen und königlich
ihre Laufbahn beschlossen. Shakespeare war ein Pferdejunge und jetzt ist er die
Bewunderung der Nachwelt. Und nun kommt sein altes Ceterum censeo:
Liebe Wilhelmine, laß mich reisen
Die Bewegung auf der
Reise wird mir zuträglicher sein, als dieses Brüten auf einem Fleck
Sobald
ich einen Gedanken ersonnen habe, der mich tröstet, sobald ich einen Zweck gefaßt habe,
nach dem ich wieder streben kann, so kehre ich um, ich schwöre es Dir
Im
Freien werde ich freier denken können
Auch werde ich mich unter Fremden
wohler befinden, als unter Einheimischen, die mich für verrückt halten, wenn ich es
wage, <XXIV:> mein Innerstes zu zeigen. Inzwischen hatte sich sein
Reiseplan krystallisiert. Es sollte ein großer Spaziergang durch Deutschland,
die Schweiz und einen Theil von Frankreich sein; vor Weihnachten gedachte er
jedenfalls zurückzukehren. Er wünschte auch keinen Begleiter auf dieser Reise. Aber er
hatte einst seiner Schwester versprochen, das Vaterland nicht zu verlassen, ohne sie
mitzunehmen. Noch hoffte er, die Hast seines Entschlusses und die Kosten des
abenteuerlichen Unternehmens würden sie von der Teilnahme zurückhalten. Allein die
excentrische Schwester war nicht abzuschrecken, und nun brauchte er Pässe, mußte als
Reisezweck beim Minister des Auswärtigen wissenschaftliche Studien angeben,
denen er gerade hatte entrinnen wollen, bekam Aufträge und Empfehlungen mit auf den Weg,
und die Lust an der Reise war ihm verdorben, ehe er sie antrat. Soll ich nun,
schreibt er in seiner Bestürzung an die Braut, soll ich nun zurückkehren über den
Rhein, so wie ich hinüberging? Habe ich nicht selbst die Erwartung der Menschen gereizt?
Werde ich nicht in Paris im Ernste etwas lernen müssen? Der ganze Plan erschien ihm
nun als eine Übereilung, und die Art, wie er sich ihm unter den Händen verwandelt hatte,
verstörte ihn. Wir dünken uns frei, ruft er aus, und der Zufall führt
uns allgewaltig an tausend feingesponnenen Fäden mit sich fort
Mir ist dieses
gewaltsame Fortziehen der Verhältnisse zu einer Handlung, mit deren Gedanken man sich
blos zu spielen erlaubt hatte, äußerst merkwürdig.
Aber nun ist es unabänderlich geschehen, und ich muß reisen.
Da er keine Zeit mehr fand,
von Wilhelmine persönlichen Abschied zu nehmen, den er vielleicht fürchtete, so schickte
er ihr sein Bild, das er von dem damals geschätzten Maler und Kupferstecher Joh.
Friedr. Aug. Krüger hatte in Miniatur malen lassen.\1\ Mögest Du es ähn- <XXV:> licher finden als
ich, schreibt er dazu. Es liegt etwas Spöttisches darin, das mir nicht
gefällt, ich wollte, er hätte mich ehrlicher gemalt. Dir zu Gefallen habe
ich fleißig während des Malens gelächelt, und so wenig ich auch dazu gestimmt war,
gelang es mir doch, wenn ich an Dich dachte.
Um also dem Ekel
an aller geistigen Thätigkeit zu entfliehen und mit sich selbst ins Reine zu kommen,
wußte sich Kleist mit nichts anderem zu helfen, als abermals mit einer Reise. Die
Geschwister verließen Berlin Ende April 1801. Der Abschiedsbrief an
Wilhelmine verrät, in welch selbstquälerischer Stimmung Kleist sich damals befand. Es
scheint, daß eben jetzt wieder ein poetischer Anlauf mißglückt war. Schenkte mir
der Himmel ein grünes Haus, ich gäbe alle Reisen und alle Wissenschaften und allen
Ehrgeiz auf immer auf. Denn nichts als Schmerzen gewährt mir dieses ewig bewegte Herz,
das wie ein Planet unaufhörlich in seiner Bahn zur Rechten und zur Linken wankt, und von
ganzer Seele sehne ich mich, wonach die ganze Schöpfung und alle immer langsamer und
langsamer rollenden Weltkörper streben, nach Ruhe! Und dieses klagende Verlangen
nach idyllischem Frieden, diese Furcht vor dem Dämon des Ehrgeizes kehrt in allen seinen
Reisebriefen wieder. Die Fahrt ging zunächst nach Dresden, auf derselben
Straße, die ihn vor acht Monaten nach Würzburg geführt. In der Stadt schaute er sich
besser um, als er dies bei seinem ersten Besuche gethan zu haben scheint. Er widmete sich
diesmal mit ganzem Eifer den Kunstsammlungen; ihm war so wohl bei diesem ersten
Eintritt in diese neue Welt von Schönheit. Nirgends aber fand er sich so im
Innersten ergriffen, wie in der katholischen Kirche, wo die größte, erhabenste
Musik zu den anderen Künsten tritt, um das Herz gewaltsam zu bewegen. Und wie
Natur, Kunst und Religion, so kamen auch die <XXVI:> Menschen den beiden Reisenden
liebevoll entgegen. Durch einen Verwandten, den Lieutenant von Einsiedel, und
dessen Frau lernten Heinrich und Ulrike eine Familie von Schlieben kennen,
eine Witwe mit einem Sohn und zwei Töchtern, von gutem Adel, aber in Dürftigkeit, so
daß die Mädchen sich heimlich von der zierlichen Arbeit ihrer Hände ernährten. Kleist
fand sie arm und freundlich und gut drei Eigenschaften, die
zusammengenommen mit zu dem Rührendsten gehören, was ich kenne. Die jüngere
Schwester, Henriette, war eine anziehende, blonde germanische Gestalt; wenn
ein fremder Maler, meinte Kleist, eine Deutsche malen wollte, und fragte ihn nach der
Gestalt, nach den Zügen, nach der Farbe der Augen, der Wangen, der Haare, so würde er
ihn zu diesem Fräulein führen und sagen, das ist ein echtes, deutsches Mädchen. Er
scheint ihr aber erst bei einem späteren Besuche näher getreten zu sein.\1\ Diesmal fesselte ihn mehr ihre ältere
Schwester Karoline. Sie war Malerin und kopierte Gemälde in der Galerie. Sie
war bereits verlobt mit einem jungen Maler und Kupferstecher Namens Lohse, der
damals in Paris lebte; aber sie wandte dem düsteren, geheimnisvollen Fremdling, wie er
ihr, herzliches Wohlwollen und reine Teilnahme zu. Er erinnerte sie später daran, wie er
zuweilen an kühlen Abenden, unter den dunkeln Linden des Schloßgartens, frohe
Worte wechselnd, an ihrer Seite ging, oder schweigend neben ihr stand auf der hohen
Elbbrücke, wenn die Sonne hinter den blauen Bergen unterging; wie er sie
zuweilen durch den Olymp der Griechen voll Götter und Heroen führte, und oft mit ihr vor
der Mutter Gottes (der Sixtinischen Madonna) stand, vor jener hohen Gestalt, mit der
stillen Größe, mit dem hehren Ernste, mit der Engelreinheit; wie er einst am
Abhange der Terrasse an einem schönen Morgen die Halme hielt, aus denen sie den
Glückskranz flocht, der ihre Wünsche erfüllen sollte\2\; und wie sie ihm ihr Andenken für immer versprach. Ihrer
Schwester Henriette schrieb Kleist folgendes Gedenkblatt ins Stammbuch:
Thue recht und scheue niemand.
Mit dieser hohen Lehre, welche sie
zugleich in der Demuth und <XXVII:> im Stolze, über Ihre Pflichten und über Ihre
Rechte unterrichtet, erinnere ich Sie zugleich an die christliche Religion, an
eine gute Handlung, an einen schönen Abend und an Ihren Freund
Heinrich
Kleist, aus Frankfurt a/Oder.
- Dreßden
d. 17t Mai, 1801.
\1\ Als später dieses Verhältnis sich
löste, gab Wilhelmine das Bild der Schwester Ulrike zurück; durch sie erhielt Kleist es
wieder. Er nahm es auf seiner zweiten Schweizerreise mit und hinterließ es 1803 in Thun.
Dort fand es, wie Bülow (XIII) erzählt, später eine treue Freundin
glücklicherweise wieder und löste es ein; der hohe Wert, welchen sie darauf legt,
bezeugt seine Ähnlichkeit. Diese Nachricht können wir nach mündlichen
Mitteilungen einer Nichte Kleists ergänzen. In den vierziger Jahren
reiste Wilhelminens goldene Schwester Luise v. Zenge in Gesellschaft
eines Fräulein Blümner in die Schweiz. Der Zufall wollte, daß ihr Wagen gerade bei Thun
umwarf, so daß die beiden Damen, etwas kontusioniert, einige Zeit das Zimmer hüten
mußten. Indessen erinnerte sich Luise, daß sich Kleists Miniaturbild hier vorfinden
müsse, und durch die Vermittlung ihres Arztes wurde es bei einem Prediger ausfindig
gemacht. Das Bild des lieben jungen Deutschen, der eine Zeitlang diese Gegend
bewohnt hatte, war dem verstorbenen Großvater des Besitzers geschenkt worden und stand
seit drei Generationen hoch in Ehren. Die jetzige Besitzerin des
reizenden Bildes hatte die Güte, es uns zum Zwecke photographischer Reproduktion
anzuvertrauen, und eine Heliogravüre davon schmückt die vorliegende Ausgabe. Ein
Vergleich mit dem Sagertschen Stich (bei Bülow) zeigt, daß wir es dort mit einer ganz
willkürlichen Wiedergabe zu thun haben. Kleist besaß weder die hohe Stirne, noch die
großen Augen, die ihm Sagert angedichtet hat. Das Original sah weniger bedeutend, aber
freundlicher, träumerischer aus. Sagert versicherte uns übrigens, daß seine
ursprüngliche Bleistiftzeichnung, die seinem Stiche zu Grunde lag, dem Krügerschen Bilde
viel ähnlicher sah, aber Varnhagen, der in Bülows Auftrag die Reproduktion überwachen
sollte, machte, mit seinem Bleistift in der Hand, so viel Ausstellungen an Original und
Kopie, daß sich Sagert immer mehr von seinem Vorbild entfernen mußte. Bei dieser
Gelegenheit mögen einige Zeugnisse über Kleists äußere Erscheinung willkommen sein.
Tieck schreibt in den Hint. Schriften XXVIIIf.: Heinrich Kleist war von mittlerer
Größe und ziemlich starken Gliedern, er schien ernst und schweigsam, keine Spur von
vordringender Eitelkeit, aber viele Merkmale eines würdigen Stolzes in seinem Betragen.
Er schien mir mit den Bildern des Torquato Tasso Ähnlichkeit zu haben, auch hatte er mit
diesem die etwas schwere Zunge gemein. Rahel meinte: Seine Augen geben mir
keine Sicherheit (Gallerie von Bildnissen II 91). Fouqué (Drei Kleiste
S. 253) spricht von dem kräftigen, aber nur im treuherzigen Lächeln seiner
Augen anmutigen Heinrich. Brentano schildert 1810 in einem Brief an Görres Keist
als einen sanften, ernsten Mann ohngefähr von meiner Statur. Zschokke fühlte
sich Kleist verwandt wegen seines gemütlichen, zuweilen schwärmerischen,
träumerischen Wesens, worin sich immerdar der reinste Seelenadel offenbarte. Und an
Bülow schreibt er: Kleist war eine der schönen Erscheinungen im Leben für mich,
die man um ihres Selbstes willen liebt und nie zu lieben aufhört. In seinem Wesen schien
mir, selbst während der fröhlichen Stimmung seines Gemütes, ein heimliches inneres
Leiden zu wohnen. Eben das zog mich an ihn; fast mehr als sein talentreicher Geist und
sittlicher edler Sinn. Er verlieh seinem Umgang die eigentümliche Anmut. Wieland
versichert (Bülow 33): Wiewohl mir nichts mehr zuwider und peinlich ist, als ein
überspannter Kopf, so konnte ich doch seiner Liebenswürdigkeit nicht widerstehen.
Auf Rühles Information ist wohl Bülows Bemerkung (S. 47) zurückzuführen, daß
Kleist leicht verlegen ward, stotterte, errötete, ein Kindergesicht hatte und
französisch eigentlich fließender als deutsch sprach. Eine andere Quelle spricht
von seinem sehr wenig empfehlenden Äußern und seinem Hang zu Schwärmerei und allzu
großer Empfindlichkeit, doch sei er ein guter, sehr sittlicher Mensch von Geist und
Bildung gewesen und bei seinen Kameraden und in allen Gesellschaften sehr beliebt.
\1\ Im Nachlasse ihrer Schwester Karoline,
späteren Frau Lohse, fand sich eine Bleistift- und Kreidezeichnung, die wir oben
wiedergeben, mit der Unterschrift: Henriette von Schlieben,
Kleists Braut. Da Kleists Brief an Karoline aus Paris nicht einmal Grüße an
Henriette und auch sonst nicht die geringste Andeutung über ein Verlöbnis enthält, so
müßte ein solches erst später stattgefunden haben. Jedenfalls aber auch nicht bei
Kleists zweitem Besuch 1803, denn sein Brief an Henriette vom 29. Juli 1804 (vgl.
Briefe V) atmet keine Bräutigamsstimmung. Kleist müßte also während der
Phöbus- Periode 1808-9 sich mit Henriette verlobt haben, obgleich jedes
Zeugnis dafür fehlt, daß er um jene Zeit bei Schliebens verkehrt hat. Wir wissen nur,
daß er damals die Pflegetochter des alten Körner liebte.
\2\ Dieser Kranz ist uns wunderbarerweise
erhalten. Dürr, aber noch grün und fest verknotet, findet er sich in Karoline Lohses
geb. v. Schlieben Nachlaß (jetzt im Besitze des Herrn Karl Meinert in Dessau) in
einem Umschlag mit folgender rührenden Überschrift von Karolinens Hand: Dießen
Kranz habe ich noch mit dem guten Kleist gebunden am 16 May 1801. Leider fand
sich der Schattenriß, den Karoline von Kleist machte und der ihm sehr ähnlich gewesen
sein soll (vgl. Bülow XII), nicht vor.
Emendation
merkwürdig.] merkwürdig D
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