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[ DOKUMENTE UND ZEUGNISSE ]

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Theophil Zolling (Hrsg.), Heinrich von Kleists sämtliche Werke. Erster Teil. Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez (Berlin, Stuttgart: Spemann [1885]) (Deutsche National-Litteratur, 149. Band), Einleitung, XIX-XXIII

Würzburger Reise

Gegen Ende Oktober reiste er Tag und Nacht in fünf Tagen von Würzburg über Meiningen, Schmalkalden, Gotha, Erfurt, Naumburg, Merseburg, Halle, Dessau, Potsdam nach Berlin heim, um vor dem 1. November dort zu sein. Brockes blieb noch in Dresden zurück. Der Braut schreibt er von Berlin am 15. November u. a.: „Mir leuchtet es immer mehr und mehr ein, daß die Bücher schlechte Sittenlehrer sind. Was wahr ist, sagen sie uns wohl, auch wohl, was gut ist, aber es dringt in die Seele nicht ein. Einen Lehrer giebt es, der ist vortrefflich, wenn wir ihn verstehen; das ist die Natur. Ich will Dir das nicht durch ein langes Geschwätz beweisen, sondern lieber durch Beispiele zeigen, die wohl immer, besonders bei Weibern, die beste Wirkung thun möchten. Ich ging an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meines Lebens in Würzburg spazieren. Als die Sonne herabsank, war es mir, als ob mein Glück unterginge. Mich schauerte, <XX:> wenn ich dachte, daß ich vielleicht von Allem scheiden müßte, von Allem, was mir theuer ist. Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Thor sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, was doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß auch ich mich halten würde, wenn Alles mich sinken läßt. Das, mein liebes Minchen, würde mir kein Buch gesagt haben, und das nenn’ ich recht eigentlich lernen von der Natur. Einen ähnlichen Trost hatte ich schon auf der Hinreise nach Würzburg. Ich stand nämlich mit dem Rücken gegen die Sonne und blickte lange in einen lebhaften Regenbogen. So fällt doch, dachte ich, immer ein Strahl von Glück auf unser Leben, und, wer der Sonne selbst den Rücken kehrt und in die trübe Wetterwolke schaut, dem wirft ihr schönes Bild der Regenbogen zu. In jener herrlichen Nacht, als ich von Leipzig nach Dresden reiste, dachte ich mit wehmüthiger Freude: am Tage sehen wir wohl die schöne Erde, doch wenn es Nacht ist, sehen wir in die Sterne.“ Diese poetischen Bilder und Gedanken, Gleichnisse und Lehren, die sich von selbst in jambischen Silbenfall ergießen, beweisen aufs neue, daß diese Reise den Dichter und sein Werk fördern sollte, indem sie ihn aus den leidigen Berliner Verhältnissen riß und der Natur näher führte. „O auch mir sind es die liebsten Stunden, in welchen ich die Natur frage, was recht ist, und edel und gut und schön. Täglich widme ich, zur Erholung, ein Stündchen diesem Geschäfte und denke niemals ohne Freude an den Augenblick in Würzburg, wo ich zum erstenmal auf den Gedanken kam, auf diese Art bei der großen Lehrmeisterin Natur in die Schule zu gehen.“ Seine Beobachtungs- und Schilderungsgabe erscheint angeregt und gekräftigt. Insgeheim ist er jetzt über seinen Lebensplan, seinen Dichterberuf im klaren. Er sieht „heiter“ in eine dunkle Zukunft. Am 27. Oktober schreibt er seiner Schwester: „ich achte mein ganzes Vermögen nicht um das, was ich mir auf dieser Reise erworben habe.“ Und am 25. November: „Mein liebes, bestes Ulrikchen, wie freue ich mich, wieder so nahe bei Dir zu sein, und so froh, oh ich bin es nie in meinem Leben herzlich gewesen, ich konnte es nicht; jetzt erst öffnet sich mir etwas, das mich aus der Zukunft anlächelt, wie Erdenglück.\1\ Mir, mein edles Mädchen, hast Du mit Deiner Unterstützung das Leben gerettet – Du verstehst das wohl nicht? Laß das gut sein. Dir habe ich, nach Brokes, von meiner jetzigen innern Ruhe und Fröhlichkeit das meiste zu danken, und ich werde das ewig nicht vergessen. Die Thoren! Ich war gestern in Potsdam, und alle <XXI:> Leute glaubten, ich wäre darum so seelenheiter, weil ich angestellt wäre – Die Thoren!“ Diese für seine Lieben so erfreuliche Nachricht wird ihnen aber gleich wieder durch die Hiobspost vergällt, daß er entschlossen sei, kein Amt zu nehmen. „Vor meiner Reise,“ setzt er Ulrike auseinander, „war das anders – jetzt hat sich die Sphäre für meinen Geist und für mein Herz ganz unendlich erweitert – das mußt Du mir glauben, liebes Mädchen.“ Und an Wilhelmine schreibt er: „Bei mir ist es indessen doch schon, so gut wie gewiß, bestimmt, daß ich diese Laufbahn nicht verfolge. Wenn ich aber dieses Amt ausschlage, so giebt es für mich kein besseres, wenigstens kein practisches. Die Reise war das einzige, das mich reizen konnte, so lange ich davon noch nicht genau unterrichtet war. Aber es kommt dabei hauptsächlich auf List und Verschmitztheit an, und darauf verstehe ich mich schlecht. Die Inhaber ausländischer Fabriken führen keinen Kenner in das Innere ihrer Werkstadt. Das einzige Mittel also, doch hinein zu kommen, ist Schmeichelei, Heuchelei, kurz Betrug.\1\ – Ja, man hat mich in dieser Kunst zu betrügen schon unterrichtet; nein, mein liebes Ulrikchen, das ist nichts für mich.“ Diese entschiedene Weigerung stürzt ihn natürlich in eine Menge Mißhelligkeiten. Der König, den er in Potsdam sieht und der ihm auch wegen seiner Aufgabe des Soldatenstandes zürnt, ist sehr unfreundlich gegen ihn, was Kleist zu dem stolzen Ausruf veranlaßt: Wenn der König meiner nicht bedarf, so bedarf ich seiner noch weniger. Der Minister bietet ihm eine praktische und gute Stelle im Finanzamte an und droht ihm schriftlich, daß wenn er sich jetzt nicht gleich anstellen ließe, würde sich in der Folge für ihn wenig Aussicht zeigen; aber Kleist antwortet ausweichend, er wolle vorläufig diesen Winter den Sitzungen der technischen Deputation bloß beiwohnen, um sich zu orientieren und ohne darin zu arbeiten. Im nächsten Frühjahr würde er sich bestimmt erklären. So geht der Winter für ihn höchst unbehaglich vorüber. Die Sessionen sind ihm zuwider geworden. In Gesellschaften kommt er selten. In der gelehrten Welt, in die er durch Professor Huth, seinem ehemaligen Lehrer in Frankfurt, eingeführt ward, findet er sich so wenig wohl, als in der ungelehrten. „Diese Menschen sitzen sämmtlich wie die Raupe auf einem Blatt, Jeder glaubt, seines sei das beste, und um den Baum kümmern sie sich nicht.“ Von andern Kreisen waren ihm die geistreichen jüdischen noch die liebsten; aber sie thaten ihm zu preziös mit ihrer Bildung. „Ach, liebe Ulrike,“ setzt er hinzu, „ich passe mich nicht unter die Menschen; es ist eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit; und wenn ich den Grund ohne Umschweife angeben soll, so ist es dieser: sie gefallen mir nicht … Indessen, wenn ich mich in Gesellschaften nicht wohl befinde, so geschieht dies weniger, weil Andere, als vielmehr, weil ich <XXII:> mich selbst nicht zeige, wie ich es wünsche.“ Und nun verlor er noch um diese Zeit den Freund, in welchem er sein Ideal des Mannes erblickte. Brockes, der den Winter über in Berlin zugebracht, ging Ende Januar 1801 nach Mecklenburg, wo er in Dargun die Stelle des Landdrost versah, aber schon im Oktober niederlegte, „weil er sich den Bestechungsversuchen der Herren nicht fügen wollte“. Die Kluft, die der scheidende Freund zurückließ, vermochten weder Rühle noch Pfuel auszufüllen. Sie wohnten in Potsdam und besuchten Kleist nur selten in seiner Berliner Einsamkeit. Mit seinem Stubengenossen, dem jungen Lieutenant von Zenge, hatte er offenbar nichts zu teilen. Eines Tages entschloß er sich, nicht aus dem Zimmer zu gehen, bis er über einen Lebensplan entschieden wäre; aber acht Tage vergingen, und er mußte doch am Ende das Zimmer unentschieden wieder verlassen.
Endlich erlosch ihm auch der Schimmer, von dem er bisher die Wissenschaften umglänzt gesehen hatte. Als im März Wilhelmine in einem Briefe bat, ihr einmal ausführlich mitzuteilen, wie es in seinem Inneren aussehe, legt er, wie es scheint, einen um diese Zeit für Rühle geschriebenen, leider für uns verloren gegangenen Aufsatz: „Geschichte meiner Seele\1\ seiner Antwort an die Braut zu Grunde, wobei er freilich seine künstlerischen Kämpfe umgeht. „Vor Kurzem wurde ich mit der neueren sogenannten Kant’schen Philosophie bekannt – und Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mittheilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird als mich … Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, seien grün – und nie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeige, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthue, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehöre. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist’s das Letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr – und alles Bestreben, ein Eigenthum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich. – – Wenn die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächele nicht über einen Andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, <XXIII:> und ich habe keins mehr … Seitdem habe ich kein Buch wieder angerührt. Ich bin unthätig in meinem Zimmer umhergegangen, ich habe mich an das offene Fenster gesetzt, ich bin hinausgelaufen ins Freie, eine innere Unruhe trieb mich zuletzt in Tabagien und Kaffeehäuser, ich habe sogar, um mich zu betäuben, eine Thorheit begangen“ …

\1\ Denselben Ausdruck gebraucht Kleist 15 Monate später in Bezug auf den „Robert Guiskard“: „In Kurzem werde ich Dir viel Frohes zu schreiben haben, denn ich nähere mich allem Erdenglück.“ Koberstein 80.
\1\ Diese Stelle hat Koberstein zu der Mutmaßung geführt, es sei bei der Würzburger Reise auf Erforschung eines wertvollen Fabrikgeheimnisses abgesehen gewesen, aber Kleist meint hier die amtlichen Reisen überhaupt.
\1\ Vgl. den Brief von Johanna von H. [Haza] an Tieck (L [ewitz], 26. Nov. 1816): „Leider vermuthet meine Mutter auch die „Geschichte meiner Seele“ bei mir; bei unserer Trennung behielt sie aber dieselbe und macht mir durch ihre Nachfrage sehr bange um die Wiederauffindung dieses unschätzbaren Werkes, welches wahrscheinlich in dem Getümmel der letzten Zeit verloren gegangen ist, ohne welches aber Kleists ganze Schriften nur ein Fragment bleiben dürften, wenigstens für die, welche ihn gern ganz kennen und würdigen, vorzüglich seinen letzten Schritt entschuldigen möchten. Sollte sich die „Geschichte meiner Seele“ noch finden lassen, so wäre sie wohl am sichersten bei Herrn Obrist Rühle zu suchen, für den sie ursprünglich geschrieben war.“ (Briefe an Tieck II, 174.) Bülow bemerkt (IX), daß Rühle zwar manche Schriften Kleists in Doppelmanuskripten besessen habe, die während seiner Abwesenheit in den Freiheitskriegen verschwunden und wahrscheinlich infolge eines Mißverständnisses verbrannt worden seien.

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Letzte Aktualisierung 22-Jan-2003
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